J. Becker: Gemeindeordnung und Kirchenzucht

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Titel
Gemeindeordnung und Kirchenzucht. Johannes a Lascos Kirchenordnung für London (1555) und die reformierte Konfessionsbildung


Autor(en)
Becker, Judith
Reihe
Studies in medieval and reformation traditions 122
Erschienen
Anzahl Seiten
XV, 589 S.
Preis
€ 93,45
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Arend, Forschungsstelle Evangelische Kirchenordnungen, Heidelberger Akademie der Wissenschaften

Am 24. Juli 1550 wurde in London eine niederländisch- und eine französischsprachige Fremdengemeinde gegründet. Die Fremden waren Niederländer und Wallonen aus den niederländischen Erblanden Kaiser Karls V., die im Zuge des dort rigide umgesetzten Interims geflohen waren und in London Asyl gefunden hatten. Unter der Regierung Edwards VI. stand man hier der Reformation offen gegenüber. Nach dem Thronwechsel 1553 wurden die Fremden jedoch wieder aus London vertrieben, ein Großteil fand in Emden Aufnahme. Unter der Regierung Elisabeths I. kehrten 1558 einige der Ausländer nach London zurück, 1560 wurde ihnen die Gemeindebildung erneut gestattet. Für die Fremdengemeinden in London verfasste der aus Polen stammende Theologe und Reformator Johannes a Lasco (1499-1560) im Jahre 1555 eine Kirchenordnung, die „Forma ac ratio tota ecclesiastici“.

Judith Becker untersucht in ihrer 2006 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum angenommenen Dissertation die Binnenstrukturen der beiden Flüchtlingsgemeinden in London sowie derjenigen in Emden im 16. Jahrhundert. Gestützt auf normative theologische Schriften unter anderem von a Lasco (Kirchen-, Polizei- und Eheordnungen, Katechismen, Glaubensbekenntnisse) sowie auf Kirchenratsprotokolle fragt sie danach, wie a Lascos Ekklesiologie in der Praxis in den drei Gemeinden umgesetzt wurde. Schließlich arbeitet sie die in den drei Gemeinden anzutreffenden Ansätze zur Ausbildung eines reformierten Selbstverständnisses heraus.

Aufbauend auf die bisherige Forschung zu den Fremdengemeinden – vor allem Emden rückte in den letzten Jahrzehnten ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses – stellt Becker zunächst das ekklesiologische Konzept des Johannes a Lasco vor, wie es sich in seiner Kirchenordnung „Forma ac ratio“ darstellt: Der Reformator betont die Gemeinschaft der Gläubigen (coetus) und unterscheidet mit Ältesten und Diakonen zwei kirchliche Ämter. Presbyterial-synodale Elemente der Gemeindeleitung prägen seine Ekklesiologie ebenso wie die Kirchenzucht als Mittel, die Sünder zur Umkehr zu bewegen. Daneben forciert er die theologische Unterweisung der Gläubigen in verschiedenen Lehrversammlungen (prophetia). Im Anschluss an diese grundlegenden Ausführungen zu a Lascos Ekklesiologie werden die drei Gemeinden in parallel strukturierten Kapiteln hinsichtlich ihrer Geschichte, ihrer Lehrgrundlagen, der Ämterverteilung, dem Selbstverständnis der Amtsträger, der Definition der Gemeinden sowie der Durchführung der Kirchenzucht untersucht.

Die Gemeinde in Emden: Bei der Ausübung der Kirchenzucht unterschied der Emder Kirchenrat drei Arten der Gemeindezugehörigkeit: zum einen die Abendmahlsgemeinde, zum anderen die Gottesdienstgemeinde – also auch die vom Abendmahl Ausgeschlossenen – und schließlich den Kreis der von der Gemeinde Ausgeschlossenen. Im Vergleich mit den beiden Flüchtlingsgemeinden war die Interaktion zwischen Gemeinde und Obrigkeit in Emden am stärksten ausgeprägt. Dies hing auch damit zusammen, dass die Gemeinde besser in der Stadt integriert war als die Fremden in London. Die einzelnen Gläubigen wurden hingegen selten an der Leitung der Emder Gemeinde beteiligt und zeigten auch kaum Interesse daran. Obwohl Johannes a Lasco 1542 erster ostfriesischer Superintendent in Emden geworden war, findet sich in der Konzeption dieser Gemeinde nur wenig von seiner Theologie wieder. Ausschlaggebend für dieses Faktum war, dass a Lasco die Emder Gemeinde zwar gegründet hatte, dass neben ihm aber der Theologe Gellius Faber hier wirkte.

In der Niederländischen Fremdengemeinde in London unterschied man vier Arten von Gemeindezugehörigkeit: die Abendmahlsgemeinde, die vom Abendmahl Ausgeschlossenen, die von der Gemeinde Ausgeschlossenen und schließlich die Exkommunizierten. Der niederländische Kirchenrat drang – in Anlehnung an a Lascos Vorgaben – auf die theologische Bildung der Gemeinde. Katechismusunterricht und Glaubensprüfungen waren hier wichtige Institutionen zur Vermittlung theologischer Inhalte. Anders als in Emden und der Französischen Gemeinde agierte der Kirchenrat der Niederländer auch enger mit der Gesamtgemeinde zusammen. In Fragen der Kirchenzucht hielt man sich an a Lascos Richtlinien und auch in anderen Fragen der Gemeinde war man darum bemüht, seine Kirchenordnung detailliert zu befolgen. In der Niederländischen Gemeinde wurde seine Ekklesiologie somit am stärksten umgesetzt. Dies lag vornehmlich daran, dass diese Gemeinde durch Johannes a Lasco 1550 gegründet und 1560 wiederhergestellt worden war. Hier hatten sich die Gläubigen eine enge Bindung an den Gründervater bewahrt.

Die Französische Fremdengemeinde in London schließlich unterschied nur zwei Arten von Gemeindezugehörigkeit: zum einen die Abendmahlsgemeinschaft, zum anderen die Gruppe der vom Abendmahl Ausgeschlossenen. Anders als in der Niederländischen Gemeinde gab der Kirchenrat der Französischen Gemeinde kaum theologische Begründungen für seine Ausübung der Kirchenzucht. Während der niederländische Kirchenrat die Gemeinde in Entscheidungen über Kirchenzuchtmaßnahmen einbezog, hatte die Französische Gemeinde darauf keinen Einfluss. Ebenso wie in Emden finden sich hier zudem nur wenige Elemente von a Lascos Ekklesiologie wieder. Dies hängt damit zusammen, dass die Französische Fremdengemeinde 1560 von Nicolas des Gallars neu gegründet worden war; nicht a Lascos Kirchenordnung, sondern Gallars’ „Forma politiae ecclesiasticae“ war der grundlegende normative Text, nach dem das Gemeindeleben gestaltet werden sollte.

Schließlich zieht Becker ein breit angelegtes Resümee, das schließlich in eine allgemeine Charakterisierung der Reformierten mündet. Becker kann neue, bisher von der Forschung noch nicht in den Blick genommene Gesichtspunkte für die Konfessionsbildung in den reformierten Gemeinden ausmachen. Hierzu zählt, dass immer mehr Gemeinden im Laufe der Zeit auf dieselben liturgischen und katechetischen Schriften zurückgriffen. Daneben lieferten die auf Synoden und Konventen beschlossenen gemeinsamen Grundlagen sowohl für die Lehre als auch in Fragen der Kirchenzucht wichtige Elemente zur Vereinheitlichung. Die verschiedenen Lehrtexte und Kirchenordnungen der einzelnen Gemeinden verschmolzen zu einer für alle verbindlichen Norm, die das reformierte Selbstverständnis prägte.

Judith Becker hat eine klar gegliederte Studie vorgelegt, die trotz dichter Darstellung der Forschungsergebnisse sehr gut lesbar ist. Sie liefert Bausteine dafür, was in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts unter „Reformiertsein“ zu verstehen war. Die Konklusionen zur Konfessionsbildung der Reformierten (S. 556-558) hätten jedoch etwas ausführlicher dargestellt werden können. Dass Beckers Studie zur Erforschung des reformierten Selbstverständnisses und der Konfessionalisierung bereits kurz nach ihrem Erscheinen ein reges Echo gefunden hat, zeigt, dass die Arbeit 2006 mit dem Caspar-Olevian-Preis (zur Überwindung der konfessionellen Grenzen) und 2007 den J.F. Gerhard-Goeters-Preis (zur Geschichte des reformierten Protestantismus) ausgezeichnet worden ist.

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