M. Schmeitzner (Hrsg.): Totalitarismuskritik von links

Cover
Titel
Totalitarismuskritik von links. Deutsche Diskurse im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Schmeitzner, Mike
Reihe
Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung
Erschienen
Göttingen 2007: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
405 S.
Preis
€ 42,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Nolzen, Warburg

Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die das Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, die Friedrich-Ebert-Stiftung und die Kurt-Schumacher-Gesellschaft Ende 2004 in der Evangelischen Akademie Meißen abgehalten haben. Erörtert wurden Aspekte der „Totalitarismuskritik von links“, also der Auseinandersetzung von Sozialdemokraten, Rätekommunisten und Gewerkschaftlern mit Bolschewismus, italienischem Faschismus und deutschem Nationalsozialismus. Der Schwerpunkt der Artikel liegt auf der sozialdemokratischen Kritik am bolschewistischen Politikmodell, in der die Analyse des NS-Staates weniger prominent war. Dies zeigt sich auch in der inhaltlichen Gewichtung vieler Beiträge, in denen der Nationalsozialismus, wie übrigens auch der italienische Faschismus, deutlich zurücksteht. Der Untertitel „Deutsche Diskurse“ weist auf eine weitere Begrenzung des Sammelbands hin, denn italienische, französische, russische, spanische, britische oder amerikanische Interpreten des Totalitarismus werden, mit Ausnahme des Exil-Menschewiken Alexander Schiffrin, nicht in den Blick genommen. Auch anarchistische Kritiker fehlen. Einleitend kleidet der Herausgeber Mike Schmeitzner das Erkenntnisinteresse in folgende Fragen: Wann kamen vergleichende Ansätze zu Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus auf? Gab es Spezifika linker Totalitarismuskritik? Wie veränderte sich diese aufgrund der NS-Machtübernahme? Inwieweit wurde die Erfahrung des Holocaust nach 1945 in die linke Totalitarismuskritik integriert? Welche Anknüpfungspunkte bietet diese Kritik für die heutige Forschung?

Die insgesamt 18 Beiträge sind chronologisch in drei quantitativ gleichrangige Blöcke geordnet und behandeln linke Totalitarismuskritik in der Weimarer Republik, während der NS-Diktatur und in der Nachkriegszeit bis 1989/90. Methodisch überwiegt die ideengeschichtlich-hermeneutische Textexegese, die den Nachteil besitzt, zeithistorische Kontexte eher auszublenden. Inhaltlich nehmen die ausschließlich männlichen Autoren die Totalitarismuskritik so verschiedener Männer wie Karl Kautsky, Eduard Heimann, Hermann Heller, Kurt Schumacher, Rudolf Hilferding, Curt Geyer und Ernst Reuter in ihren Blick. Als einzige Frau ist Rosa Luxemburg vertreten, die 1918/19 zwischen Bolschewismuskritik und Revolutionseuphorie schwankte. Ob man jedoch so weit gehen muss wie Werner Müller, der ihr jegliche Totalitarismuskritik abspricht, mag fraglich sein.

Einige Aufsätze befassen sich mit der wissenschaftlichen Emigration, etwa der Frankfurter Schule um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Wie Alfons Söllner präzise herausarbeitet, lehnten sie den Totalitarismusbegriff ab und entwickelten eine eigenständige Konzeption, in deren Mittelpunkt die „autoritäre Persönlichkeit“ stand. Eckhard Jesses Beitrag über Herbert Marcuses Totalitarismuskonzept sagt mehr über Vorannahmen des Verfassers als über dessen Analysegegenstand aus. Letztlich geht es Jesse darum, Marcuse (und mit ihm die gesamte Frankfurter Schule) als undemokratisch, wenn nicht gar totalitär zu desavouieren. Einen Teil des Beitrages nutzt er für eine unvermittelte Rechtfertigung seines Extremismus-Konzepts, das mit dem eigentlichen Thema wenig zu tun hat. Uwe Backes’ Ausführungen zu Ernst Fraenkels und Richard Löwenthals Wende vom Marxismus zum Antitotalitarismus, die seit Beginn der 1950er-Jahre erfolgt sei, wären überzeugender ausgefallen, hätte er Fraenkel und Löwenthal nicht im Schlusssatz unterstellt, sie seien von der „verhängnisvolle[n] Wechselwirkung der Extreme“ (S. 354) überzeugt gewesen. Zudem verwendet Backes die Begriffe „Faschismus“ und „Nationalsozialismus“ fast synonym.

Einen gleichgewichtigen Diktaturvergleich zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus erarbeiteten die Exilanten Franz Borkenau und Otto Rühle in ihren einschlägigen Schriften. Clemens Vollnhals und Mike Schmeitzner kommt das Verdienst zu, die inhaltlichen Positionen dieser beiden fast vergessenen Autoren nachgezeichnet und deren immanente Widersprüchlichkeit herausgearbeitet zu haben. Hinzuweisen ist ferner auf eine Rede des damaligen Präsidenten des Staatsrates im neu geschaffenen Land Süd-Württemberg, des Sozialdemokraten Carlo Schmid, vom Juni 1947, die der Herausgeber kommentiert und ediert hat. Darin führte Schmid unter anderem aus, dass Totalitarismus nicht unbedingt undemokratische Regierungssysteme zur Voraussetzung habe, sondern auch dort möglich sei, wo „Mehrzahl gilt“, weil die formale Demokratie die Freiheit auch verkaufen könne (S. 301). Weitere Beiträge sind zwar lesenswert, für das Thema des Bandes jedoch nicht zentral, weil sich bei den behandelten Autoren keine systematische Totalitarismuskritik finden lässt. Dies gilt für Mario Keßlers Ausführungen über den Historiker Arthur Rosenberg, Siegfried Heimanns Artikel über Ernst Reuter oder Bernd Faulenbachs Schlussaufsatz über den Antitotalitarismus der deutschen Sozialdemokratie, der zudem eher als ein politisches Statement daherkommt.

Dies verweist auf eine latente Problematik linker Totalitarismuskritik: Sie war meist tagespolitisch motiviert und kümmerte sich vergleichsweise wenig um strenge wissenschaftliche Begriffsbildung, geschweige denn um empirische Absicherung ihrer Behauptungen. Bisweilen kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, dass der vorliegende Sammelband subkutan auf eine Ehrenrettung des sozialdemokratischen Antibolschewismus abzielt, ohne dass dessen problematische Elemente einmal systematisch erörtert würden. Immerhin klingt in Michael Rudloffs Aufsatz über die Autoren im Umkreis der „Neuen Blätter für den Sozialismus“ sowie in Rainer Behrings überzeugenden Ausführungen zu Rudolf Hilferding und Curt Geyer an, dass es auch eine autoritäre Variante sozialdemokratischer Totalitarismuskritik gab. Rudloff jedoch spielt diese Komponente herunter und beurteilt die Illusion einiger Sozialdemokraten aus dem Jahr 1933, „auf ein Wirksamwerden der sozialistischen Ideen innerhalb der NSDAP zu setzen“, vergleichsweise milde (S. 114). Es wäre lohnend gewesen, das Verhältnis zwischen linker Totalitarismuskritik und Autoritarismus aufzuarbeiten, zumal auch Carl Joachim Friedrichs Totalitarismustheorie bzw. dessen notorisches Sechs-Punkte-Syndrom in letzter Konsequenz darauf abzielten, ein (autoritär verfasstes) konstitutionelles Regime zu legitimieren – nämlich die amerikanische Militärregierung in Deutschland nach 1945.1

Ohnehin vermisst man im vorliegenden Band die vielen lesenswerten Schriften, in denen sich Soziologen, Philosophen, Politikwissenschaftler und Psychoanalytiker wie Ernst Bloch, Walter Benjamin, Emil Lederer, Sigmund Neumann, Siegfried Kracauer, Hans Gerth, Rudolf Heberle, Sebastian Haffner, Norbert Elias und Alfred Sohn-Rethel mit den „modernen Diktaturen“ des 20. Jahrhunderts auseinandersetzten. Sie waren weit weniger ins politische Tagesgeschäft involviert als die zur Sozialdemokratie gehörigen Interpreten und kamen, vielleicht gerade aus diesem Grunde, zu gehaltvolleren Analysen von Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Die große Abwesende dieses Sammelbandes ist jedoch Hannah Arendt – und damit die einzige Autorin, die in Holocaust und Genozid das zentrale Charakteristikum totaler Herrschaft gesehen hat.

Die Beiträge zeigen vor allen Dingen eines: Die linke Totalitarismuskritik, und dies gilt pars pro toto auch für liberale bzw. konservative Totalitarismus-Konzepte, ist eigentlich gar nicht theoriefähig; sie liefert kein tragfähiges methodisches Fundament für historische Vergleiche moderner Diktaturen. Zu heterogen sind die jeweiligen Ansätze, zu sehr waren sie von tagespolitischen Motivationen oder von außerwissenschaftlichen Präferenzen diktiert. Es ist insofern an der Zeit, neue Konzepte des Diktaturenvergleichs zu entwickeln, die den aktuellen Theoriedebatten der Politikwissenschaften, aber auch der sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen besser entsprechen als der doch inzwischen arg verstaubte Totalitarismus-Ansatz. Die vom Herausgeber einleitend aufgeworfene Frage, ob die vorgestellten Ansätze linker Totalitarismuskritik Anknüpfungspunkte für die heutige Forschung bieten, lässt sich daher mit einem klaren Nein beantworten.

Anmerkung:
1 So jedenfalls Lietzmann, Hans J., Politikwissenschaft im „Zeitalter der Diktaturen“. Die Entwicklung der Totalitarismustheorie Carl Joachim Friedrichs, Opladen 1999, S. 231-303.

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