Archiv der deutschen Frauenbewegung (Hrsg.): Unfruchtbare Debatten?

Cover
Titel
Unfruchtbare Debatten?. 150 Jahre gesellschaftspolitische Kämpfe um den Schwangerschaftsabbruch


Herausgeber
Archiv der deutschen Frauenbewegung
Reihe
Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte (77)
Erschienen
Kassel 2021: Selbstverlag
Anzahl Seiten
269 S.
Preis
€ 23,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Miriam Koppehl, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin an der Charité, Charité Universitätsmedizin Berlin; Nicolas Frederic Weber, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Heidelberg

Die diesjährige Ausgabe der Zeitschrift „Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte“ des Archivs der deutschen Frauenbewegung in Kassel (AddF) legt unter dem Titel „Unfruchtbare Debatten? 150 Jahre gesellschaftspolitische Kämpfe um den Schwangerschaftsabbruch“ den Fokus auf die historische Dimension einer bis heute polarisierenden Thematik. Diese hat auch 150 Jahre nach der Verabschiedung des §218 nicht an Aktualität eingebüßt, wie die laufenden Diskussionen um das ärztliche „Werbeverbot“ deutlich machen, welche angesichts jüngster Verurteilungen zum wiederholten Male entbrannt sind. Vor diesem Hintergrund betonen die Herausgeberinnen die Bedeutung einer gründlichen geschichts- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Schwangerschaftsabbruches in Deutschland für das Verständnis gegenwärtiger Entwicklungen und Diskurse.

In zwölf Beiträgen widmen sich Autor:innen unterschiedlicher Fachrichtungen rechtlichen Entwicklungen, gesellschaftlichen Diskursverschiebungen, transnationalen Wechselwirkungen sowie bedeutenden Akteur:innen der letzten 150 Jahre. Darüber hinaus bietet die Ausgabe Einsicht in die aktivistische Perspektive, sowohl in Form eines Erfahrungsberichts über die Arbeit einer Marburger §218-Gruppe (Gisela Hermes und Ildikó Szász) als auch mithilfe eines Interviews mit der Kassler Frauenärztin Nora Szász. Hier wird der Gegenwartsbezug und dezidiert politische Charakter der Zeitschrift deutlich. Der Blick in die Vergangenheit kann dabei auch dazu dienen, Mut zu machen im andauernden Kampf um weibliche Selbstbestimmung, für deren Verwirklichung sich Hulverscheidt und Wolff, im Sinne eines modernen, engagierten Wissenschaftsverständnisses, im Vorwort klar aussprechen.

Während der Fokus der wissenschaftlichen Beiträge vor allem auf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt, erweitern die im Dokumentationsteil vorgestellten Quellen den zeitlichen Rahmen deutlich. Bei den vor allem aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammenden Texten handelt es sich um von der Forschung bisher wenig beachtetes Quellenmaterial, das einen Einblick in den Bestand des AddFs erlaubt und zur vertieften Lektüre einlädt. Idealerweise würden sich die im Titel der Ausgabe genannten „150 Jahre“ jedoch auch im Inhalt der Forschungsbeiträge widerspiegeln.

Zu Beginn arbeitet Leonie Kemper legislative Ansätze zur Regelung von Abtreibungen zur Zeit des Ersten Weltkrieg aus einem umfangreichen Quellenkorpus heraus, der neben Protokollen von Reichstagssitzungen statistisches Material sowie Publikationen der Frauenbewegungen umfasst. Dabei geht sie ausführlich auf die unterschiedlichen Strategien der „bürgerlichen“ und „proletarischen“ Akteurinnen im Kampf gegen die bevölkerungspolitischen Maßnahmen in den letzten Jahren des Kaiserreichs ein, die zur Erhöhung der Geburtenrate unter anderem auf eine verstärkte Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen setzten. Kemper gelingt es eindrucksvoll, das zwischen Kooperation und Abgrenzung oszillierende Verhältnis der beiden dominierenden feministischen Strömungen in Kaiserreich und Weimarer Republik deutlich zu machen.

Jelena Wagner beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit Abtreibungen im Zusammenhang mit Vergewaltigungen in der britischen Besatzungszone nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei stützt sie ihre Analyse auf Akten des Bielefelder Gesundheitsausschusses sowie auf Patientenakten des Hauptarchivs Bethel. Im Fokus der Untersuchung steht dabei zum einen die Rekonstruktion der Verfahren vor dem Bielefelder Gesundheitsausschuss, welche Frauen, die eine Abtreibung nach einer Vergewaltigung vornehmen lassen wollten, durchlaufen mussten. Daneben widmet sich Wagner der Frage nach der Bedeutung der Erzählpraxis und der gesellschaftlichen Stellung der betroffenen Frauen für die Entscheidung des Gremiums. Ihr gelingt es dabei, bestimmte „Erzählcodes“ (S. 37) herauszuarbeiten, denen sich die Frauen vor dem Gremium zur Begründung ihres Antrags bedienten. Wagner ermöglicht mit ihrer regionalgeschichtlichen Untersuchung Einblicke in einen Verwaltungsakt, in dem sich medizinisch-wissenschaftliche, moralische und judizielle Vorstellungen spiegeln, die in Teilen bis heute nachwirken.

Anna Domdeys Auseinandersetzung mit der Arbeit des Humanembryologen Prof. Dr. Erich Blechschmidt (1904–1992) und dem Einfluss seiner Dokumentationssammlung auf die Argumentation von Abtreibungsgegner:innen seit den 1980er-Jahren liefert zwar zahlreiche grundlegende Informationen, verliert sich zuweilen jedoch zu sehr in der Beschreibung der Sammlung. Eine Fokussierung auf die eigentliche Fragestellung wäre hier wünschenswert gewesen.

Raphael Rössel richtet in seinem Artikel den Blick auf das Verhältnis von Reproduktionsgesetzgebung sowie Frauen- und Behindertenrechten in westdeutschen Debatten der 1960er- bis 1990er-Jahre und baut dabei auf jüngste Erkenntnisse aus Disability History und Sexualitätsgeschichte auf. Dem Autor gelingt es, die komplexen Zusammenhänge zwischen dem Kampf um Behindertenrechte und weibliche Selbstbestimmung sichtbar zu machen. Er legt beispielsweise eindrucksvoll dar, wie der Schutz behinderten Lebens nicht nur als Argument gegen Lockerungen des Abtreibungsparagrafen bemüht wurde, wie es heute unter anderem in der Debatte um pränatale Chromosomentests der Fall ist, sondern mitunter auch als Argument für eine Liberalisierung herangezogen wurde.

Die Beiträge von Claudia Roesch zu Abtreibungsreisen westdeutscher Frauen ins europäische Ausland sowie von Anja Titze zu unterschiedlichen Rechtsnormen im Hinblick auf Schwangerschaftsabbrüche in Europa betonen die transnationale Dimension der Thematik und sind angesichts einer nach wie vor in erster Linie national geführten Diskussion von großer Aktualität. Roesch macht in ihrem Artikel deutlich, dass Abtreibungsreisen seit den 1960er-Jahren fester Bestandteil der reproduktionspolitischen Realität in der Bundesrepublik sind, jedoch nur für ökonomisch besser gestellte Frauen eine realistische Option darstellen. Anja Titze veranschaulicht in ihrem Beitrag, der auf einer bemerkenswert umfassenden Quellenarbeit beruht, sowohl gemeinsame Entwicklungstendenzen zwischen verschiedenen europäischen Abtreibungsregimes als auch die Vernetzung bedeutender Akteur:innen über nationale Grenzen hinweg. Darüber hinaus gelingt es Titze, den für die Auseinandersetzung mit legislativen Regelungen von Abtreibungen so wichtigen Unterschied zwischen Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit in verschiedenen europäischen Ländern und ihre historische Entwicklung nachvollziehbar herauszuarbeiten.

Ulrike Busch und Daphne Hahn vergleichen in ihrem Beitrag die Reglementierung des Schwangerschaftsabbruches in BRD und DDR. Auf eine anschauliche Darstellung der in der Forschung bereits vielfach diskutierten Unterschiede zwischen beiden deutschen Staaten folgt eine kritische Betrachtung der gesamtdeutschen Neuregelung in den 1990er-Jahren. Die Autorinnen zeigen dabei auf, dass es sich bei der nach 1993 erarbeiteten Bestimmung, die von großen Teilen der Öffentlichkeit als erfolgreicher Kompromiss wahrgenommen wurde, aus Perspektive ostdeutscher Frauen um eine gravierende Einschränkung des Rechtes auf körperliche Selbstbestimmung handelte. Ulrike Lembke greift die Zeit nach der Inkorporation der DDR in die Bundesrepublik in ihrem Beitrag ebenfalls auf und analysiert ausführlich den politischen und juristischen Diskurs nach 1990, der zur genannten Neuregelung führte. Dabei widmet sie sich sowohl den verschiedenen Diskurspositionen als auch zentralen Elementen und Kennzeichen der kontrovers geführten Debatte, die sich als zutiefst von westdeutschem Überlegenheitsdenken geprägt präsentiert.

Auch in Polen kam es zu Beginn der 1990er-Jahre zu einer Revision des Abtreibungsrechts. Michael Zok zeichnet in seinem Beitrag die Genese der 1993 getroffenen Regelung, die wie in Deutschland als Ausgleich zwischen den verschiedenen Diskurspositionen geplant war, nach und nimmt dabei die an der Auseinandersetzung beteiligten Akteur:innen in den Blick. Darüber hinaus stellt Zok die aktuellen Ereignisse in Polen, wo es nach der umstrittenen Entscheidung des polnischen Verfassungstribunals im Herbst 2020 und der damit verbundenen verschärften Einschränkung des Abtreibungsgesetzes zu Massenprotesten kam, in den historischen Kontext.

Besonders gelungen ist der Beitrag von Isabel Heinemann, in welchem die Autorin auf Basis der 1966 von der Soziologin Helge Pross gesammelten Zuschriften von Frauen aus der gesamten Bundesrepublik herausarbeitet, wie diese ihre Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch reflektierten. Heinemann zeigt nicht nur die Motive der Frauen auf, sondern untersucht gleichzeitig, wie Helge Pross die Zuschriften auswertete. Dabei gleicht Heinemann die Zuschriften mit der Diskussion über abtreibende Frauen in der breiteren westdeutschen Publizistik der 1960er- und 1970er-Jahre ab. Eindrucksvoll demonstriert sie, wie sich im von Pross gesammelten Material zeige, dass „Frauen bereits im Jahr 1966 ihre Abtreibungsentscheidung sehr bewusst artikulierten, begründeten und verteidigten“ (S. 115). Folglich sei nicht mit der berühmten Selbstbezichtigungskampagne im Magazin Stern aus dem Jahr 1971 der Beginn des feministischen Engagements für weibliche Selbstbestimmung in der Nachkriegszeit anzusetzen, sondern einige Jahre früher.

Die Beiträge sowie die im Dokumentationsteil enthaltenen Quellen bieten insgesamt zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine weitere Erforschung einer Thematik, deren geschichtswissenschaftliches Potential mit Sicherheit noch lange nicht ausgeschöpft ist. Die Beschäftigung mit den Ursprüngen der laufenden Debatte um körperliche Verfügungsfreiheit der Frau kann darüber hinaus nicht nur für das Verständnis aktueller Konflikte von Bedeutung sein, sondern ermöglicht auch Anknüpfungspunkte für gegenwärtige Aktivist:innen. Zumindest vor diesem Hintergrund kann von „unfruchtbaren Debatten“ keine Rede sein.