L. Fernstål u.a.: Ett lapptäcke av källor

Cover
Titel
Ett lapptäcke av källor. Kunskapsproduktion om romer och resande vid arkiv och museer


Autor(en)
Fernstål, Lotta; Hyltén-Cavallius, Charlotte
Erschienen
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
kr 219
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Gasche, Centre for Nordic Studies, Universität Helsinki

In ihrem Buch „Ett lapptäcke av källor. Kunskapsproduktion om romer och resande vid arkiv och museer” (auf Deutsch „Ein Flickenteppich aus Quellen. Wissensproduktion über Roma und Fahrende in Archiven und Museen“) von 2020 untersuchen Lotta Fernstål und Charlotte Hyltén-Cavallius schwedische Sammlungen zu Roma und Fahrenden aus den Jahren 1730 bis 1964. Ein Schwerpunkt ihres Interesses liegt dabei auf den „Experten“ aus der Mehrheitsgesellschaft, die diese Materialien aufgenommen und zusammengestellt haben. Die Autorinnen setzen sich kritisch mit der Herkunft der Quellen und dem Gebrauch der Sammlungen auseinander, die in Schweden zum nationalen Kulturerbe zählen. Mehr als 50 Abbildungen, darunter historische Fotografien, Frageformulare und Schriftstücke illustrieren die 173 Seiten umfassende Publikation.

Im Fokus des ersten von insgesamt sieben Kapiteln steht die intensive Diskussion des begriffsgeschichtlichen Hintergrunds der von Fernstål und Hyltén-Cavallius untersuchten Gruppen. Dies ist ein vielschichtiges Unterfangen, da die unterschiedlichen Bezeichnungen und Zuordnungen im Laufe der Zeit inhaltliche Veränderungen durchliefen. In den älteren Dokumenten finden sich für Roma und Fahrende die Begriffe „zigenare“ und „tattare“, die bis in das frühe 19. Jahrhundert nahezu synonym gebraucht wurden. Viele, die sich heute mit der Gruppenkategorie „resande“ identifizieren – was die in Skandinavien übliche Bezeichnung für Fahrende ist – wären in früheren Zeiten von der Außenwelt wahrscheinlich als „tattare“ wahrgenommen geworden, meinen Fernstål und Hyltén-Cavallius. Sie weisen zwar darauf hin, dass diese Sichtweise in der Forschung durchaus kontrovers erörtert wird, gehen aber nicht näher auf diese Diskussion ein. Die Einführung des schwedischen Ausländergesetzes 1914, das einem „utländsk zigenare“ (ausländischen Zigeuner“) die Einreise verbot, betrachten die Autorinnen als entscheidenden Katalysator für eine divergierende Begriffsbesetzung von „zigenare“ und „tattare“. Nach Fernstål und Hyltén-Cavallius fand zum einen der Begriff „zigenare“ nun zunehmend Verwendung für die international migrierenden Roma, die sich um 1914 entschieden, im Land zu bleiben und zum anderen die Bezeichnung „tattare“ für jene Gebrauch, die schon seit längerem in Schweden lebten. Dieser begriffsgeschichtliche Prozess hatte wohl schon früher eingesetzt, allerdings verstärkte sich die Entwicklung mit dem Gesetzerlass von 1914, so die Einschätzung der Autorinnen. In den nachfolgenden Jahren stellte sich den schwedischen Behörden wiederholt die Zuordnungsfrage, insbesondere bei der Abgrenzung vermeintlicher „tattare“ von der Mehrheitsbevölkerung.

Weniger eine These als ein Bewegrund für die Herausgabe dieses Buches ist für die Autorinnen folgender Ausgangspunkt: Ältere Dokumente über Roma und Fahrende seien meist voller Vorurteile und Missverständnisse, und die Inhalte könnten von der Minderheit als schmerzhaft und verletzend empfunden werden. Dennoch kann dieser „Flickenteppich aus Quellen“ nach Meinung der Autorinnen wichtige und nützliche Informationen liefern, um dem historischen Wissen über Roma und Fahrende in Schwedens näher zu kommen. Bei der Wahl ihres Buchtitels und ihrer konzeptuellen Idee orientierten sie sich nach eigenen Angaben an der Dissertation des finnischen Historikers Miika Tervonen von 2010, die den Titel „‚Gypsies‘, ‚Travellers‘ and ‚peasants‘. A study on ethnic boundary drawing in Finland and Sweden, c. 1860–1925“ trägt.1

Fernstål und Hyltén-Cavallius haben bereits in einer Reihe von Publikationsprojekten zusammengearbeitet und sich dabei insbesondere mit der Produktion von historischem Wissen von sogenannten „Experten“ aus der Mehrheitsgesellschaft über schwedische Roma-Gruppen auseinandergesetzt. Die langjährige Kooperationserfahrung zeigt sich auch in ihrem neuesten Projekt. Die einzelnen Kapitel sind logisch gegliedert und inhaltlich stringent, die eingängige Sprache macht die Gedankengänge für Leserinnen und Leser nachvollziehbar.

Während Hyltén-Cavallius aus der Ethnologie kommt, Dozentin für Minoritätsstudien an der Åbo Akademie in Finnland ist und eine Forschungsstelle am „Institutet för språk och folkminnen (Institut für Sprache und Folklore) in Uppsala innehat, ist Fernstål ausgebildete Archäologin und arbeitet an den „Statens historiska museer“ (Staatliche Historische Museen) in Stockholm. Letztere Behörde ist für die Bereiche Archäologie und Kirchenkunst in Schweden verantwortlich und beteiligt sich mittlerweile auch an der Erforschung der Geschichte von Roma und fahrenden Gruppen. Die Ausgrabungsaktivitäten an den von diesen Gruppen genutzten festen oder auch wechselnden Plätzen werden in Schweden als wichtiger Beitrag zur Erforschung des gemeinsamen Kulturerbes angesehen. 2018 gaben Fernstål und Hyltén-Cavallius ein Buch zu Roma-Plätzen im Großraum Stockholm heraus, das zum einen Ergebnisse der Ausgrabung eines von Roma zwischen 1959–1963 genutzten Geländes im Stockholmer Bezirk Skarpnäck präsentierte, zum anderen Interviews mit schwedischen Roma über ihre Lagererfahrung im 20. Jahrhundert miteinbezog.2

Das hier besprochene, zwei Jahre später erschienene Buch „Ein Flickenteppich aus Quellen“ ist das Resultat ihres gemeinsamen Forschungsprojekts „Antiziganismen och samlingarna – kunskapsproduktion och samlande vid kulturhistoriska museer och arkiv under 1900-talet („Antiziganismus und Sammlungen – Wissensproduktion und Sammeltätigkeit in kulturhistorischen Museen und Archiven im 20. Jahrhundert”), das nun den Blick auf bereits existierende Archiv- und Museumssammlungen über Roma und Fahrende richtet. Fernstål und Hyltén-Cavallius fragen, wie und in welchen Kontexten dieses Material entstanden ist, wie es seinerzeit genutzt wurde und aus heutiger Sicht zu verstehen ist. Der Begriff „Antiziganismus“ wird von ihnen in diesem Kontext verwendet, um strukturelle Diskriminierung und Rassismus hervorzuheben. Die Autorinnen beschränken sich jedoch nicht auf das 20. Jahrhundert, sondern diskutieren in Kapitel 2 zunächst drei Quellen aus dem 18. Jahrhundert als Ausgangspunkt und Zeugnisse für eine lange Geschichte des Antiziganismus in Schweden.

In den Kapiteln 3 und 4 rücken die Aktivitäten und Sammlungen der schwedischen „Experten“ für Roma und Fahrende, der Folklorist Carl-Herman Tillhagen (1906–2002) und der Archivar Carl-Martin Bergstrand (1899–1998), in den Mittelpunkt des Interesses. Tillhagen war an der renommierten musealen Einrichtung „Nordiska Museet“ („Nordisches Museum“) in Stockholm angestellt und nahm Mitte der 1950er-Jahre an einer polizeilichen Untersuchung zur Lebenssituation der Roma in Schweden teil. Dabei schuf er eine umfangreiche Fotosammlung über die im Land lebenden Roma-Gruppen, die er mit genealogischen Angaben und weiteren Auskünften versah, welche von einer paternalistischen Sichtweise auf die Minorität geprägt waren. Bergstrand, eigentlich Archäologe und langjähriger Volkschullehrer, zeigte Interesse für gesellschaftliche Randgruppen und sammelte Informationen über jene mobilen und marginalisierten Personen, die von der schwedischen Mehrheitsbevölkerung als „tattare“ bezeichnend wurden. 1942 veröffentlichte Bergstrand ein Buch mit dem Titel „Tattarplågan“ („Die Tattarenplage“), in dem er ein abwertendes Bild der Fahrenden zeichnete, ohne den Versuch zu unternehmen, die Lebensweise dieser Gruppe zu verstehen und zu erklären. So irritierend die Sammlungen aus heutiger Sicht sind, enthalten sie gleichzeitig reichhaltige Informationen unterschiedlicher Art, beispielsweise über die damaligen Lebensumstände der Roma und Fahrenden in Schweden sowie über die normativen Ideale der Mehrheitsgesellschaft, wie Fernstål und Hyltén-Cavallius überzeugend herausstellen.

In den Kapiteln 5 und 6 präsentieren die Autorinnen bisher unveröffentlichtes Material. Dabei handelt es sich zum einen um eine zwölfminütige Filmaufnahme mit Bewohner:innen aus einem Roma-Lager von ca. 1950, zum anderen um zwei Selbstzeugnisse von jeweils einem Rom und einem Fahrenden, die auch selbst diese Gruppenzugehörigkeit angeben. Beide Erzählungen sind als Lebensgeschichten verfasst und wurden zwischen Anfang der 1950er-Jahre und 1964 an Tillhagen gesandt. Sie sind Belege für eine frühe schwedische Gegenerzählung zu den vorurteilsgeprägten Darstellungen der Mehrheitsgesellschaft.

Das Schlusskapitel verweist auf weitere schwedische Quellen zur Geschichte der Roma und Fahrenden und will damit jenen Anregungen geben, die sich an der Erforschung dieser Gruppen beteiligen wollen. Fernstål und Hyltén-Cavallius nutzen auch Materialien, die z.B. ein Historiker gewöhnlich nicht zu seiner Quellengattung zählen würde, zum Beispiel Sammlungen zum Kunsthandwerk der beiden Minoritätsgruppen. Mit Hilfe eines „Patchwork-Ansatzes“, bei dem die kritische Betrachtung des Entstehungskontexts von großer Bedeutung ist, können ältere Sammlungen, aber auch fragmentarische Materialien dazu beitragen, historisches Wissen über Roma und Fahrende entstehen zu lassen, so das abschließende Räsonnement von Fernstål und Hyltén-Cavallius.

Auch wenn sich die Publikation „Ett lapptäcke av källor“ von Fernstål und Hyltén-Cavallius ausschließlich mit skandinavischem Quellenmaterial über Roma und Fahrende befasst, kann sie auch für andere Regionen neue methodische Impulse zur Erforschung dieser Minoritätsgruppen und ihrer Geschichte geben. Zu bedauern ist, dass das Buch keine englische Zusammenfassung enthält, da hierdurch die internationale Resonanz begrenzt bleiben dürfte. Der von den Autorinnen verfolgte multidisziplinäre Ansatz verdient nämlich durchaus Beachtung und könnte für viele Forscherinnen und Forscher mit verwandten Themenfeldern eine Anregung sein, mit Fachrichtungen zu kooperieren, die am Studium ambulanter Gruppen bislang weniger beteiligt waren, wie z.B. die Archäologie.

Anmerkungen:
1 Miika Tervonen, ‚Gypsies‘, ‚travellers‘ and ‚peasants‘. A study on ethnic boundary drawing in Finland and Sweden, c. 1860–1925, unveröffentl. Diss., Florenz 2010.
2 Lotta Fernstål, Charlotte Hyltén-Cavallius, Romska liv och platser. Berättelser om att leva och överleva i 1900-talets Sverige, Stockholm 2018.