M. Seligmann (Hrsg.): Naval Intelligence

Titel
Naval Intelligence from Germany. The Reports of the British Naval Attachés in Berlin, 1906-1914


Herausgeber
Seligmann, Matthew S.
Reihe
Navy Records Society Publications 152
Erschienen
Abingdon 2007: Ashgate
Anzahl Seiten
574 S.
Preis
£ 70.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Epkenhans, Universität Hamburg, Otto-von-Bismarck-Stiftung

Das deutsch-englische Wettrüsten vor 1914 hat Historiker von je her fasziniert und interessiert. In geradezu paradigmatischer Weise zeigte dieses die Mechanismen eines Rüstungswettlaufs auf, bei dem aus einem kalten – oder, wie es zeitgenössisch hieß, „trockenen“ – ein heißer Krieg zu werden drohte.

Nun ist dieses Wettrüsten immer wieder Gegenstand der Forschung gewesen, sind alle Quellen mehrfach gesichtet und aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert worden. Man mag fragen, ob es denn tatsächlich noch Neues zu entdecken gibt. Dies ist, wie Matthew Seligmann zeigt, tatsächlich der Fall. Mit großer Akribie hat der Dozent der University of Northampton die bisher weitgehend unbekannten Berichte der englischen Marineattachés in Berlin gesichtet und ediert.

Es ist heute eine Binsenweisheit, dass militärische „Aufklärung“ eine der wichtigsten Aufgaben bei der Beurteilung der militärischen Fähigkeiten und politischen Ziele des potentiellen Gegners ist. Da Diplomaten, insbesondere hinsichtlich der Beurteilung militärischer Technik, selten über die notwendigen Erfahrungen für ein fundiertes Urteil verfügen, war es vor allem Aufgabe der entsprechenden Attachés von Heer und Marine, den Verantwortlichen in den jeweiligen Teilstreitkräften solide Erkenntnisse zu übermitteln, auf deren Grundlage dann entsprechende politische Entscheidungen getroffen werden konnten.

Heute stützen sich Politiker und Militärs bei der Beschaffung von Nachrichten eher auf Satelliten und andere technische Hilfsmittel, seltener auf Spione im eigentlichen Sinne. Vor einhundert Jahren war dies mangels zur Verfügung stehender Technik freilich genau umgekehrt. Ohne die eigene Anschauung waren Nachrichten kaum zu beschaffen. Geheimdienstliche Berichte enthält dieser Band freilich nicht. Zwar sind „echte“ Spione in dieser Zeit entsandt worden, wie die Verhaftung zweier englischer Marineoffiziere 1910 belegt. Wie umfangreich und wie erfolgreich diese Form der Nachrichtengewinnung jedoch tatsächlich gewesen ist, ist mangels verfügbarer Quellen nicht zu sagen.

Erhalten geblieben sind freilich Teile der Berichte der englischen Marineattachés in Berlin. Da die Admiralität aufgrund einer heute kaum noch nachvollziehbaren Politik des „weeding“ 98 Prozent ihrer Bestände im Laufe der Zeit vernichtet hat, sind die von Seligmann ermittelten 500 Berichte, von denen er 222 weitgehend vollständig abgedruckt hat, ein wirklich großer „Schatz“.

Welche Informationen enthalten diese Berichte nun? Um es kurz zu machen – sie berichten ausführlich über nahezu alle Fragen, die in irgendeiner Weise Aufschluss über den Stand und die Pläne des deutschen Flottenbaus geben könnten. Von besonderem Interesse sind dabei die Gespräche zwischen den jeweiligen Attachés und dem Staatssekretär des Reichsmarineamts, Großadmiral Alfred von Tirpitz, und Kaiser Wilhelm II. Beide bemühten sich durchgängig, den deutschen Flottenbau über den Attaché als harmlos darzustellen. „He (Tirpitz) could not believe that in the Fleet Bill any thinking man in England could see any harm“ (S. 132), hieß es beispielsweise in einem Bericht vom Februar 1908, als das Kaiserreich gerade beschlossen hatte, das Bautempo drastisch zu erhöhen. Und im Juni 1910 berichtete er nach einer Unterredung mit Wilhelm II.: „He (Wilhelm II.) laughingly alluded to the scare going on in England, for which he said there was no function, but he believed was only got up for local political purposes.“ (S. 225)

Viele Berichte enthalten darüber hinaus detaillierte Einschätzungen der Haltung der deutschen Öffentlichkeit zum Flottenbau, technische Neuerungen wie den Bau von Marineluftschiffen, aber auch interne Differenzen in der Marine.

Alles in allem handelt es sich bei den hier veröffentlichten Dokumenten um sehr wichtige Quellen, die unser bisheriges Bild der Entwicklung eines Wettrüstens in vielen Bereichen ergänzen. Zugleich machen sie deutlich, wie wichtig die Frage der jeweiligen Perzeption für politische und militärische Entscheidungen war. Es wäre daher mehr als wünschenswert, wenn in nicht allzu ferner Zukunft diese Frage in vergleichender Weise ausführlicher behandelt werden würde. Ein wichtiger „Baustein“ dafür ist hier vorgelegt worden.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension