L. Stoer: Geometria et perspectiva: Corpora regulata et irregulata

Cover
Titel
Geometria et perspectiva. Corpora regulata et irregulata


Autor(en)
Stoer, Lorenz
Reihe
Meisterwerke der Buchillustration
Erschienen
Anzahl Seiten
1 CD-ROM
Preis
€ 88,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kristine Greßhöner, Historisches Institut, Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Paderborn

Die Strenge und Regelmäßigkeit der Linien und Flächen konfligiert mit dem Eindruck der Verspieltheit, visuell jedoch wirklich reizend: Die hier anzuzeigende digitale Edition der Handschrift Cim 103 aus dem Bestand der Münchner Zimelien stellt eine qualitativ wie quantitativ überzeugende Einladung dar, die Dreidimensionalität und Musterhaftigkeit geometrischer Körper zu betrachten und sich kritisch mit ihrer Entstehung und Gestaltung zu befassen.

Die Inhalte der CD-ROM sind in einem interaktiven PDF-Dokument aufzurufen, die Benutzung ist selbsterklärend: Die Startseite enthält Links zur Einleitung von Wolfgang Müller und dem Essay von Christopher S. Wood sowie zur ersten von vier Übersichtsseiten, auf denen die einzelnen Bilddateien als Miniaturvorschauen zu sehen sind. Außer den 336 Blättern finden sich gescannte Abbildungen beider Buchdeckel sowie ein Vergleichsscan mit angelegtem Maßband. Die Auflösung der Scans erlaubt es, bis zum Zoomfaktor 400% kaum Pixel wahrzunehmen.

Die 454 Federzeichnungen stammen von Lorenz Stoer (auch: Stöer), einem zunächst in Nürnberg, dann in Augsburg ansässigen Künstler aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Bis zur Wiederentdeckung dieses umfangreichen Corpus fand vor allem eine Sammlung von elf Holzschnitten von 1567 Beachtung. Diese sind ebenfalls als Geometria et perspectiva betitelt und dienten wohl als Muster für Einlegearbeiten von Kunstschreinern.1

Im Kontrast zu den dort dargestellten Ruinenlandschaften mit Rollwerkornamentik und Pflanzen, in welchen unter anderem Prismen, Pyramiden und Platonische Körper dicht neben- und übereinander stehen, wirken viele Blätter der Handschrift Cim 103 deutlicher auf einzelne Polyeder fokussiert und überraschen mit einer kräftigen Kolorierung. Zudem sind zahlreiche geometrische Körper weitaus komplexer gestaltet als jene auf den Holzschnitten. Ein Unterschied in der gestalterischen Ausformung ist erkennbar. Dies ist ein Indiz dafür, dass nicht alle von Stoers Zeichnungen als Vorlagen für Intarsien gedient haben, sondern vielmehr um ihrer Ästhetik willen als Sammelbild entstanden, wie die Kunsthistorikerin Dorothea Pfaff in einer ersten Qualifikationsarbeit zu dieser Handschrift hervorgehoben hat.2

In seiner Einleitung (S. 1-13) stimmt Wolfgang Müller dieser These zu und spricht von „ungewohnten Formen und dekorativen Arrangements“ (S. 13). Seine Beschreibung der Handschrift konzentriert sich auf wesentliche Indizien, beispielsweise die auf den Scans nicht sichtbaren, unterschiedlichen Wasserzeichen der Blätter. Die Datierungen aus den Jahren 1562, 1564, 1584 und 1599 belegen, dass die Reihenfolge der Seiten keiner chronologischen Ordnung entspricht. Auffällig sei die Vierteilung des gebundenen Buches durch jeweils zwei leere Trennblätter: Sind im ersten Teil (Blatt 1-139) mit dem Titel Die Funff Corpora Regularia, auff/Viel vnd Mancherley/Arth vnd Weis zerschnitten Platonische Körper abgebildet, also Tetraeder, Hexaeder, Oktaeder, Dodekaeder, Ikosaeder und schließlich Variationen derselben, zeigen die Blätter 220 bis 245 stattdessen Ringe und Kränze, um nur ein Beispiel zu nennen.

Müller listet weitere Zeichnungen und Holzschnitte auf, die Stoer zugeschrieben werden und die sich heute unter anderem in Bibliotheken in Erlangen, Wolfenbüttel und Augsburg befinden. Die Intention wird deutlich: Das nun aufgefundene Werk Lorenz Stoers möge neu bewertet werden, da die bislang häufiger überlieferten Ruinenlandschaften anscheinend nicht den Schwerpunkt seines Schaffens bildeten.

Der zweite Textbeitrag „The Perspective Treatise in Ruins: Lorenz Stoer, Geometria et perspectiva, 1567“3 von Christopher S. Wood (neu nummeriert, 1-18) setzt Stoers Wirken in Relation zu jenem Albrecht Dürers oder Wenzel Jamnitzers. Nach Dürers Ableben seien vermehrt Handbücher zu Perspektive und Proportionen erschienen, zum Beispiel 1571 die Perspectiva des Goldschmieds Hans Lencker, sowie Alben, die kaum Texte, vielmehr Abbildungen enthielten. Von der Wirkung seiner eigenen Publikation sei Stoer enttäuscht gewesen, so Wood, bereits der Spruch auf dem Holzschnitt von 1567 weise darauf hin: Wer woltt Da jederman Recht thon/Kainer Würt sichs auch underston (S. 10). Er habe sich nicht merklich gegen die Konkurrenz durchsetzen können: „It must be conceded that Stoers’ woodcuts had no perceptible echo in the works of other painters.“ (S. 11) Die vorliegende Edition setzt nun ein Fragezeichen, ob dieses Urteil auch auf die Federzeichnungen zutrifft.

Der Essay von Christopher S. Wood ist Anregung und kritischer Kommentar zugleich. Obgleich er sich an dieser Stelle nur am Rande mit den über 400 Zeichnungen beschäftigen kann und sein Text aus urheberrechtlichen Gründen ohne Abbildungen auskommen muss, verlangen Woods Thesen eine tiefer- und weitergehende Auseinandersetzung mit der hier digitalisierten Handschrift Cim 103 sowie der Person Lorenz Stoers.

Anmerkungen:
1 Lorenz Stöer, Geometria et perspectiva. Reprint herausgegeben von Eberhard Fiebig, Frankfurt am Main 1972. Siehe die Scans auf der Website von Professor Hebisch, Mathematisches Institut der TU Freiberg: <http://www.mathe.tu-freiberg.de/~hebisch/cafe/stoer/geometria.html> (20.09.2010).
2 Vgl. Dorothea Pfaff, Lorentz Stöer. Geometria et Perspectiva. Magisterarbeit, LMU München 1996, S. 75, online als pdf verfügbar: <http://epub.ub.uni-muenchen.de/702/1/Pfaff_Dorothea_text.pdf> (20.09.2010).
3 Zuerst erschienen in: Lyle Massey (Hrsg.), The Treatise on Perspective. Published and Unpublished, Washington 2003, S. 235-257.

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