A. Hofmeister: Selbstorganisation und Bürgerlichkeit

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Titel
Selbstorganisation und Bürgerlichkeit. Jüdisches Vereinswesen in Odessa um 1900


Autor(en)
Hofmeister, Alexis
Reihe
Schriften des Simon-Dubnow-Instituts 8
Erschienen
Göttingen 2007: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
285 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin Susanne Jobst, Universität Salzburg

Das erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts gegründete Odessa wurde schnell nicht nur zum Motor des russischen Schwarzmeerhandels und der gesamten Ökonomie des Nowaja Rossija (Neurussland) genannten Gebiets, sondern unterschied sich mit seiner vielgestaltigen Multiethnizität und Multireligiosität auch deutlich von den meisten Städten Zentralrusslands. Die Stadt galt schon Zeitgenossen oft als ein Hort der Freiheit – die diesen Umstand je nach Standpunkt positiv oder negativ werteten. Grund dafür war zum einen die Tatsache, dass der Grad der bäuerlichen Freiheit größer war als im nördlichen Russland; zum anderen galten die sonst im Zarenreich üblichen Standesunterschiede dort weniger, was für Neugründungen von Kolonien oft entscheidend war. Odessa war und ist ein Faszinosum, was sich etwa daran zeigt, dass auch deutsche Osteuropahistorikerinnen und -historiker sich wiederholt des Themas angenommen haben.1

In seiner an der Universität zu Köln entstandenen Dissertationsschrift widmet sich Alexis Hofmeister dem jüdischen Vereinswesen zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Konkret geht es ihm in Anlehnung und Erweiterung des von Maurice Agulhon geprägten Begriffs um „sociabilité“, der mit „Geselligkeit“ nur unzureichend übersetzt wäre. Vielmehr betrifft die Soziabilität „alle sozialen Interaktionen, die sich in dem weiten Feld zwischen Familie und Staat abspielen“ und die „je nach Lebenszeitraum, Alter, Geschlecht, Schicht und Religion“ der jeweiligen Akteure variieren (S. 20). Im Hinblick auf die jüdische Gesellschaft in diesem Zentrum an der südrussischen Peripherie geht der Autor von zwei Voraussetzungen aus: Erstens war Odessa neben der Hauptstadt an der Njewa das literarische Zentrum des aufgeklärten Judentums im Russländischen Reich, zweitens, so eine zentrale Prämisse, war das jüdische Vereinswesen dort nicht nur ein Phänomen der jüdischen Soziabilität in der Moderne überhaupt, sondern habe zudem zum „jüdischen, partiell auch zum israelischen nation-building“ beigetragen (S. 15).

Dafür spricht nicht nur Odessas Bedeutung bei der Ausformung eines auch über die Grenzen des Imperiums hinausgehenden Kommunikationsnetzes, das bekanntlich bei Nationsbildungsprozessen eine wichtige Rolle spielt. Auch der Umstand, dass wichtige Akteure der verschiedenen Spielarten eines jüdischen Nationalismus (zu nennen sind z.B. Leon Pinsker, Simon Dubnow oder Chaim Weizmann) zumindest zeitweilig mit Odessa verbunden waren, spricht dafür.

Nach einführenden Kapiteln über das jüdische Vereinswesen in Odessa seit der Jahrhundertmitte im Allgemeinen und über die Besonderheiten der Stadt als Neugründung widmet sich Hofmeister der formalisierten Soziabilität im Wesentlichen am Beispiel von drei Vereinen, die unterschiedliche Optionen eines russisch-jüdischen Wegs in die Moderne aufzeigen. Der „Selbsthilfeverein der jüdischen Handlungsgehilfen Odessas“ (OVP) hatte sich primär die Förderung der sozialen Mobilität der dortigen Juden zum Ziel gesetzt. Die örtliche Sektion der „Vereinigung zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden in Russland“ (OPE) sah in der Volksbildung, vor allem im Ausbau des Elementarschulwesens, ihre zentrale Aufgabe. Beide Vereine wurden in den 1860er-Jahren gegründet. Sie entstanden also zu einem Zeitpunkt, als im Zusammenhang mit den Großen Reformen auch russische Juden Hoffnung auf Emanzipation hegten. Dies war eine Hoffnung, die sich nur unzulänglich erfüllen sollte, so dass diesen Vereinigungen somit längerfristig eine weitaus größere politische Bedeutung zukommen sollte, als ihre Gründer vermutlich intendiert hatten. Zentrale Inhalte wurden nämlich im Russländischen Reich nicht – anders als in Teilen des westlichen Europas der Zeit – auf genuin politischen Foren debattiert, sondern innerhalb von Vereinen.

Der Weg zum sozialen Aufstieg und zur Gleichstellung sollte, so lautete die Überzeugung großer Teile des in Vereinen aktiven odessitischen Judentums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, über eine auch russischsprachige Bildung erfolgen. Die die jüdische Bevölkerung Odessas ebenfalls stark in Mitleidenschaft ziehenden Pogrome der Jahre 1871 und 1881/1882 bedeuteten dann, so ein Ergebnis Hofmeisters, auch in der Stadt am Schwarzen Meer eine tiefgreifende Zäsur und führten zu einer Diskussion darüber, was jüdische Identität ‚eigentlich’ ausmachte, ob sie sich religiös, kulturell oder national fassen ließe. Der 1890 gegründete „Hilfsverein für die jüdischen Landarbeiter und Handwerker in Syrien und Palästina“ (OVZ) war ein Ergebnis dieser Auseinandersetzung und „bereicherte das jüdische Vereinswesen der Stadt um eine nationale Komponente“ (S. 231).

Das Wirken der drei genannten Vereinigungen wird in großer Ausführlichkeit in einen größeren Kontext gesetzt. So wird etwa die Lage jüdischer Handlungsgehilfen und Angestellten im Zarenreich ausführlich beleuchtet und die herausragenden Handlungsträger biographisch und im Spiegel der innerjüdischen Debatten vorgestellt. Dabei wird deutlich, dass es insbesondere in der Nachpogromzeit zu Auseinandersetzungen kam, die auch generationell bedingt waren: Insbesondere das Beharren der älteren Generation der Gründerväter an der russischsprachigen, liberalen Ausrichtung führte zu Konflikten mit den Jüngeren. Hofmeister interpretiert dies dahingehend, dass die nationale Option im jüdischen Vereinswesen bereits relativ früh angelegt war. Zumindest in Bezug auf das OPE lässt die Quellenlage auch einige Äußerungen zum Anteil von Frauen am Vereinsleben zu: Der Organisationsgrad war, so ein Ergebnis, relativ geringer als das praktische Engagement jüdischer Frauen, welche sich sowohl als Köchinnen als auch als Mäzeninnen in das Vereinsleben einbrachten. Die Domäne der Letzteren war dabei – wie auch in christlichen Pendants – vor allen Dingen die Wohltätigkeit.

Es ist zu konstatieren, dass die innerjüdischen Verbindungen, und zwar sowohl innerhalb Russlands als auch Europas, in dieser Arbeit stringent herausgearbeitet werden. Damit liegt also weit mehr als eine traditionelle Vereinsgeschichte vor. Zu kurz kommt hingegen eine Einbindung in den innerstädtischen – eben auch nichtjüdischen – Kontext. Wie gestaltete sich z.B. die Kommunikation zwischen jüdischen und nichtjüdischen Vereinen gleicher oder ähnlicher Ausrichtung? Wie waren die Handlungsträger mit dem nichtjüdischen Umfeld vernetzt? Derlei Fragen bleiben in dieser Arbeit weitgehend unbeantwortet, so dass fast der Eindruck entsteht, die jüdisch-säkularen Vergesellschaftungsprozesse wären weitgehend isoliert von der äußeren, nicht-jüdischen Welt abgelaufen. Damit wird das als theoretische Richtschnur gewählte Konzept der Soziabilität eher eindimensional angewandt.

Neben den drei oben ausführlicher behandelten Vereinen widmet sich Hofmeister jüdischen Sportvereinen: der „Vereinigung zum Schutz der Gesundheit der jüdischen Bevölkerung“ und dem Sportklub „Makkabi“. Das so vielversprechend genannte Kapitel (einen zentralen Terminus von Leon Pinsker aufgreifend) „Autoemanzipation durch Muskelkraft“ enttäuscht jedoch. Durchaus interessante Ausführungen über Hygiene- und Körperdiskurse in jüdischen und nichtjüdischen Kontexten, europäisch-jüdische Turnbewegungen und die Entwicklung der sportlichen Körperkultur im Zarenreich, inklusive des Fußballs und des Alpinismus, der in Odessa seinen allerdings nicht spezifisch jüdischen Nukleus hatte, leiten das Kapitel ein. Für „Jahns (jüdische) Jünger und moderne Makkabäer“ in Odessa selbst bleiben dann leider nur knappe zwei Seiten. Hofmeisters Hinweis auf eine spärliche Quellenlage mag stimmen – was allerdings für den russländischen Sport insgesamt mit Sicherheit nicht gilt –, es ist allerdings zu fragen, warum dann nicht auf ein eigenständiges Kapitel verzichtet wurde.

Ein letzter Kritikpunkt sei noch erwähnt: In der deutschsprachigen historischen Osteuropaforschung hat sich mittlerweile die sprachlich korrekte Bezeichnung „Russländisches Reich“ (Rossijskaja Imperija) statt „Russisches Reich“ durchgesetzt. Im vorliegenden Werk wurde dies leider nicht übernommen. Dennoch ist diese Arbeit insgesamt gelungen. Sie erweitert den Forschungsstand und ist auch sprachlich sehr ansprechend.

Anmerkung:
1 Penter, Tanja, Odessa 1917. Revolution an der Peripherie, Köln u.a. 2000; Hausmann, Guido, Universität und städtische Gesellschaft 1865-1917. Soziale und nationale Selbstorganisation an der Peripherie des Zarenreiches, Stuttgart 1998.

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