M. Springborn: Jüdische Kinder- und Jugendbildung in Deutschland seit 1945

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Title
Jüdische Kinder- und Jugendbildung in Deutschland seit 1945. Schulungskontexte und Wissensbestände im Wandel


Author(s)
Springborn, Matthias
Series
Potsdamer Jüdische Studien 8
Published
Berlin 2021: be.bra Verlag
Extent
500 S.
Price
€ 48,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Zarin Aschrafi, Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow, Leipzig

„Warum wollen Sie sich mit einer so kleinen Bevölkerungsminderheit und der noch kleineren Minderheit ihrer Kinder und Jugendlichen beschäftigen?“, hatte einst der Historiker Raphael Gross den Autor der jüngst erschienenen Studie zur jüdischen Kinder- und Jugendbildung in Deutschland seit 1945 sinngemäß gefragt. Matthias Springborn, der diese Bemerkung in seinen einleitenden Reflexionen zum Ausgangspunkt nimmt (S. 12 und S. 14), ist sich dabei der mitschwingenden Implikation durchaus bewusst: Hier stellt sich – so der Autor – die Frage nach der „Relevanz deutsch-jüdischer Bildungsgeschichte seit 1945“ per se (S. 13).

Um dies vorwegzunehmen: Springborn umgeht die Frage nach dem Warum. Dies mag auf den ersten Blick als Schwachstelle seiner Arbeit moniert werden. Immerhin sind die für die Relevanz des Themas zu bestimmenden und herauszuarbeitenden konkreten historischen Kontexte und Diskurse nicht ausreichend befragt und erschlossen worden. In einem anderen Sinne lässt sich die Umgehung dieser Frage aber auch als Stärke der Studie verstehen. Denn tatsächlich befasst sich die Arbeit vorrangig – wenn auch vom Autor so nicht expliziert – mit erziehungswissenschaftlichen Fragen am historischen Beispiel. Das Anliegen des Autors ist es, dies zeigt auch der Untertitel, „Schulungskontexte und Wissensbestände im Wandel“ aufzuzeigen. Demzufolge geht es in der Studie nicht um die Frage, warum – also vor welchem diskursiven und ereignisgeschichtlichen Hintergrund – Bildungsinhalte, Schulungskontexte oder Erziehungsvorstellungen entstehen und sich verändern. Vielmehr ist Springborns Arbeit der erste systematische Versuch, die Errichtung und Etablierung jüdischer Bildungseinrichtungen sowie ihrer jeweiligen Programminhalte unter Berücksichtigung der mitwirkenden Akteure überhaupt zu erfassen und darzustellen. Seine erkenntnisleitenden Fragen speisen sich daher auch aus dem Fragewort „welche/r/s“: Welche Personen und Institutionen sind im Kontext jüdischer Kinder- und Jugendbildung wichtig; wer gewinnt und verliert an Einfluss und Entscheidungsmacht? Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang eine „bestimmte, ideologische, politische oder religiöse Doktrin“? Und welche Medien kommen zum Einsatz (S. 34)? Dabei orientiert sich Springborn streng an der bisherigen, durchaus auch überschaubaren und zumeist ebenfalls von erziehungswissenschaftlichen Fragen angeregten Forschungsliteratur. Um den „Wandel in den Schulungskontexten und Wissensbeständen“ aufzuzeigen, widmet sich der Autor dabei einem weiten Untersuchungszeitraum von 75 Jahren, der von 1945 bis 2019 reicht. Eine solche Entscheidung birgt Herausforderungen, wie etwa jene, die mit der sich veränderten Quellengrundlage (von Archivmaterialien zu Oral History) und dem entsprechenden methodologischen Zugang einhergehen. Doch Springborn stellt überzeugend zur Schau, dass er den Umgang mit beidem, sowohl mit der Quellen- als auch der Methodenvielfalt, souverän beherrscht – mitunter auch, weil er seinen Gegenstand nie „aus den Augen verliert“. Kapitel für Kapitel wird die Leserschaft in unterschiedliche Bildungskontexte eingeführt und mit ihren jeweiligen Ausrichtungen, Lehrmaterialien und Curricula (teilweise en détail mit ausführlichen Angaben zur Stundenzahl der Unterrichtsfächer) vertraut gemacht. Die Akteure wie auch die sich etablierenden Institutionen werden – dem Charakter eines Kompendiums ähnlich – akribisch und vollständig aufgeführt.

In den knapp 65 Seiten des ersten Kapitels „Bildung in der Transitkultur (1945-1951)“ widmet sich der Autor den in der unmittelbaren Nachkriegszeit errichteten jüdischen Displaced-Persons-Camps. An diesen kurzlebigen Orten, wo überlebende, geflüchtete, heimatlose Juden eine provisorische Unterkunft fanden, wurden alsbald Strukturen geschaffen, die die Bildung von Kindern und Jugendlichen gewährleisten sollten. An ihrem Aufbau wirkten verschiedene amerikanische und jüdische Organisationen mit. Springborn veranschaulicht unter anderem am Beispiel zweier DP-Schulen, Bet Bialik in Stuttgart und der Volksschule in Prien, die unterschiedlichen ideologischen Ausrichtungen der Einrichtungen, die er auf die jeweiligen beteiligten Personen zurückführt. Aufschlussreich sind auch die vielen, weiteren detaillierten Darlegungen Springborns, wenngleich die entsprechenden historischen Kontexte zuweilen aus dem Blick geraten. So wäre es beispielsweise wichtig gewesen, die verstärkte Hinwendung der verschiedenen Akteure zu Aspekten der Bildung und Erziehung im Sommer 1946 mit dem Kielce-Pogrom, der darauffolgenden jüdischen Fluchtbewegung gen Westen und der rapide steigenden Zahl von jüdischen Kindern und Jugendlichen in den alliierten Zonen zusammenzubringen. Zudem setzte in diesen Jahren ein Prozess sukzessiver „Subjektwerdung der Juden als Nation“ (Dan Diner) ein. Welche konkrete, aber auch symbolische Bedeutung diese dynamischen Ereignisse und Entwicklungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit für die zwischen Pragmatismus und Ideologie oszillierenden Überlegungen der verschiedenen Akteure hatten, ist noch nicht hinreichend beantwortet.

Das zweite und mit knapp 170 Seiten längste Kapitel „Entstehen eines neuen jüdischen Bildungssystems“ widmet sich den Jahren 1951 bis 1989. Auch hier wählt der Autor die verschiedenen, in diesen Jahren sich etablierenden Institutionen und Bewegungen im Bereich der Kinder- und Jugendbildung als Untergliederungspunkte. Darunter finden sich neben den Religionsschulen, Kindergärten, Jugendzentren, Grundschulen und Jugend- und Studentenbewegungen auch die beiden großen jüdischen Dachverbände in der Bundesrepublik: der Zentralrat der Juden in Deutschland (ZdJ) und die Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). Bei der Lektüre des Kapitels wird deutlich, dass sich die jüdische Bildungsgeschichte in der Bundesrepublik in diesem Zeitraum im Grunde genommen in drei Phasen unterteilen ließe: in die Institutionalisierung der jüdischen Bildung bis in die frühen 1960er-Jahre, in ihre Professionalisierung bis in die frühen 1970er-Jahre und in die darauffolgende Ausdifferenzierung von jüdischer Bildung in den 1980er-Jahren, die sich sowohl in den Lehrbüchern als auch in dem allgemeinen Bildungs- und Kulturangebot niederschlug. (Bewusst in Klammern sei hier noch ergänzt, dass die jüdische Bildungsgeschichte in der DDR in den am Ende des Kapitels angehängten knapp 12 Seiten sicherlich noch nicht abschließend behandelt worden ist.) Neben dem mühsam erarbeiteten Quellenkorpus zur Entstehung und Ausprägung der verschiedenen jüdischen Institutionen und Bewegungen liegt die Stärke dieses Kapitels vor allem in der Einführung bedeutender jüdischer Protagonisten, die sich im Bereich der Kinder- und Jugendbildung engagierten. Zurecht stellt Springborn hier ausgewählte Biographien wie die von Hans Lamm, Baruch Graubard, Harry Maor und Jacob W. Oppenheimer vor und zeigt berufserfahrungsgeschichtliche Kontinuitäten auf. Weitere Forschungsarbeiten könnten hier ansetzen und dabei vor allem das politische und weltanschaulich geprägte Engagement dieser Persönlichkeiten herausarbeiten. Beispielhaft sei hier Jacob W. Oppenheimer erwähnt, der Autor der 1967 erschienenen sozialwissenschaftlich-empirischen Studie zur „Jüdischen Jugend in Deutschland“. Tatsächlich beschäftigt sich Springborn zwar sehr ausführlich mit Oppenheimers Studie, indem er durch eine „Sekundäranalyse“ jene von Oppenheimer ausgewählten Kategorien weiter differenziert, um auf diese Weise genauere Angaben zu der Herkunft der befragten Jugendlichen zu gewinnen. Aus einer historischen Perspektive wäre aber ebenfalls interessant gewesen, die von Oppenheimer bestimmten Kategorien selbst zum Gegenstand der Interpretation zu machen und sie mit seiner in den 1960er-Jahren vertretenen Weltanschauung zu verbinden: So war der seinerzeit als Jugendleiter tätige Oppenheimer – trotz Gegenwind seitens einiger jüdischer Gemeindefunktionäre – besonders darum bemüht, die jüdischen Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik im Sinne einer später umzusetzenden Alija zu erziehen. Diese ideologischen Differenzen und Konflikte in Bezug auf die Kinder- und Jugendarbeit in ihrem jeweiligen historischen Kontext gilt es noch zu erarbeiten.

Auch das letzte Kapitel „Zuwanderung aus der ehemaligen UdSSR, Ausdifferenzierung, Verstaatlichung, Medienwandel (1989–2019)“ mit seinen knapp 50 Seiten kann als Pionierleistung für weitere Forschungen verstanden werden. In der Tat stellte die Zuwanderung von Juden aus den ehemaligen Ostblockstaaten ab den frühen 1990er-Jahren die jüdischen Institutionen vor Herausforderungen in Bezug auf die Vermittlung von Bildung an Kinder und Jugendliche, die sich unter anderem in sprachlichen, kulturellen und religiösen Unterschieden Ausdruck verschafften. Den Institutionen kam nicht selten eine Integrationsfunktion zu, wie Springborn dies am Beispiel der Jugendzentren und der jüdischen Schule in Frankfurt veranschaulicht.

Zusammengefasst bietet Springborns Beschäftigung mit der kleinen Gruppe der Kinder der jüdischen Bevölkerungsminderheit viele aufschlussreiche und durchaus auch neue Erkenntnisse der innerjüdischen Entwicklungen in Deutschland. In weiteren Studien ließe sich dieses hier erstmals systematisch aufbereitete Wissen unter konsequenter Berücksichtigung entsprechender historischer Zusammenhänge und Diskurse vertiefen. An der Lektüre von Springborns materialreicher Darstellung zu „jüdischer Kinder- und Jugendbildung nach 1945“ kommen diese künftigen Arbeiten aber sicherlich nicht vorbei.

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