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Titel
Fremde Körper. Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen


Herausgeber
Gernig, Kerstin
Anzahl Seiten
412 S.
Preis
DM 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maren Möhring, Graduiertenkolleg "Geschlechterdifferenz & Literatur", Ludwig-Maximilians-Universität München

Der von Kerstin Gernig herausgegebene Sammelband „Fremde Körper. Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen“ geht auf eine gleichnamige Ringvorlesung an der Freien Universität Berlin zurück, die im Rahmen des Graduiertenkollegs „Körper-Inszenierungen“ im Sommersemester 2000 veranstaltet worden ist. Die Beiträge thematisieren das „Verhältnis des Eigenen und des Fremden im Fokus der Wahrnehmung des fremden Körpers aus europäischer Sicht“, wie Gernig in ihrer Einleitung herausstellt. Ausgehend von der These, daß gerade die Darstellungen außereuropäischer Körper „genuin europäische Wahrnehmungsweisen und Wertmuster spiegeln“, versucht der Band, „die eigene Kultur aus einer sozusagen dezentrierten Perspektive neu zu beleuchten“ (13-15). Der Körper wird dabei als ein – anderen kulturellen Zeugnissen vergleichbares – Medium begriffen, als ein „System von Zeichen“ und damit nicht als etwas Ahistorisches, als etwas „wie auch immer definiertes Festes und Substantielles“, wie Gert Mattenklott in seinem Vorwort die zugrundeliegenden körpertheoretischen Prämissen formuliert. Dabei findet die radikale Historisierung allerdings eine Grenze in der Annahme eines „archaische(n) Grundmuster(s)“, das in der Stigmatisierung des fremden Körpers im Akt der kulturellen Identitätsbildung bestehe (so Mattenklott (7-8)), oder einer „anthropologische(n) Grunderfahrung“ von Fremdheit in der Auseinandersetzung mit dem Unbekannten (so Gernig (15)). Innerhalb dieses Spannungsfeldes, das für die historische Anthropologie – bereits vom Begriff her – charakteristisch ist 1, bewegen sich die einzelnen Aufsätze des Sammelbandes.

Als ein historisch- bzw. kulturanthropologischer Beitrag ist die Anthologie interdisziplinär ausgerichtet, mit einem Schwerpunkt in den Literaturwissenschaften. Untersucht werden narrative und ikonographische Inszenierungen des fremden Körpers vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Entsprechend zählen zu den Quellen nicht nur Texte wie Reiseberichte, ethnographische Schriften und Romane, sondern auch bildliche Darstellungen ‚fremder‘ Körper in Holzschnitten, Gemälden und Photographien, mit denen der Band reich illustriert ist. Ein Schwerpunkt liegt auf der überseeischen Expansion Europas, so in Ronald Daus‘ und Manfred Pfisters Untersuchungen portugiesischer bzw. englischer Reiseberichte der Frühen Neuzeit. Das Themenspektrum reicht von der europäischen Wahrnehmung indischer Asketen vom Mittelalter bis heute (Axel Michaels) bis hin zu innereuropäischen Fremdheitserfahrungen, wie sie in Hugo von Hofmannsthals Rezeption des Tanzes der Ruth St. Denis thematisch werden (Rolf-Peter Janz). Den Abschluß des Bandes bildet Mattenklotts Auseinandersetzung mit Claude Lévi-Strauss‘ „Traurigen Tropen“, die er als die zentrale Reflexion über die Ethnologie als Form von Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert begreift (357).

Der geographische, zeitliche und thematische Rahmen der Anthologie ist also weit gespannt. Eine der Gemeinsamkeiten der Beiträge liegt darin, daß sie dem Bildmedium für eine (Re-) Konstruktion europäischen Wahrnehmungsweisen des Fremden eine besondere Bedeutung einräumen. Karl-Heinz Kohl etwa demonstriert anhand von Illustrationen aus Südsee-Reiseberichten des 18. und 19. Jahrhunderts einen ikonographischen Paradigmenwechsel von dem - im Rahmen europäischer Zivilisationskritik entworfenen – „Edlen Wilden“ hin zur evolutionstheoretischen Konstruktion des „Primitiven“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dem komplexen Verhältnis rassistischer und sexistischer Körperdarstellungen geht v.a. Karin Hörner in ihrem Beitrag über die exotistischen und keineswegs einheitlichen Bilder von Haremsfrauen im 18. und 19. Jahrhundert nach und macht auf diese Weise die Heterogenität des orientalistischen Diskurses sichtbar. Daß es je nach sozialer Gruppe unterschiedliche Inszenierungen des Fremden gegeben hat, stellt Ingrid Schuster in ihrer Untersuchung bildlicher Darstellungen von Chinesen (und JapanerInnen) im 19. und frühen 20. Jahrhundert heraus. Während Jesuiten Konfuzius und Kaufleute den Kaiser von China zur Symbolfigur ‚des Chinesen‘ gemacht hätten, habe der Adel exotistische Idealisierungen bevorzugt, wie sie die Chinoiserien prägten. Die Darstellung Chinas ist auch das Thema von Volker Mertens, der unterschiedliche Reiseberichte des 13.-17. Jahrhunderts auf die durch das jeweilige Genre vorgegebenen Selektionen hin untersucht und dabei auch auf die Eigenart des Bildmediums „Buchillustration“ zu sprechen kommt (36).

Diese in vielen der Beiträge angestellten Überlegungen zu den „medial differenten Aussagen“ von Text und Bild (so Hörner (179)) und ihren intermedialen Verweiszusammenhängen sind methodisch besonders aufschlußreich. Sibylle Benninghoff-Lühl etwa beschäftigt sich in ihrer Untersuchung des Motivs der Drei Grazien, das im Lebenden Bild nachgestellt und in der anthropologischen und ethnologischen Photographie um 1900 festgehalten wurde, nicht nur mit der Verwobenheit von künstlerischer und medizinisch-anthropologischer Wahrnehmung, sondern auch mit der „Verschachtelung“ der Medien, die sie über das Konzept des „visuellen Zitats“ beschreibt (243). Die Einordnung fremder Körper in kulturhistorisch bekannte Muster und ihre (photographische) Fest-Stellung interpretiert Benninghoff-Lühl als Versuch, „das Fremde stillzustellen und in seinen Bewegungen so anzuhalten, daß es begreifbar würde“ (250). Die Bedeutsamkeit der Photographie für die Erfassung und Klassifizierung des Fremden betont auch Gernig in ihrer Untersuchung ethnographischer Schriften um 1900. Dem Medium der Photographie wurde eine enorme Beweiskraft zugeschrieben, und es war nicht zuletzt die intermediale, wechselseitige Beglaubigung von Text und Photographie, die anthropologischen, aber auch sitten- und kulturgeschichtlichen Abhandlungen der Zeit ihre Autorität verlieh. Zu einem ähnlichen Befund kommt Michaela Holdenried, die narrative und ikonographische Inszenierungen des Kannibalen u.a. bei Hans Staden untersucht und bereits für das 16. Jahrhundert dem Bildmedium eine wichtige „Beglaubigungsfunktion“ zuspricht (131).

Neben diesen an unterschiedlichen Gegenständen erprobten, quellennahen Überlegungen zur Intermedialität eröffnen auch diejenigen Beiträge interessante neue Forschungsperspektiven, die zeitgenössische Beispiele für eine kritische Auseinandersetzung mit den kolonialen Konstruktionen des Anderen anführen. Erika Fischer-Lichte thematisiert in ihrem Beitrag die Inszenierung des Fremden in Völkerschauen und die daran anschließende experimentelle, ironische Auseinandersetzung mit dieser Inszenierungsform in der Performance „Two Undiscovered Amerindians“ von Coco Fusco und Guillermo Gómez-Pena aus dem Jahr 1992. Eine andere Art des re-writing des kolonialen Diskurses behandelt Flora Veit-Wild, die (u.a.) die Texte zeitgenössischer afrikanischer Autorinnen wie Bessie Head und Yvonne Vera daraufhin untersucht, wie sie über eine gewaltsame Sprache mit den kolonialen Einschreibungen in den Körper umgehen.

In ihrer Einleitung verortet Gernig den Sammelband im Kontext der postcolonial studies und regt eine weitere Veröffentlichung über außereuropäische Reisende und Kolonisatoren an; der vorliegende Band stelle zunächst nur die Frage nach der Vergleichbarkeit des europäischen Blicks auf verschiedene außereuropäische Kulturen (14-15). Insofern die Beiträge zeitlich wie thematisch stark divergieren, scheint mir ein systematischer Vergleich nur schwer möglich; auch die Beiträge im einzelnen bieten nur selten eine komparatistische Perspektive. Andererseits finden sich immer wieder gemeinsame Fragestellungen und vergleichbare Konzeptualisierungen der Konstruktionen des Fremden. So spielt das Moment von Differenz und Ähnlichkeit sowohl für Prozesse des „Othering“ wie der Ver-Ähnlichung eine wichtige Rolle. In dem von Daus beschriebenen „going native“ zahlreicher Portugiesen im 15. Jahrhundert (105) klingt z.B. die Frage nach der Nachahmung der ‚Entdeckten‘ durch die ‚Entdecker‘ an, die – verbunden mit Homi Bhabhas Konzept der kolonialen Mimikry 2 – eine möglicherweise spannende und die Beiträge übergreifende Perspektive böte. Auf diese Weise hätten auch die theoretischen Überlegungen nicht nur der europäischen Kulturanthropologie, sondern auch der postcolonial studies stärker berücksichtigt werden können; letztere finden lediglich in einigen Beiträgen und in der 24-seitigen Bibliographie nur am Rande Erwähnung.

Anmerkungen:
1 Aleida Assmann: Was heißt „Historische Anthropologie“?. In: Perspektiven der Forschung und ihrer Förderung. Aufgaben und Finanzierungen, 1997-2001, hg. von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Weinheim 1997, S. 93.
2 Homi K. Bhabha: Of Mimikry and Man. The Ambivalence of Colonial Discourse. In: Ders.: The Location of Culture, London/New York 1994, 85-92.

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