Boldorf, Marcel (Hrsg.): Deutsche Wirtschaft im Ersten Weltkrieg Berlin 2020 : de Gruyter, ISBN 978-3-11-055614-8 IX, 636 S. € 179,95

Boldorf, Marcel; Joly, Hervé (Hrsg.): Une victoire impossible?. L'économie allemande pendant la Première Guerre mondiale. Villeneuve-d'Ascq 2021 : Presses Universitaires du Septentrion, ISBN 978-2-7574-3333-1 237 S. € 24,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mark Spoerer, Institut für Geschichte, Universität Regensburg

Als anlässlich der 100sten Jahrestage des Ersten Weltkriegs in den Jahren ab 2014 viel entsprechende neue Literatur erschien, blieb die wirtschaftliche Seite weitgehend unterbelichtet. Dies dürfte nicht mangelndem Interesse geschuldet sein, sondern schlicht der Tatsache, dass die archivalische Überlieferung sehr dünn und das Thema demzufolge vergleichsweise wenig erforscht ist. Die schlechte Überlieferung ist zum Teil auf Bestandsverluste infolge des Luftkriegs im Zweiten Weltkrieg zurückzuführen, zum Teil aber auch auf einen sehr restriktiven Umgang mit Information infolge des Ersten Weltkriegs, als die Weimarer Regierungen mit den Alliierten um die Höhe der Reparationen rangen. Es wurden sogar bereits in den frühen 1920er-Jahren gedruckte wirtschaftliche Analysen des preußischen Kriegsministeriums wieder eingezogen. Um deren letztendliche Veröffentlichung hat sich der (Mit-)Herausgeber der beiden zu besprechenden Bände, Marcel Boldorf, verdient gemacht. 2016, nach fast einem Jahrhundert Verzögerung, erschienen die drei Bände zur Spinnstoffindustrie, zur Eisenwirtschaft und zum Waffen- und Munitionswesen, begleitet von fachkundigen Kommentaren aus heutiger Sicht.1

Boldorf hat nun ein Handbuch zur deutschen Wirtschaft im Ersten Weltkrieg herausgegeben. Schon ein Blick in das Inhaltsverzeichnis zeigt, dass es sich tatsächlich um ein Handbuch in dem Sinne handelt, dass die wesentlichen Themengebiete behandelt werden, und dies durchgängig durch dafür ausgewiesene Autor/inn/en. Nicht nur werden in den insgesamt 23 Beiträgen alle drei Wirtschaftssektoren untersucht (die Agrarwirtschaft mit einem Artikel, Bergbau und Industrie mit acht, Dienstleistungen mit zwei Aufsätzen) sowie diverse Querschnittsthemen abgearbeitet (Kriegswirtschaftslenkung, Metallbewirtschaftung, Arbeitsmarkt, Zwangsarbeit, Einkommen und Lebenshaltungskosten, Kriegsfinanzierung und Außenhandel). Hinzu kommt noch die Wirtschaftspolitik der deutschen Besatzer in Nord- und Ostfrankreich sowie dem Generalgouvernement und „Ober-Ost“, also Teilen des Baltikums, Polens und Weißrusslands. Nur Belgien fehlt (wird aber im Beitrag zur Zwangsarbeit berücksichtigt), dafür findet sich ein Beitrag zur Rolle der neutralen Schweiz.

In seiner Einleitung betont Boldorf, dass schon der Kriegsausbruch einen starken Strukturbruch darstellte. Die in den vorangegangenen Jahrzehnten der Globalisierung aufgebauten internationalen Lieferketten brachen im Sommer 1914 schlagartig zusammen, der Staat griff immer stärker in die Wirtschaft ein und nicht mehr Produktivität, also wirtschaftliche Effizienz, stand im Vordergrund, sondern Produktion, also schiere Menge – koste es, was es wolle.

Die folgenden Beiträge sind, dem Anspruch eines Handbuchs entsprechend, überwiegend systematisch aufgebaut. Sie sind (eher zurückhaltend) mit Tabellen und Grafiken versehen; zuweilen lockert eine zeitgenössische Fotografie den Beitrag auf.

In einem den Band abschließenden Beitrag über die wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkriegs bestätigt Albrecht Ritschl Boldorfs Befunde (obwohl er den Begriff Strukturbruch in diesem Zusammenhang ablehnt, S. 613), verweist aber auf ähnliche Entwicklungen in den anderen europäischen Staaten. In einer sehr langen Perspektive trafen sich in Hinsicht auf das Wirtschaftswachstum die meisten europäischen Staaten in den 1970er-Jahren dort, wo sie 1914 durch den Kriegsausbruch unterbrochen worden waren. Die konkreten nationalen Konjunkturen zwischen 1918 und mindestens den 1940er-Jahren verliefen jedoch sehr unterschiedlich, was auch auf Folgen des Ersten Weltkriegs und insbesondere die enormen Reparationen, die der Weimarer Republik als Rechtsnachfolger des Kaiserreichs infolge des Versailler Vertrags aufgebürdet wurden, und die dadurch ausgelösten internationalen Waren- und Kapitalströme zurückzuführen ist.

Die Sorgfalt, mit der dieses Handbuch zusammengestellt ist, zeigt sich auch daran, dass es ein Personen- und Unternehmens-, ein Orts- und ein Sachregister aufweist.

Elf der 23 Autor/inn/en des Handbuchs finden sich auch in dem ein Jahr später von Marcel Boldorf gemeinsam mit seinem Lyoner Kollege Hervé Joly herausgegebenen Sammelband „Une victoire impossible?“ wieder, der eine Auswahl der die deutsche Seite betreffenden Referate von vier Workshops in den Jahren 2014 bis 2016 wiedergibt. Zum Teil behandeln sie, leicht gekürzt und ins Französische übertragen, dasselbe Thema wie im Handbuch, zum Teil setzen sie aber andere, stärker unternehmenshistorische Schwerpunkte. Einige Beiträge sind weniger enzyklopädisch als vielmehr essayistisch angelegt. Die beiden Beiträge über die strategischen Planungen der deutschen Montanindustrie in den zu annektierenden Gebieten (Stefanie van de Kerkhof) bzw. der deutschen wirtschaftlichen Ziele insgesamt im Falle eines Siegfriedens (Carsten Burhop auf Grundlage neu erschlossener archivalischer Quellen) sind für die französische Fachwissenschaft natürlich besonders interessant und nur in diesem Band, nicht aber im Handbuch, zu finden.

Jedem der insgesamt zwölf Beiträge mit Ausnahme von Boldorfs Conclusion ist ein etwa fünf bis zehn Seiten umfassender Kommentar eines/einer französischen Kollegen/Kollegin gegenübergestellt. Darin wird die parallele Entwicklung in Frankreich (bzw. im Falle der Aluminiumindustrie in der Schweiz) skizziert, Unterschiede oder Gemeinsamkeiten werden herausgearbeitet. Hervé Joly etwa verweist darauf, dass die französische Industrie zwar ganz ähnliche Probleme wie die deutsche hatte, etwa erst Arbeitslosigkeit, dann Arbeitskräftemangel und wenig effektive staatliche Wirtschaftsplanung, dass aber ein wichtiger Teil von ihr im besetzten bzw. umkämpften nordfranzösischen Gebiet lag. Dies machte Frankreich, dessen Wirtschaftskraft 1913 ohnehin nur 61 Prozent der deutschen betragen hatte, um so abhängiger von Lieferungen aus Großbritannien und später den Vereinigten Staaten. Während die Beiträge und kurzen Kommentare bewusst das Schwergewicht auf die deutsche Seite legen2, fasst Boldorf in seinem abschließenden Beitrag die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der deutschen bzw. französischen Wirtschaft symmetrisch zusammen.

Insgesamt bringen diese beiden Bände den Stand zur Erforschung der deutschen Kriegswirtschaft auf ein ganz neues Niveau. Auch wenn dies ein wenig abgedroschen klingen mag, so ist das Handbuch nichts weniger als ein sehr gewichtiger Meilenstein zur Wirtschaftsgeschichte des Ersten Weltkriegs, ähnlich etwa der 1973 erschienenen Pionierstudie von Gerd Hardach.3 Ob der Verlag allerdings gut beraten war, diesem Werk sowohl in der Print- als auch in der e-Fassung einen prohibitiven Preis von fast 200 € zu verordnen, sei dahingestellt. Ich wünsche jedenfalls Herausgeber, Autor/inn/en und Verlag viele Raubkopien.

Anmerkungen:
1 Marcel Boldorf / Rainer Haus, Die Deutsche Kriegswirtschaft im Bereich der Heeresverwaltung 1914–1918. Drei Studien der Wissenschaftlichen Kommission des Preußischen Kriegsministeriums und ein Kommentarband, Berlin 2016.
2 Die im Projekt entstandenen Beiträge zur französischen Kriegswirtschaft sind in einem Themenheft der Zeitschrift Guerres mondiales et conflits contemporains erschienen (no. 67, 2017).
3 Gerd Hardach, Der Erste Weltkrieg (Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert 2), München 1973.

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