L. Karl (Hrsg.): Leinwand zwischen Tauwetter und Frost

Cover
Titel
Leinwand zwischen Tauwetter und Frost. Der osteuropäische Spiel- und Dokumentarfilm im Kalten Krieg


Herausgeber
Karl, Lars
Erschienen
Berlin 2007: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva Binder, Universität Innsbruck

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts avancierte der Film nicht nur zu einem allgemein anerkannten gesellschaftlichen Leitmedium, sondern konnte sich endgültig auch als künstlerisch-kreative Ausdrucksform behaupten. Die stete Verbesserung der technischen Bedingungen im Produktionsbereich, die Ausweitung der Rezeption durch das Fernsehen und eine schnell fortschreitende Ausdifferenzierung der Genres bedingten sich dabei gegenseitig. Diese Grundtendenzen gelten für das Kino in der Zeit des Kalten Krieges im Westen wie im Osten gleichermaßen und machen es zu einem interessanten und komplexen Untersuchungsgegenstand nicht nur in Bezug auf filmästhetische Fragestellungen, sondern auch als Medium, das wichtige Hinweise für gesellschaftliche und politische Orientierungen liefert, die sich im internationalen Wettbewerb der Systeme herausbildeten.

Dem breiten Feld des Zusammenwirkens von Kino, Gesellschaft und Politik während des Kalten Krieges geht auch das vorliegende Buch nach, das von Lars Karl herausgegeben wurde und den selbstredenden Titel „Leinwand zwischen Tauwetter und Frost“ trägt. Die Zeitspanne, die dabei in das Blickfeld gerückt wird, umfasst – mit unterschiedlichen Akzentsetzungen – im Wesentlichen die spätstalinistische Zeit nach 1945, das politische Tauwetter der 1950er- und 1960er-Jahre sowie die anschließende Stagnationszeit. Mit dem Gegenstandsbereich des Spiel- und Dokumentarfilms sowie mit dem Fokus auf die sozialistischen Länder Osteuropas und auf die DDR ist der Rahmen damit relativ breit gesteckt.

Die Publikation, so ist dem Vorwort zu entnehmen, stellt einen Versuch dar, „die nationalen Filmkulturen Osteuropas vor dem Hintergrund des Kalten Krieges in der Perspektive eines transnationalen Vergleichs zu analysieren“ (S. 8f.). Dabei sind vor allem Fragen von Interesse, die die Funktion des Mediums als Herrschafts- und Repräsentationsmittel betreffen und die sich mit Aspekten von Ideologie und Zensur auseinandersetzen. Die weiteren Themenbereiche, die in das Blickfeld gerückt werden, sind eine über das filmische Medium ausgetragene Kulturpolitik und „Kulturdiplomatie“ sowie die politischen und gesellschaftlichen Implikationen der internationalen Filmfestivals im Kalten Krieg. Die genannten vier Themenkomplexe entsprechen auch der Binnengliederung des Sammelbandes, der aus insgesamt 13 Aufsätzen besteht und der das Ergebnis eines internationalen Symposions am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam im Oktober 2005 darstellt.

Den einzelnen Beiträgen gemeinsam ist damit eine starke Fokussierung auf Produktions- und Rezeptionszusammenhänge sowie auf den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontext, in dem einzelne Filme oder auch Filmgenres entstanden sind und ihre Wirkung entfalteten. Kultur rückt dabei als Feld der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Konzentration auf das filmische Medium im Rahmen der zeithistorischen Osteuropa-Forschung wird vom Herausgeber vor allem damit begründet, dass dem Kino in den sozialistischen Gesellschaften eine viel stärkere gesellschaftspolitische Bedeutung als in den westlichen Ländern zukam. Die politische Führung sah im Film einerseits ein geeignetes Medium, um Botschaften „schneller, ungebrochener und gleichzeitig an größere Teile der Bevölkerung“ zu vermitteln, andererseits hegte man aber auch ein tiefes Misstrauen gegenüber dem massenkulturell einflussreichen Film, der „auch unerwünschtes Rezeptionsverhalten initiieren konnte und häufig besonders sensibel auf gesellschaftlichen Wandel und die jeweiligen politischen Kurswechsel reagierte“ (S. 8).

Die Stärke der im Band versammelten Einzelstudien liegt darin, dass sie eine differenzierte Betrachtung spezifischer Phänomene ermöglichen und die Komplexität der wirkenden Kräfte und Einflussfaktoren berücksichtigen können. Die Autor/innen, die sich auf wenige konkrete Filme oder eine stringent verfolgte Fragestellung konzentrierten, machen den Sammelband auch zu einer wertvollen Ergänzung der bisher erschienenen Arbeiten auf diesem Gebiet. Dazu gehören unter anderem der Beitrag von Günter Agde über die filmische Instrumentalisierung von Konzentrations-, Spezial- und Kriegsgefangenenlagern in Spielfilmen, die in der DDR, in Polen, der ČSSR und in der UdSSR entstanden sind, oder der Beitrag von Carola Tischler über den sowjetischen Film „Sakon“ (deutsch „Das Gesetz“), eine Auseinandersetzung mit der Problematik der Rehabilitierung von Stalin-Opfern, die der Regisseur Wladimir Naumow in der Sowjetunion nach dem Sturz Chruschtschows nicht mehr realisieren konnte. Am Ende der Perestroika-Zeit, als der Regisseur das Filmprojekt schließlich doch noch verwirklichte, fand der Film jedoch kaum Beachtung, was nach Carola Tischler als ein Indiz dafür gewertet werden kann, dass die Rehabilitierung der Stalin-Opfer in der Sowjetunion eher ein Mittel der Geschichtsverdrängung als der Geschichtsaufarbeitung darstellte.

Der Historiker Lars Jockheck fragt in seinem Beitrag über die deutsch-polnische Spielfilm-Produktion „Der 8. Wochentag“ (1957) nach den Möglichkeiten und Grenzen einer filmischen Zusammenarbeit über die politischen Systeme hinweg und arbeitet dabei die spezifischen Produktions- und Rezeptionszusammenhänge heraus. Weitaus breiter angelegt, aber dennoch fundiert ist der Beitrag von Barbara Wurm, die anhand des Walzer-Stereotyps das komplexe Zusammenwirken von filmischen Selbst- und Fremdbildern am Beispiel Österreichs herausarbeitet und im Hinblick auf die sowjetisch-österreichischen Beziehungen der Nachkriegszeit betrachtet. Mit ihrer Analyse demonstriert Barbara Wurm, wie wichtig es für eine methodisch kulturwissenschaftlich ausgerichtete Geschichtsschreibung ist, „diesen bisher als marginal betrachteten Spuren zu folgen und auf das Potenzial des ihnen zugrunde liegenden Imaginären für die politische Steuerung historischer Prozesse aufmerksam zu machen“ (S. 226).

Sowohl mit dem Schlagwort der „Kulturaußenpolitik“ als auch mit dem letzten Kapitel des Bandes, das die Rolle der internationalen Filmfestivals als Katalysatoren von filmästhetischen und gesellschaftlichen Bewegungen beleuchtet, gelingt dem Herausgeber eine Fokussierung auf bisher wenig untersuchte Themenkomplexe, die dazu beiträgt, das Bild einer bipolaren Welt monolithischer Blöcke zu relativieren und die Spielräume zu beleuchten, die die Akteure in diesen Systemen nutzen konnten. Auch im letzten Abschnitt zu den Filmfestivals zeigt sich jedoch, dass jene Einzelstudien aufschlussreich sind, die sich, wie die problemorientierte Dokumentation des Herausgebers Lars Karl, einem ausgewählten Fallbeispiel zuwenden, im konkreten Fall den Moskauer Internationalen Filmfestspielen der Jahre 1959 bis 1971.

Weit weniger aufschlussreich und eher an der Oberfläche sowie mitunter methodisch fragwürdig erscheinen dagegen jene Beiträge, in denen die jeweiligen Autor/innen versuchen, ein komplexes Feld über eine größere Zeitspanne hinweg darzulegen. In diesen Fällen hätten klarere methodische Vorgaben von Seiten des Herausgebers wohl zu einer größeren Homogenität des Bandes beitragen können. So schwierig dieses Ziel letzten Endes inhaltlich zu erreichen ist, so einfach hätten sich formale Vereinheitlichungen realisieren lassen. So verwundert es ein wenig, dass keine einheitliche und für Publikationen gängige Wiedergabe der Filmtitel – in Kapitälchen oder kursiv anstatt in Anführungszeichen – angestrebt wurde und dass man sich nicht durchgängig an die wissenschaftliche Transliteration der russischen Namen hält. Ein weiterer Redaktionsschritt, den man der Korrektur uneinheitlicher Schreibweisen und der korrekten Wiedergabe von Filmtiteln und Namen gewidmet hätte, wäre daher wünschenswert gewesen. Wenngleich auch das eingangs formulierte Ziel eines transnationalen Vergleichs der nationalen Filmkulturen Osteuropas wohl zu hoch gesteckt war, so bilden ein Großteil der in dem Sammelband vereinigten Einzelstudien eine fundierte Grundlage für das Verständnis des Kinos in den sozialistischen Ländern sowie für die komplexen Wechselwirkungen von Kino, Politik und Gesellschaft in der Zeit des Kalten Krieges.

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