F. Lüscher: Nuklearer Internationalismus

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Titel
Nuklearer Internationalismus in der Sowjetunion. Geteiltes Wissen in einer geteilten Welt, 1945–1973


Autor(en)
Lüscher, Fabian
Reihe
Osteuropa in Geschichte und Gegenwart (8)
Erschienen
Köln 2021: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
397 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elias Angele, Forschungsstelle Osteuropa, Universität Bremen

Die Nukleargeschichte der Sowjetunion erfreut sich ungebrochener Aufmerksamkeit. So haben die Mitglieder des Forschungsverbunds „Nukleare Technopolitik in der Sowjetunion“ seit 2017 den Versuch unternommen, die Wissenschafts- und Technikgeschichte der Sowjetunion in der „nuklearen Moderne“ genauer zu untersuchen.1 In diesem Zusammenhang ist auch Fabian Lüschers vorliegende Dissertation entstanden. In seiner Studie des „nuklearen Internationalismus in der Sowjetunion“ zeigt er, dass während des Kalten Krieges „positiv konnotiertes nukleares Wissen“ ungeachtet der Systemkonfrontation global zirkulieren konnte (S. 19). Die sowjetische Seite war nicht nur Nutznießerin dieses Prozesses, sondern hatte auch erheblichen Einfluss auf ihn.

Mit dem Untertitel „Geteiltes Wissen in einer geteilten Welt“ wird die grundlegende Stoßrichtung seiner Forschung ausgedrückt. Anhand der Untersuchung „internationaler Beziehungsgeflechte“ (S. 20) geht Lüscher der Frage nach, in welchem politischen Rahmen sowjetische Spezialist:innen Teil einer „transsystemische[n] Verständigung“ (S. 21) über Anwendungsfragen der Kernenergie waren. In diesem Sinne betrachtet er einerseits die Makroebene der internationalen Organisationen sowie der Kernenergie- und Außenpolitik der UdSSR, andererseits das Handeln und den Werdegang von Vertreter:innen der wissenschaftlichen Elite des Landes. In einem Zeitraum vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Ölkrise analysiert Lüscher den Wandel nuklearer Wissensproduktion und er zeigt, wie der anfängliche „Schatten der Bombe“ von der Strahlkraft des „friedlichen Atoms“ zwar nicht zurückgedrängt, aber doch etwas lichter wurde. Ein solch ambitionierter Beitrag zur „Geschichte aller nuklearen Dinge“ (S. 21) hat zahlreiche Vorläufer, auf die er in seiner Arbeit auch häufig zurückgreift. Bei der Lektüre des Buchs wird deutlich, dass insbesondere die Arbeiten von David Holloway über das Atombombenprojekt unter Stalin und von Paul Josephson über die vielfältige Anwendungsforschung zum friedlichen Atom immer noch den Standard setzen.2 Ebenso bereits vielfach untersucht sind internationale Organisationen, insbesondere die „International Atomic Energy Agency“ (IAEA), von den Auswirkungen der Atomindustrie auf Mensch und Umwelt ganz zu schweigen.3 Lüscher versucht sich in dieser diversen Forschungslandschaft durch einen integrativen Ansatz zu positionieren und er erteilt in diesem Sinne der „zu einer problematischen Selbstverständlichkeit gewordene[n] Trennlinie“ zwischen militärischen und zivilen Anwendungsbereichen eine klare Absage (S. 28). Leider kann er aufgrund der unzugänglichen militärischen Quellen diesen Anspruch nicht ganz erfüllen. Lüschers Programm einer „integrierenden Nukleargeschichte“ bleibt somit eher eine Frage der Perspektive (S. 360).

Zunächst beschreibt Lüscher die Institutionenbildung vom „nuklearen Urknall“, dem ersten Atombombentest in den USA am 16. Juli 1945, bis zu den UN-Konferenzen „On the Peaceful Uses of Atomic Energy“ sowie der Gründungen der IAEA und der Pugwash-Initiative. Vor diesem politikgeschichtlichen Kontext wendet sich Lüscher im zweiten Teil der Arbeit drei Anwendungsbereichen der Kernenergieforschung zu: der Fusionsforschung, der nuklearen Antriebstechnik und dem Umgang mit Atommüll. Lüscher erklärt, warum zahlreichen sowjetischen Wissenschaftler:innen der Weg aus strengster Geheimhaltung zu den neuen Foren internationalen wissenschaftlichen Austauschs geöffnet wurde. Er definiert dafür zwei zentrale Faktoren: „Technologiespezifische Notwendigkeiten“ wie etwa der Umstand, dass radioaktive Strahlung nicht an Ländergrenzen Halt macht oder die ausgesprochen komplexe Angelegenheit der Kernfusion, hätten die internationale Kooperation in diesen Bereichen schlicht unumgänglich gemacht (S. 27). Die Forschungskapazität eines einzelnen Landes hätte bei weitem nicht zur Lösung dieser Probleme ausgereicht. Der andere Faktor ist wiederum ein politisch-ideologischer: „Internationalisierung“ wird in der Studie durchgehend auch als strategisches Element sowjetischer Außenpolitik gewertet. Denn nach dem Aufstieg der UdSSR zur Atommacht versuchte die sowjetische Regierung als Gönnerin und Unterstützerin bedürftiger Staaten ohne Nukleartechnik aufzutreten. Vereint im Befreiungskampf gegen den westlichen Imperialismus, stellte die Sowjetunion bedingungslose „nukleare Entwicklungshilfe“ in Aussicht, auch um mit dem eigenen technischen Fortschritt den Erfolg sozialistischer Modernisierung zu zeigen und gleichzeitig ein politisches Gegengewicht zum Westen aufzubauen (S. 30). Diese Politik des Wissensexports für friedliche Zwecke führte jedoch auch dazu, dass die Volksrepublik China im Oktober 1964 ihren ersten eigenen Atombombentest durchführte. Mit dem sino-sowjetischen Bruch war das Debakel komplett. Die UdSSR hatte eine neue Atommacht aufgebaut und anschließend die Kontrolle über sie verloren. In der Folge vollzog die sowjetische Außenpolitik eine Kehrtwende. Hatte sie zunächst die von den USA vorgeschlagenen „safeguards“ – Kontrollmechanismen, die die Verbreitung von waffengeeigneter Atomtechnik verhindern sollten – komplett abgelehnt, stimmte sie diesen nun zu, um sich nicht noch weitere Konkurrenz in der Reihe der Atommächte zu schaffen. Um sich weiterhin glaubhaft als Unterstützerin der Länder ohne Nukleartechnologie darstellen zu können, wurden dafür der internationale Wissensaustausch über Projekte ohne militärischen Nutzen noch stärker gefördert (S. 214).

Von einem „akteursorientierten“ Ansatz (S. 45) geleitet, beschreibt Lüscher zahlreiche sowjetische Wissenschaftler:innen in ihrem Wirken in internationalen Netzwerken und im Institutionengefüge der UdSSR, wobei die Individuen hinsichtlich ihrer eigenen Motivationen leider kaum greifbar werden und die große Personenauswahl streckenweise etwas überfordert. Diese Angehörigen einer wissenschaftlich-technischen Elite wurden von der sowjetischen Führung sorgfältig ausgewählt, um in den jeweiligen internationalen Foren sowjetische Interessen zu vertreten. Dabei sollten sie möglichst wenig relevante Informationen bereitstellen und gleichzeitig so viel wie möglich über die Forschung der anderen erfahren (S. 130). Dass überhaupt ein solcher Austausch möglich war, lag auch daran, dass sie alle an Projekten arbeiteten, die keinen unmittelbaren militärischen Nutzen versprachen. Schlussendlich konnten – entgegen der sowjetischen Selbstdarstellung – weder die teilweise erfolgte Internationalisierung einer streng geheimen Wissenschaft noch die neugeschaffenen internationalen Organisationen die nukleare Bedrohung abwenden. „Scheitern“ wird damit zum zentralen Motiv in Lüschers Arbeit. Auf politischer Ebene attestiert er der Abrüstungsdiplomatie des frühen Kalten Krieges Versagen „auf ganzer Linie“ (S. 55). Darüber hinaus stellten sich auch in der Anwendungsforschung nicht die erwarteten Erfolge ein, wie im zweiten Teil der Arbeit deutlich wird. Zwar wurde beispielsweise die Fusionsforschung „zum vielleicht internationalsten Bereich des sowjetischen Atomprogramms“ (S. 191), die Arbeit an einem funktionierenden Fusionsreaktor war jedoch konstant von Rückschlägen begleitet und konnte bei Weitem nicht den Wunsch nach einer scheinbar unerschöpflichen Energiequelle erfüllen. Den Grund dafür, dass trotzdem an der Fusionsforschung festgehalten wurde, sieht Lüscher darin, dass der Gegenseite im technischen Wettstreit kein Sieg gegönnt werden sollte (S. 239). Entsprechend sensationalistisch wurden dann sowjetische Teilerfolge, insbesondere der Bau des ersten Atomeisbrechers, inszeniert. Durch die Weiterentwicklung anderer Antriebssysteme war auch hier der volkswirtschaftliche Nutzen, genau so wie die öffentliche Wirkung, nur von kurzer Dauer.

Am dramatischsten erscheint zuletzt das Scheitern der internationalen Politik und Forschungsgemeinschaft im Umgang mit radioaktiven Abfällen. Die ernste Gefahr, die von diesem Müll ausging, erkannte Igor Kurtschatow, der Doyen der sowjetischen Atomforschung, bereits früh und deklarierte sie noch im selben Absatz wiederum als lösbar (S. 309). Diese Position wurde in der Folge immer wieder erneuert. Zu verlockend waren die Möglichkeiten, als dass man sich mit den umwelttechnischen Konsequenzen hätte allzu sehr auseinandersetzen wollen. Der internationale Wissensaustausch habe in dieser Sache nur wenig geändert, denn „Gespräche über ein Umweltproblem, das offiziell nicht existierte, hätten den eigenen Standpunkt unterminiert“ (S. 315). Als schlussendlich ausgerechnet die Atomkraft einen Ausgang aus der Ölkrise zu bieten schien, wurde das Müllproblem nur allzu gern als wissenschaftlich bereits gelöste Aufgabe dargestellt (S. 251). Verfolgt man die gegenwärtige Debatte über die Einstufung der Atomkraft als nachhaltige Energieform, entsteht der Eindruck, dass dieses Scheitern noch immer vorhält.

Lüscher macht es sich zur Aufgabe, „eigensinniges Handeln“ (S. 22) darzustellen, muss aber später erklären, dass er keine „fundierte Akteursperspektive im engeren Sinne“ einnehmen kann, was er auf eine einseitige Überlieferungspraxis und fehlende Quellen zurückführt (S. 45). Ebenso will er weniger die „innersowjetische“ Wissenschaftspolitik thematisieren (S. 20) und stellt jedoch in der Folge fest, dass es trotz allem Eigensinn die Partei war, die bei der Zirkulation von Menschen und Wissen das letzte Wort hatte (S. 89). Somit bleibt nach der Lektüre der Eindruck bestehen, dass sowjetische Nuklearforscher:innen zwar an Gehör und Einfluss in der Wissenschaft gewannen, aber von Eigensinn in seiner emanzipatorischen Bedeutung nicht gesprochen werden kann. Zuletzt ist die Arbeit zu einem sehr voraussetzungsreichen Buch geworden – Lüscher scheint beispielsweise davon auszugehen, dass seinen Leser:innen klar ist, was ein Tokamak ist. Wer aber einen tieferen Einblick in die internationale Nuklearforschung erhalten will, wird hier zweifelsohne viel Neues erfahren.

Anmerkungen:
1 Stefan Guth / Klaus Gestwa / Tanja Penter / Julia Richers, Soviet nuclear technoscience, in: Cahiers du Monde Russe 60,2–3 (2019), S. 257–280, hier S. 260.
2 David Holloway, Stalin and the Bomb. The Soviet Union and Atomic Energy, 1939–56, New Haven 1994; Paul R. Josephson, Red Atom. Russia’s Nuclear Power Program from Stalin to Today, New York 2000.
3 Vgl. exemplarisch den Themenschwerpunkt zur IAEA in Cold War History, Vol. 16, Nr. 2 (2016), S. 177–230.