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Titel
Flammen der Zwietracht. Deutungen des karolingischen Brüderkrieges im 9. Jahrhundert


Autor(en)
Heinzle, Georg Friedrich
Reihe
Libelli Rhenani (77)
Anzahl Seiten
584 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Till Hennings, Exzellenzcluster „Understanding Written Artefacts", Universität Hamburg

In der vorliegenden Arbeit, einer Überarbeitung seiner Dissertation an der Universität zu Köln von 2019, setzt sich Georg Friedrich Heinzle das Ziel, die „Deutungs- und Wirkungsgeschichte im 9. Jahrhundert“ (S. 15) des karolingischen „Brüderkrieges“ (zwischen Karl dem Kahlen, Lothar I. und Ludwig dem Deutschen) nachzuzeichnen.

Die These der Arbeit lautet (verkürzt): „Der Brüderkrieg war eine fundamentale Erschütterung eines christlichen Reiches (...). Die funktionierende christliche Fundierung der Gesellschaft sorgte jedoch dafür, dass das anfangs bestehende Trauma im Zuge eines generationellen Effekts langsam bewältigt wurde (...). Je mehr die Erschütterung in den Hintergrund trat, desto stärker entwickelte der Brüderkrieg ein diskursives Eigenleben, ging als fester Bestandteil in das kulturelle Gedächtnis ein und wurde zum Objekt zahlreicher Funktionalisierungen (...)“ (S. 28).

Heinzle stellt sich damit explizit in die vorstellungsgeschichtliche Forschungstradition, deren Beginn er mit Fichtenaus „Das karolingische Imperium“ ansetzt und deren Entwicklung er in einem knappen Forschungsüberblick besonders über die angelsächsische Forschung (J. Nelson, P.E. Dutton) bis in die jüngste Forschung verfolgt, wo bei Romig1 zum ersten Mal der Begriff „Trauma“ auf die Nachgeschichte des Brüderkrieges angewandt wurde – ein Begriff, den Heinzle als hermeneutischen Schlüssel für die Nachwirkungen des Konfliktes gebraucht. Obwohl Heinzle vorsichtig von einer „Metaphorik des Traumas“ (S. 16) spricht, spielt der Begriff als analytische Kategorie sowohl in der Architektur der Arbeit als auch in den einzelnen Textdeutungen eine überragende Rolle – sicherlich mehr, als nur „hilfreich [zu sein], um bestimmte Prozesse der Kriegsdeutung für moderne Leser intuitiv verständlich werden zu lassen“ (S. 16). Hierzu greift er auf Erkenntnisse der Sozialpsychologie zurück (S.16–28)2, bleibt aber in seiner Anwendung und Weiterentwicklung des Trauma-Begriffs auf das Frühmittelalter selbstständig und innovativ.

Für die große Zahl der Quellen hat Heinzle eine übersichtliche Systematik gefunden, die sich zwanglos aus dem Grundbegriff des Traumas ergibt. Die Arbeit folgt einer choronologisch-analytischen Ordnung. Die Großkapitel sind: Ein ausführlicher Prolog (S. 31–96) zu Nithards Historiae, der umfangreichsten und zeitnächsten Quelle, in dem die Vielfalt der möglichen Deutungen und Verarbeitungen des Traumas aufgezeigt wird. Es folgen die Kapitel „Die Gegenwart des Krieges, 840 bis 843“ (S.97–223), „Das Fortleben des Krieges, 843 bis 877“ (S. 247–468), und schlussendlich „Das Nachleben des Krieges, 877 bis 906“ (S. 475–524). Diese chronologischen Kapitel sind wiederum unterteilt in verschiedene analytische Kategorien (z.B. „Parteinahme“ oder „Verdrängung“). Die eigentliche Behandlung der Quellen findet in einer aus Paraphrase und Kommentar gemischten Form statt, die sich eng an den Textverlauf anschmiegt. Die schiere Menge der Quellen, die Heinzle auf die Folgen des Brüderkrieges hin durchleuchtet, kann hier nicht im Einzelnen berücksichtigt werden. In der breiten Streuung der Texte liegt eine der großen Stärken des Werkes: Historiographie, Dichtung, Urkunden, Briefe, Viten, Bußbücher, Fürstenspiegel, Konzilsakten und Kapitularien - Heinzle bezieht fast die gesamte Schriftlichkeit des 9. Jahrhundert in seine Analyse hinein. Durch die Neuheit der Frage, mit der er an die Texte herantritt, sind die Interpretationen eigenständig und originell. Die gestellte Aufgabe, den Diskurs über den Krieg über die Jahrzehnte freizulegen, wird in weiten Teilen gelöst. Heinzle legt damit eine faszinierende Studie vor, die sowohl mit ihrer Methodik als auch mit ihren Ergebnissen Neuland betritt.

Eine strukturelle Schwäche des Werkes ist der Schematismus, den Heinzle sich mit den Kategorien der Traumabewältigung auferlegt hat. Die Kategorien sind einerseits sehr weit gefasst, andererseits führen sie die Interpretation der Texte, die unter ihnen subsummiert werden, oft unnötig eng. Obwohl Heinzle zu Beginn der Kapitel differenzierende Definitionen der Kategorien anbietet, schlagen sich diese Unterschiede oft nicht klar in den Ergebnissen nieder. So zum Beispiel der Unterschied zwischen „Einflussnahme“ und „Parteinahme“, zu letzterer erläutert Heinzle: „Hierbei steht nicht die Beeinflussung Dritter im Mittelpunkt, sondern die Bekundung von Treue oder der Versuch, sich schreibend zu den Ereignissen zu positionieren“ (S. 147). Da aber auch eine Treuebekundung oder literarische Positionierung eine Beeinflussung Dritter – des Publikums oder Adressaten – darstellt, muss die Unterscheidung notwendigerweise fließend bleiben. Dieses Problem verschärft sich noch bei den bloß funktionalistischen Kategorien, die keinen eigenen Inhalt haben wie „Funktionalisierung“ oder „Indienstnahme“. So werden unter „Funktionalisierung“ heterogene Konzepte wie „politische und narrative Nutzung“ (S. 448) begriffen – wobei natürlich auch frühere Kategorien wie Einfluss- und Parteinahme politische Nutzungen darstellen. Noch schwerer verständlich werden diese Kategorien, wenn man bedenkt, dass sie gleichzeitig chronologische Stufen des Traumadiskurses darstellen sollen (Funktionalisierung nach 843, Indienstnahme nach 877). Ein weiteres Problem stellen die Kategorien dar, mit denen fehlende oder schwache Bezüge auf den Krieg erfasst und gedeutet werden sollen: Distanzierte Positionierung (S. 188), Verdrängung (S. 372), Marginalisierung (S. 450) und Neutralisierung (S. 475). Hier sind gerade die Quellen versammelt, die durch ihre Kürze (Annalistik) oder ihre indirekte Beziehung zum Krieg (z.B. Dhuoda) ein Urteil über ihre Stellung im Traumadiskurs erschweren. Die Kategorien deuten die Gründe an, warum ein Bezug fehlt oder schwach ist, und führen bisweilen zu Argumenten ex silentio, die nicht überzeugen können (S. 204, 219, 376, 382, 455).

Durch die Entscheidung, die Untersuchung bis ans Ende des 9. Jahrhunderts zu führen, wird mit dem Fortschritt der Arbeit „die methodische Schwierigkeit, Kriegsfolgen und verstetigte Probleme zu unterscheiden“ (S. 369) immer größer. Nur wenige Autoren stellen explizit einen Zusammenhang zwischen dem Brüderkrieg und der Misere der späteren Karolingerzeit her (von Heinzle z.B. aufgezeigt in den Abschnitten zu Ermentar (S. 354) und Paschasius Radbertus (S. 358)). Wo dieses „Schwächungsmotiv“ – so Heinzles prägnante Formulierung – nicht ausdrücklich vorliegt, überzeugt die Verbindung zwischen den Quellen und dem Brüderkrieg nicht immer. Vielmehr gewinnt man anhand der von Heinzle vorgestellten Quellen den Eindruck, dass die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts genug eigene Traumata hatte, die es zu bewältigen und zu beklagen galt, ohne dass den Zeitgenossen ein historischer Nexus zum Brüderkrieg immer gegenwärtig war. Heinzle arbeitet dies deutlich heraus für die Mahnliteratur der Zeit, deren Aufrufe zu Gerechtigkeit und Friede sicherlich mehr durch gegenwärtige Krisen als durch vergangene Konflikte motiviert waren. Der Abschnitt zu Sedulius Scottus (S. 386), in dem Heinzle dieses Grundproblem klar herausstellt und zu einem ganz negativen Ergebnis kommt (S. 391), darf als Beispiel für diese exegetische Spannung stehen. Diese zunehmende Entkoppelung von Kriegsdiskurs und historischem Bewusstsein wird einerseits von Heinzle minutiös nachgezeichnet, andererseits stets durch den oben kritisierten Schematismus überschattet. Das Fehlen eines klaren Bezuges muss eine Marginalisierung oder Verdrängung sein, also aus dem Brüderkrieg selbst erklärt werden, während das einfache Vergessen keinen Platz in Heinzles Argumentation hat.

Diese Kritik kann jedoch den Gewinn, den die Arbeit sowohl für die Vorstellungsgeschichte insgesamt wie für die Autoren und Texte im Einzelnen bringt, nicht schmälern. Zahlreiche Texte, die bisher nur für die Ereignisgeschichte herangezogen worden sind, werden hier zum ersten Mal in einen innovativen geistesgeschichtlichen Zusammenhang gestellt. Das Trauma des Brüderkriegs wird in dieser Arbeit wie nie zuvor herausgearbeitet und bis in seine letzten Verästelungen verfolgt.

Anmerkungen:
1 Andrew J. Romig, Be a Perfect Man. Christian Masculinity and the Carolingian Aristocracy, (The Middle Ages Series), Philadelphia, 2017.
2 Insbesondere Angela Kühner, Trauma und kollektives Gedächtnis, Gießen 2008.

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