M. Schäfer u.a. (Hrsg.): Sachsen und das Rheinland

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Title
Sachsen und das Rheinland. Zwei Industrieregionen im Vergleich


Editor(s)
Schäfer, Michael; Steinberg, Swen; Töpel, Veronique
Series
Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Sachsens 14
Published
Extent
262 S.
Price
€ 39,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Dieter Kempkens, Bergheim

Der vorliegende Band vergleicht die führenden deutschen Industriegebiete im Rheinland und in Sachsen im Zeitraum von 1770 bis 1900. In drei Themenblöcken analysieren die Autor/innen die frühe Industrialisierung, die Produktion und Vermarktung von Textilien, die Infrastrukturmaßnahmen, die kaufmännische Ausbildung und die Steinkohleförderung in beiden Regionen. Im einführenden und die Ergebnisse der elf Studien resümierenden Aufsatz betonen die Herausgeber Michael Schäfer und Swen Steinberg, das Ziel des Buches sei, sowohl „die Transformationsprozesse im Rahmen der ‚vergleichenden Regionalgeschichte‘“ als auch „regionale Eigenentwicklungen“ zu analysieren und zu interpretieren (S. 10).

Orientiert an der Neuen Institutionenökonomik, zeigen Dietrich Ebeling und Stefan Gorißen sodann die „formale Struktur der Produktionsregime im vorindustriellen Rheinland“ (S. 27f.) prägnant auf. Dort florierten durch Kooperation von Kaufleuten und Zünften bis zur französischen Herrschaft „Qualitätsarbeit und handwerkliches Know-how“. Die konjunkturellen Wechsellagen überlebten danach nur kapitalkräftige Firmen, die die Produktion outsourcten und sich allein dem Absatz widmeten (S. 53).

Die Gründe für die Agrarentwicklung in beiden Regionen präsentieren Ulrich Pfister und Michael Kopsidis. Sie stellen fest, dass die Landwirte die Böden intensiv nutzten, um die Nachfrage der wachsenden Bevölkerung nach Lebensmitteln speziell in den protoindustriellen Gewerberegionen abzudecken. Eine Ausnahme bildete der rasch ansteigende Bedarf der Bevölkerung in den schwerindustriellen Städten des Ruhrgebietes. Im Unterschied zur bisherigen Forschung finden sie „keine Hinweise, dass Agrarreformen über die Verbesserung von Anreizstrukturen“ das Agrarwachstum beschleunigt hätten (S. 79). Den Nebenerwerb in protoindustriellen Gewerben nutzten auch Häusler und Gärtner (Menschen mit wenig Landbesitz), wie die quellennahe Fallstudie von Sebastian Müller über die sächsischen Dörfer Rußdorf und Bräunsdorf zeigt.

Der Textilbranche widmen sich danach mit präzisen Analysen Anne Sophie Overkamp, Michael Schäfer und Frank Luft. Zunächst wird deutlich, wie die sich rasch wandelnden Moden auf ihren Absatzmärkten den Bandwebern in Wuppertal, den Baumwollmanufakturen in Südwest- und Westsachsen sowie der im Erzgebirge beheimateten Stickerei- und Spitzenindustrie Sortimentsanpassungen abverlangten. Die Außenhandelsorientierung zeigt Overkamp am Beispiel der Wuppertaler Firma Frowein. Diese verstärkte ab 1815 den Nord- und Südamerikahandel. Nach anfänglichen Erfolgen musste sie den qualitativ besseren französischen Seidenwaren den Markt überlassen. Deshalb schrieb sie die unverkäufliche Ware drastisch ab, reduzierte die Anzahl der Kommissionäre und konzentrierte sich danach mehr auf den Export von Stapelware. Handarbeit blieb vorherrschend, denn bis 1880 waren erst 41 Prozent der Bandwebstühle mechanisiert. Im Vergleich zu dieser „schleichenden Industrialisierung“ (S. 122) fand in den sächsischen Baumwollmanufakturen eine „verzögerte Industrialisierung“ (S. 136) statt. Wegen der starken britischen Konkurrenz bekamen diese keinen „Zugang zu aufnahmefähigen Märkten“ und investierten deshalb nicht in teure Maschinen und Fabriken (S. 133). Erst der Absatz in den Vereinigten Staaten ab 1850 führte zu Renditen, die den Kauf von Maschinen ermöglichten, die nun der einheimische Maschinenbau anbot. Die vielen kleinen Stickereien reagierten hingegen auf die Abhängigkeit vom Export ihrer Modeartikel mit neuen Produkten und der Nutzung von Großstickmaschinen. Auch um 1900 dominierte noch die Wirtschaftsform der Hausindustrie.

Den Blick auf die Arbeitsorganisation in den europäischen Baumwollspinnereien bietet Manuel Schramm. Die Beschäftigung von Männern, Frauen und Kindern war abhängig von den zu bedienenden Maschinen: Frauen und Kinder bedienten Flügelspinnmaschinen, Männer und ab 1850 auch Frauen Mule-Maschinen. Generell dominierte in den europäischen Produktionsregionen die „traditionelle Arbeitsorganisation“ trotz sich ändernder Arbeitsbedingungen (S. 150).

Im Schlussteil stehen die Rahmenbedingungen der Industrialisierung im Vordergrund. Felix Gräfenberg beschreibt die politischen Entscheidungsprozesse beim Bau von Chausseestraßen in Preußen zwischen 1815 und 1840. Die Regierung entschied sich bei knappen Budgets zuerst für den Bau in Gewerbegebieten und zwischen Handelsplätzen. Für die Verbindungs- und Nebenstraßen nutzte sie „Public Private Partnerships“. Dieses Konzept blieb nur wenige Jahre erfolgreich, weil die Investoren sich schnell am lukrativeren Eisenbahnbau beteiligten; der Staat zog sich gleichzeitig aus dem Straßenbau zurück. Auch in der kaufmännischen Ausbildung ergriffen Unternehmer die Initiative. Die Leipziger Kramer-Innung gründete 1831 die erste Handelsschule, der bis 1899 58 weitere folgten. Der rheinische Provinziallandtag beauftragte damit erst 1894 die Stadt Köln. Wolfram Fiedler und Klaus Friedrich Pott begründen diese Differenz mit der Zielsetzung der preußischen Universitäten, sich von den „Nützlichkeitskramschulen oder Klempnerakademien“ zu distanzieren (S. 213). Dieses Forschungsparadigma hat Ursula Klein revidiert. Für die Qualifikationen der Bergbeamten sorgten schon vor 1789 die Freiberger und im Anschluss daran die Berliner Bergakademie durch ein duales Studium, während die neue Berliner Universität ab 1810 die Studiengänge in vielen Naturwissenschaften anbot.1 Die Leipziger Messe war hingegen ein wichtiger Handelsplatz für rheinische Unternehmen auch in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ulrich Soénius zeigt überzeigend auf, dass der Warentransport auf der Schiene den bisherigen direkten Messeverkauf durch eine reine Mustermesse ersetzte.

Die Bedeutung der Steinkohle als Energielieferant für den Einsatz von Maschinen im Industrialisierungsprozess hat die wirtschaftsgeschichtliche Forschung ausführlich dargelegt. Die Relevanz der Qualitätsunterschiede untersucht Nora Thorade und sie fragt, „inwieweit die Materialität der Steinkohle die Möglichkeit der Region prägte“ (S. 230). Sie vergleicht die Steinkohle des Aachener Reviers mit den sächsischen Vorkommen in Zwickau und dem Lugau-Oelsnitzer Becken. Die Fettkohle konnten die rheinischen Unternehmen für die Herstellung von Kokskohle benutzen. Die Zwickauer Pechkohle ließ sich wegen ihres hohen Heizwertes gut verkaufen, während die Rußkohle nur für den Hausbrand vermarktet wurde. Während die rheinische Kohle wegen ihrer besseren Verwendbarkeit im Hochofen überregional Kunden fand, mussten sich die Zwickauer Anbieter auf den regionalen Markt konzentrieren. Beide Kohlensorten wurden im Lugau-Oelsnitzer Becken gemeinsam gefördert und nur regional verkauft. Für die regionale Industrialisierung war der sächsische Bergbau daher nur ein Faktor unter mehreren, der Aachener hingegen entscheidend.

Nicht berücksichtigt findet sich in den Beiträgen die Frage, inwieweit die Unternehmen für die weitgehende Mechanisierung nicht nur Eigen-, sondern in der Hochindustrialisierung auch vermehrt Fremdkapital benötigten. Die aktuelle bankengeschichtliche Forschung kann den Wissensstand dazu voranbringen.2 Insgesamt verliefen die Transformationsprozesse während der Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert in den ausgewählten Branchen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität. Für beide Regionen gilt, dass die Agrarproduktivität parallel zur Bevölkerungsentwicklung stieg. Die Anpassung der Textilproduktion an die sich verändernden Konkurrenzbedingungen auf den internationalen Märkten zwang die meisten Unternehmen zur Sortimentsdiversifikation. Regionale Eigenentwicklungen zeigen hingegen in Sachsen die Hausindustrie in der Spitzen- und Stickerei-Herstellung, die flächendeckende Gründung von Handelsschulen sowie die Leipziger Messe. Im Rheinland lieferte das Aachener Revier die qualitativ hochwertige Steinkohle für die Kokereien der Eisen- und Stahlindustrie. Daran können weitere Forschungen anknüpfen. Die Texte sind gut lektoriert, während einzelne Grafiken (S. 65, 69) und eine Karte (S. 233) nicht gut zu lesen sind.

Anmerkungen:
1 Ursula Klein, Nützliches Wissen. Die Erfindung der Technikwissenschaften, Göttingen 2016, S. 130f.
2 Dieter Lindenlaub / Carsten Burhop / Joachim Scholtyseck (Hrsg.), Schlüsselereignisse der deutschen Bankengeschichte, Stuttgart 2013, speziell S. 51–177. Die umfangreiche Bibliographie auf den Seiten 503 bis 552 enthält auch die für die Wirtschaftsgeschichte beider Regionen wichtigen älteren Studien zum Investitionsverhalten.

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