S. Pfeiffer u.a. (Hrsg.): Gesellschaftliche Spaltungen im Zeitalter des Hellenismus

Cover
Titel
Gesellschaftliche Spaltungen im Zeitalter des Hellenismus (4.–1. Jahrhundert v.Chr.).


Herausgeber
Pfeiffer, Stefan; Weber, Gregor
Reihe
oriens et occidens. Studien zu antiken Kulturkontakten und ihrem Nachleben (35)
Erschienen
Stuttgart 2021: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benedikt Eckhardt, School of History, Classics and Archaeology, University of Edinburgh

Dass die makedonische Eroberung des Perserreichs nicht eine Verschmelzung kultureller Unterschiede und den Aufbruch in eine Weltgemeinschaft bedeutete, sondern im Gegenteil scharfe, auch rechtlich abgesicherte gesellschaftliche Spaltungen herbeiführte, ist in der heutigen Hellenismusforschung Konsens. Dennoch gab es erstaunlich wenige Versuche, diese Spaltungen systematisch zu erfassen. Der hier zu besprechende, aus einer Sektion des 52. Historikertages heraus entstandene Band soll diese Lücke schließen und zugleich eine Diskussion, die oft in wenig ergiebige Dichotomien wie „pro“- oder „antihellenistisch“ mündet, auf eine methodisch solidere Grundlage stellen. In der Einleitung findet sich neben Diskussionen neuerer Ansätze wie Globalisierung und Hybridität ein für alle Beiträge geltendes Frageraster: Gefragt wird nach Konfliktlinien (mit besonderem Augenmerk auf ethnischen „Nationalismus“), nach Parametern der Bewertung von Spaltungen, nach der Größe der involvierten Gruppen, nach Mitteln und Medien der Auseinandersetzung, und nach Lösungsmöglichkeiten.

Sowohl die generelle Thematik als auch die Spezifikation der ersten Leitfrage legen eine Konzentration auf die ethnisch diversen Großreiche der Ptolemäer und Seleukiden nahe, denen auch die Mehrheit der Beiträge gewidmet ist. Den Anfang macht allerdings Henning Börms ausführliche Studie zu gespaltenen Städten im makedonisch beherrschten Griechenland. Seine Fallbeispiele zeigen eine im Wesentlichen durch die Nähe bestimmter Personen zum König geprägte Dynamik: Stasisparteien konnten einander zwar alles Mögliche vorwerfen, darunter auch Verrat an einer gemeingriechischen Sache, doch hinter dieser Rhetorik standen oft schlicht Machtkämpfe, die durch die Verfügbarkeit von Königen als Bündnispartner noch befeuert wurden. Diese offensichtlich strukturelle, von Herrscher- und sogar Paradigmenwechseln wie der römischen Eroberung zunächst kaum betroffene Neigung zur politischen Instabilität erklärt Börm mit oft diskutierten Eigenarten (aller?) griechischer Gesellschaften: dem Fehlen institutionell abgesicherter Kriterien der Zugehörigkeit zur Aristokratie und dem griechischen Hang zum „Agonalen“. Der erstgenannte Aspekt ist zweifellos wichtig und wäre sicher auch ohne den Rückfall in Überlegungen zum griechischen Volksgeist zu haben; wie er sich zu der andernorts beobachteten „Aristokratisierung“ griechischer Gesellschaften in späthellenistischer und dann in römischer Zeit verhält, wäre eine weitere Nachfrage wert. Es folgen zwei Beiträge zu den „Weltstädten“ Alexandria und Babylon. Thomas Kruse zeigt für Alexandria, dass die Berichte des Polybios über aufständische Massen letztlich zu uninteressiert an der tatsächlichen Untergliederung der städtischen Bevölkerung sind, um wesentliche Aufschlüsse über etwaige soziale oder ethnische Konflikte zu erlauben. Mit Kruse wird man davon ausgehen dürfen, dass der Aufstand gegen Agathokles (204/203 v.Chr.) sowohl ägyptische als auch griechische Bevölkerungsteile mobilisierte, eine Spaltung damit offensichtlich nicht entlang ethnischer Linien verlief. Hilmar Klinkott diskutiert die Situation in Babylon, wo sich die griechisch-makedonische Herrschaft seit Alexander offenbar weitgehend stabil gestaltete. Dass die Könige als Unterstützer der babylonischen Tempel auftraten, streicht Klinkott zurecht als wichtigen Faktor heraus. Ob Babylon im frühen zweiten Jahrhundert v.Chr. insgesamt zu einer griechischen Stadt wurde, oder ob die dort angesiedelten politai nicht eine von der indigenen Bevölkerung klar unterschiedene Gruppe mit eigenen Institutionen waren, lässt der Beitrag offen; zudem fallen einige Nachlässigkeiten und Inkonsistenzen auf, die teils das Verständnis erschweren.1

Die übrigen Beiträge untersuchen Spaltungen jenseits der Städte. Stefan Pfeiffers sorgfältige Untersuchung des großen ägyptischen Aufstands gegen die Ptolemäerherrschaft (c. 207–183 v.Chr.) macht zunächst deutlich, dass eine schlichte Gegenüberstellung von Ägyptern und Griechen die Verhältnisse nicht angemessen erfasst. Als tempelzerstörende Frevler werden die ägyptischen Rebellen gerade in den Dekreten ägyptischer Priesterschaften bezeichnet, und auch ägyptische Einwohner mussten vor den Rebellen fliehen. Dass beide Parteien mit dieser Dichotomie operierten, zeigt, dass es selbst in Zeiten des offenen Konflikts keine Alternativen zur von den Ptolemäern eingeführten Dualität der „ethnischen“ (in der Praxis vor allem steuerrechtlichen) Zuordnungen gab. Mit „indigenen Illoyalitäten“ im Seleukidenreich beschäftigt sich Peter Franz Mittag. Unter Aussparung des besonders gut dokumentierten Falles Judäa (s.u. den Beitrag von Andreas Hartmann) sammelt Mittag Region für Region das Material, das möglicherweise indigene Aufstände bezeugen kann, und kommt dabei zu einem ernüchternden Schluss: In kaum einem Fall lässt sich überhaupt ein Anfangsverdacht plausibel begründen, und selbst die zuletzt vieldiskutierten Münzen der Frataraka in der Persis erlauben zu viele alternative Deutungsmöglichkeiten, als dass sicher von einem indigenen Aufstand gesprochen werden könnte.

Die letzten beiden Kapitel nehmen sekundäre, jeweils aus dem Zerfall des Seleukidenreichs hervorgegangene politische Formationen in den Blick. Der Beitrag Andreas Hartmanns zu Judäa ist der einzige, der konsequent anhand der fünf Leitfragen der Herausgeber strukturiert ist. Das macht besonders transparent, wie wenig im Einzelfall zu manchen Fragen – v.a. zu Größe und Bedeutung bestimmter Bevölkerungsgruppen – gesagt werden kann. Zurecht schreibt Hartmann den Lehrkonflikten zwischen Pharisäern und Sadduzäern keine besondere Bedeutung für die Entstehung handfester Konflikte zu. Die Quellen betonen stattdessen in ungewöhnlich starkem Maße einen ethnischen Gegensatz, der sich freilich als Teil einer narrativ konstruierten Konfliktlösung erweist: Der hasmonäischen Darstellung nach ist jeder, der die Position der neuen Herrscher nicht teilt, ein Fremder und „Feind Israels“. Die Konzentration auf innerjudäische Auseinandersetzungen erschwert teilweise den Vergleich mit den übrigen Beiträgen, doch die von Hartmann selbst an einer Stelle gesuchte Analogie mit dem von Pfeiffer besprochenen ägyptischen Aufstand und seiner öffentlichen Erinnerung zeigt auf abstrakterer Ebene wichtige Ähnlichkeiten auf. Vor ganz andere Herausforderungen sieht sich Gunnar Dumke bei seiner Untersuchung des „indo-griechischen“ Raums gestellt. Da über die Geschichte der dort nach den Seleukiden errichteten Herrschaften fast nichts bekannt ist, kann nur die Onomastik als Anhaltspunkt für Integrationsfragen gelten. Dumkes umsichtige Analyse einiger Reliquiarinschriften zeigt nicht nur, dass indische Namen erst mit dem Ende der noch erkennbar griechisch orientierten Königsdynastien in Verwaltungspositionen belegt sind, sondern kontrastiert diesen Befund auch effektiv mit den bilingualen Münzprägungen früherer Herrscher: diese suggerierten Möglichkeiten indigener Teilhabe, die in Wahrheit nicht bestanden. Zu beachten ist, dass die Wahl von Münzmotiven anderen Erwägungen folgt als der Beamtenrekrutierung, doch als Warnung vor voreiligen Schlüssen in Bezug auf andere bilinguale Kontexte des Hellenismus sind diese Überlegungen zweifellos weiterführend.2

Die zusammenfassenden Bemerkungen von Hans-Joachim Gehrke ziehen einen sich nach dem Studium der Beiträge aufdrängenden Schluss: Entscheidend waren für gesellschaftliche Spaltungen im Hellenismus nicht ethnische oder religiöse, sondern Machtfragen (konkret das Verhältnis von Individuen und Gruppen zu wechselnden Herrschern). Warum die von Alexander und seinen Nachfolgern etablierten ethnischen Hierarchien keine stärkere Eigendynamik entwickelten, wäre m.E. noch eingehender zu diskutieren. Will man nicht in die allzu optimistische Deutung der hellenistischen Kultur als Schmelztiegel zurückfallen, kann man an ältere Modelle schwacher Staatlichkeit ebenso denken wie an das Gegenteil, nämlich eine effektive Separierung oder kontrollierte gesellschaftliche Spaltung mittels bestimmter Gruppen durch die Könige. Das Beispiel Babylon, wo eine solche Separierung womöglich mit einem stärkeren sowie konfliktträchtigen Zugriff auf finanzielle Ressourcen einherging, könnte wegweisend sein. Gehrkes Vorschlag, das von Börm für das Antigonidenreich erarbeitete Stasismodell auf nicht- bzw. nicht primär griechische Gesellschaften zu übertragen, geht demgegenüber in eine andere Richtung, denn ethnischen Konflikten kommt in diesem Modell keine Bedeutung zu.

Darüber, was aus den vorgelegten Untersuchungen für zukünftige Fragestellungen folgt, wird man also geteilter Meinung bleiben dürfen. Davon unberührt bleibt, dass der Band einen wertvollen Beitrag zur Hellenismusforschung leistet. Manche Kapitel hätten besser redigiert werden müssen und die Auswahl der (ausschließlich männlichen) Autoren ist unzeitgemäß. Doch der mustergültige Durchgang durch teils bekannte, teils obskure Quellen macht die meisten Kapitel zu äußerst nützlichen Ausgangs-, teils womöglich zu vorläufigen Endpunkten der Forschung.

Anmerkungen:
1 Störend sind vor allem inkonsistente Kategorisierungen (S. 92: „die Einrichtung der vollwertigen polis – und nicht nur eines politeuma – in Babylon“ vs. S. 95: „die Einrichtung einer polis oder eines politeuma“), die jeweils nicht weiter erläutert werden. AD 3 -77 bezieht sich, wie der Name verrät, auf das Jahr 77 v.Chr. und nicht auf 234 v.Chr. (S. 97); hier sind offenbar seleukidische und christliche Zeitrechnung verwechselt worden. Unklar bleibt Anm. 79 zu einem griechischen Amtsträger, „wie er möglicherweise auch durch 182 einen ‚the deputy of Nicanor‘ in CT 49, 118; 122=123 bezeugt ist“. In der Bibliographie vermisst man jüngere Beiträge von Philippe Clancier und Laetitia Graslin-Thomé.
2 Konkret für Münzen sieht Dumke (S. 185) keine hellenistischen Parallelen; zu denken wäre indes (natürlich mutatis mutandis) an die pseudo-autonomen Prägungen der phönizischen Städte nach 169/168 v.Chr. und an die griechisch-aramäischen Legenden auf Münzen des Alexander Jannaios.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension