D. Schauz u.a. (Hrsg.): Kriminalpolitik

Titel
Verbrecher im Visier der Experten. Kriminalpolitik zwischen Wissenschaft und Praxis im 19. und frühen 20. Jahrhundert


Herausgeber
Schauz, Désirée; Freitag, Sabine
Reihe
Wissenschaft, Politik und Gesellschaft 2
Erschienen
Stuttgart 2007: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
334 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina Vanja, Universität Kassel, Landeswohlfahrtsverband Hessen

Während sich sozialgeschichtlich orientierte Frühneuzeithistoriker/innen bereits seit rund zwei Jahrzehnten mit der Geschichte von Außenseitertum und Kriminalität beschäftigen, stellte, vor allem im deutschsprachigen Bereich, die Kriminalpolitik der „Moderne“ – trotz der Pionierarbeit von Dirk Blasius aus dem Jahre 19761 – bis in die jüngste Zeit hinein ein Forschungsdesiderat dar. Diese Situation verändert sich im Augenblick gründlich. Auf zahlreichen Tagungen wird intensiv über Fragen der Delinquenz, der Strafverfolgung und des Strafvollzugs diskutiert; jedes Jahr erscheinen mehrere umfangreiche Dissertationen und Habilitationsschriften zum Thema. Diese Studien profitieren dabei deutlich von der inzwischen erfolgten Öffnung der Geschichtswissenschaften für Anregungen der vielfältigen theoretischen Konzepte zur Gesellschaftsgeschichte, darunter nicht zuletzt die einschlägigen „Klassiker“ von Michel Foucault.

Der vorliegende Sammelband reiht sich in diese innovativen Unternehmungen ein. Die Beiträge gehen auf einen im März 2005 in Köln veranstalteten und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützten Workshop zurück. Die These von der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Lutz Raphael), die Silviana Gallas inzwischen zutreffend zur „Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung“2 relativiert hat, steht für das Kernthema dieses Bandes Pate: die „Verwissenschaftlichung des Kriminellen bzw. der Kriminalpolitik“.

In ihrer Einleitung führen die beiden Herausgeberinnen, die Münchner Historikerin Désirée Schauz und die Kölner Historikerin und Englandexpertin Sabine Freitag, kenntnisreich in die Komplexität des Themas ein und benennen dabei deutlich die „Baustellen“, auf denen sie mit ihrem Tagungsprojekt zumindest ein Stück weit vorankommen wollten: Die Erfassung der Heterogenität und Pluralität der Kriminalitätsdebatten; die genauere Analyse des Verwissenschaftlichungsprozesses mit der wechselseitigen Beziehung zur Gesellschaftsgeschichte; schließlich die Fragen nach dem (internationalen) Wissenstransfer und Internalisierungsprozessen (S. 24f.).

Die Beiträge sind drei Schwerpunkten zugeordnet: Zunächst geht es um die kriminalpolitischen Expertenforen und ihr Personal. Im zweiten Teil sind Studien zum kriminologischen Wissen „zwischen Alltagserfahrung, wissenschaftlichem Anspruch und politischer Strategie“ versammelt. Der dritte Teil des Bandes zielt auf das Verhältnis von Expertenwissen und Strafpraxis.

Im ersten Beitrag zeigt Lars Hendrik Riemer auf, dass leitende Strafanstaltsbeamte im Gefängnisreformdiskurs des 19. Jahrhunderts trotz der wachsenden Bedeutung von „Theorie“ durch ihren exklusiven Wissenszugang auch weiterhin eine wichtige Rolle spielten. Sie trugen insbesondere zur Überwindung der anfänglich sehr schematisch geführten Reformdebatten bei und förderten die Individualisierung von Disziplinierungsstrategien aufgrund ihrer Erfahrungen. Der Begriff „Gefängniskunde“ geht allerdings auf den Hamburger Arzt Nicolaus Heinrich Julius (1827) zurück. Martina Henze analysiert im Weiteren für einen Zeitraum von über hundert Jahren (bis 1952) die international organisierten, allerdings sehr heterogen zusammengesetzten Kongresse zum praktischen Strafvollzug. Der Austausch in Fragen der relativ kostspieligen Gefängnisreformen ergab Sinn. Die Vielfalt der sozialpolitischen (seltener kriminalbiologischen) Themen und die nationalen Unterschiede verhinderten allerdings, dass es zur Herausbildung einer eigentlichen „Gefängniskunde“ kam. Zu einem intensiven Ideenaustausch, vor allem jedoch zu „kriminalpolitischer Propaganda“ in eigener Sache, trug die „Internationale Kriminalistische Vereinigung (1889-1937)“ mit juristischer Dominanz bei, die Sylvia Kesper-Biermann vorstellt. Immerhin bewirkten diese „Juristen der modernen Schule“, dass der Strafvollzug zum Gegenstand der universitären Strafrechtswissenschaft wurde. Die drei Beiträge zeigen deutlich, dass von einer homogenen „Wissenschaft“ als Basis des Strafvollzugs im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum die Rede sein konnte.

Dennoch stellt sich die Frage, ob und welche Konzepte zumindest in Ansätzen in die Praxis einflossen. Zu den zentralen Grundbegriffen der bürgerlichen Gesellschaft zählt heute die Kategorie „Geschlecht“. Ihrer Bedeutung für den Wandel des Strafdenkens im 19. Jahrhundert geht im zweiten Teil des Tagungsbandes Karsten Uhl nach. Er sieht in der Bewertung bzw. Umwertung des Kindsmordes einen Wendepunkt im juristischen Denken. Demnach leitete, im Anschluss an den bekannten Diskurs der „Aufklärung“, die relativ milde Bestrafung unehelicher Mütter schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen Paradigmenwechsel ein. Er erfolgte jedoch weniger durch Humanisierung des Strafvollzugs als hinsichtlich der nicht sehr hoch eingeschätzten „Gefährlichkeit“ dieser „physisch schwachen“ Frauen. Dass der Weg vom Weiblichkeitsbild zur realen Beurteilung weiblicher Strafgefangener dennoch keineswegs linear verlief, zeigt anschließend Thomas Kailer. Er analysiert Untersuchungsakten der bayerischen kriminalbiologischen Forschungsstelle der Jahre 1923-1945. Ihre Arbeit sollte der Reform des Strafvollzugs mit dem Ziel der „Besserung“ der Sträflinge dienen, nutzte bald jedoch insbesondere der rassebiologischen Erfassung: Die kriminalbiologischen Fragebögen fielen, entgegen den Erwartungen des Autors, weitgehend geschlechtsneutral aus. Erst die vorgenommenen Beurteilungen (das „doing gender“) mit sittlich-moralischen und medizinischen Indikatoren schufen die Geschlechtsspezifik. Dass selbst Laien erfolgreich dem Siegeszug der kriminalbiologischen Wissenschaften entgegentreten konnten, macht Sabine Freitag für England deutlich. Dort bestand eine bedeutsame philanthropische Tradition, die konsequent an der Fürsorge für Straffällige als Opfer sozialer bzw. lebensgeschichtlicher Schicksalsschläge festhielt. Der für England charakteristische Einfluss von Laien auf Gerichtsverfahren trug überdies dazu bei, dass hier, anders als in Deutschland, die soziale Sichtweise von Straffälligkeit bedeutsam blieb. Auf das Eigenleben von Kriminalstatistiken in Deutschland verweist im letzten Beitrag dieses Abschnitts dagegen Andreas Fleiter: Mit Hilfe von Berechnungen nämlich wurden hier soziale und individuelle Risiken konstruiert, statt die hohen Rückfallquoten detailliert zu analysieren. Die Erfolglosigkeit des Strafvollzugs schien vor allem durch die „Veranlagung“ zum Verbrechertum genügend begründet, und die Statistiken legitimierten zugleich „wissenschaftlich“ Sicherungsstrategien zum vermeintlichen Schutz der Gesellschaft.

Der dritte Teil des Bandes wird durch eine Studie von Falk Bretschneider zu Sachsen eingeleitet. Er analysiert die dortigen Zuchthäuser und Gefängnisse mit dem Konzept der „Gefängnis-Klinik“: Verbrecher wurden als „moralisch Kranke“ betrachtet, die im Strafvollzug „genesen“ sollten. Wie in psychiatrischen Einrichtungen galt es, Insassen „mit ärztlichem Blick“ zu beobachten. Der Ansatz scheiterte jedoch an den Realitäten: Die alten Schlossgebäude ließen die gewünschte Differenzierung der Sträflinge nicht zu, und das Aufsichtspersonal war zu unqualifiziert und uninteressiert, um Beobachtungen vorzunehmen. Diese Grenzen der „Medikalisierung“ verdeutlicht gleichermaßen Sandra Leukel in ihrem Beitrag zur badischen „Weiberstrafanstalt Bruchsal“ (1838). Lange Zeit gab es kein spezifisches „Besserungsprogramm“ für weibliche Gefangene. Anders als männliche Gefangene waren die Frauen in Bruchsal zwar widerständig, sie begannen jedoch keine offenen Revolten und „besserten“ sich gelegentlich tatsächlich. Für das Verhältnis der konfessionellen Straffälligenfürsorge in Deutschland zu kriminologischen Debatten betont Désirée Schauz im anschließenden Beitrag, dass medizinisch-psychiatrische Denkmuster nur partiell (zum Beispiel „geistige Minderwertigkeit“) übernommen und mit traditionellen sittlichen Kategorien verschränkt wurden. Die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft in Düsseldorf (1826) entwickelte vor allem in den Bereichen „Alkoholismus“ und „Prostitution“ eigene eher erzieherische als medizinische Tätigkeitsschwerpunkte. Aufgrund der psychiatrischen Begutachtungspraxis im Schweizer Kanton Bern geht im Weiteren Urs Germann der Frage nach, warum „psychiatrische Deutungsmacht“ bei justiziellen Entscheidungsprozessen am Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend gefragt war. Angesichts des neuen „wissenschaftlichen“ Anspruchs unterstützten psychiatrische Gutachten, die überdies für die Juristen hilfreich in Form von Fallgeschichten gehalten waren, die Verfahrenssicherheit. Gleichzeitig stellten die Mediziner allerdings nicht nur den geistigen Zustand zur Tatzeit fest, sondern trafen auch Aussagen über die zukünftige „Gefährlichkeit“ der Delinquenten. Um Konstruktion geht es schließlich auch im letzten Beitrag des Sammelbandes von Jens Jäger. Er stellt für die Jahre 1880-1930 die Tätigkeit der Internationalen Polizeikooperation vor, welche das Konzept des „internationalen Verbrechens“ begründete. Bezeichnenderweise galten die international tätigen Kriminellen entgegen dem allgemeinen Trend der Kriminologie nicht als „geistig minderwertig“.

Von einer Tagung zu einem derart neuen Forschungsbereich ist Vollständigkeit nicht zu erwarten. Bei allen Beiträgen handelt es sich zudem um laufende oder erst gerade abgeschlossene akademische Studien (zumeist um Dissertationen), die, das liegt in der Natur von Gesellenstücken, spezifische Quellengattungen bzw. regional ausgerichtete Archivbestände zum Gegenstand haben. Auf diesem Hintergrund sind die gute Lesbarkeit der Beiträge, die gelungene Einordnung der Themen in die Forschungslandschaft und die jeweils stringente Argumentation beachtenswert. Die Lektüre lohnt nicht zuletzt, weil man auf hohem Niveau an der laufenden Forschung partizipiert. Natürlich bleiben Wünsche offen. Zu einer differenzierteren Sichtweise könnte der Austausch mit Frühneuzeithistorikern führen. Denn was im 19. Jahrhundert neu erscheint, ist es häufig nur in der Selbstdarstellung der „modernen“ Kriminologen und Mediziner. Bereits in der älteren Humoralpathologie spielten sowohl der Lebenswandel von Straftätern als auch deren „Temperament“, das auf mögliche „Gefahren“ verwies, eine Rolle. Cesare Lombroso konnte in „L’Uomo Delinquente“ (1876) an diese Traditionen mit neuen Inhalten anknüpfen, die Folgen waren im „Anstaltsstaat“ allerdings für viele der „modernen“ Menschen dramatisch. Vorsicht geboten ist ebenso beim Genre der Anstaltsberichte mit ihren wiederkehrenden abfälligen Darstellungsmustern.3 Wünschenswert wäre bei zukünftigen Projekten die Einbeziehung weiterer Institutionstypen für „Verbrecher“: die zahlreichen Korrektionsanstalten, die noch bis in die 1960er-Jahre der „Besserung“ dienen sollten, und die „Festen Häuser“ der Heil- und Pflegeanstalten, wo medizinische Expertise unmittelbar hätte wirken können. Ein weites Feld bleibt schließlich auch die Geschichte der „Kriminellen“ und ihrer Selbstzeugnisse, ein Thema, das in diesem Band nur punktuell berührt wird (zum Beispiel bei Sandra Leukel). Alle zuletzt gemachten Anmerkungen sollen die Bedeutung dieses Sammelbandes keineswegs infrage stellen. Dem Buch ist ganz im Gegenteil eine breite Leserschaft auch über die Kriminalgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Blasius, Dirk, Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität. Zur Sozialgeschichte Preußens im Vormärz, Göttingen 1976.
2 Galassi, Silbianna, Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung, Stuttgart 2004.
3 Vanja, Christina, Nur „finstere und unsaubere Clostergänge“? Die hessischen Hohen Hospitäler in der Kritik reisender Aufklärer, in: Fangerau, Heiner; Nolte, Karen (Hrsg.), „Moderne“ Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert - Legitimation und Kritik (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 26), Stuttgart 2006, S. 23-42.