Cover
Titel
Terror and Democracy in the Age of Stalin. The Social Dynamics of Repression


Autor(en)
Goldman, Wendy Z.
Erschienen
Anzahl Seiten
274 S.
Preis
$ 22.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Schlögel, Geschichte Osteuropas, Frankfurt an der Oder

Man kann nicht sagen, dass das Jahr 1937 und der „Grosse Terror“ nicht genügend Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden hätten. Die Arbeiten von Marc Junge und Rolf Binner, zuletzt von Nicolas Werth und die grosse Moskauer Konferenz von 2007 über den Terror in den Provinzen, deren Ergebnisse demnächst publiziert werden, haben unser Wissen und unsere Vorstellung vom Ausmaß, aber auch von den Entscheidungsprozessen einen großen Schritt vorangebracht.1 Aber der Erkenntnisgewinn geht nicht in Richtung Eindeutigkeit und Vereinfachung, sondern Steigerung von Komplexität und eines wachsenden Bewusstseins von der Heillosigkeit des Geschehens. Monokausale Erklärungen – der Terror, strategisch und instrumentell lanciert von oben, oder, der Terror als objektives Resultat zusammenprallender und außer Kontrolle geratener Konflikte zwischen Zentrum und Peripherie – können niemanden mehr zufriedenstellen.

Und doch ist es angesichts der dichten Forschungslage erstaunlich, ja geradezu skandalös, dass bestimmte, auf der Hand liegende und allen geläufige Vorgänge der Jahre 1936 bis 1938 bislang keine Darstellung erfahren haben. Das gilt vor allem für das eigentlich unbegreifliche Desiderat einer Darstellung, nicht zu reden von einer Analyse des institutionell-politischen Hauptereignisses zwischen Dezember 1936 und Dezember 1937: den Wahlen zum Obersten Sowjet, nach der neuen „Stalinschen Verfassung“ mit ihren gravierenden Veränderungen in den Modalitäten, im Zensus und nicht zuletzt im Verlauf der Wahlen selbst. Bis heute haben wir keine monographische Darstellung dieser das ganze Land und Millionen von Menschen aktiv und passiv erfassenden Kampagne. Dies kann kein Zufall sein. Forschungslücken dieser Art treten immer dann auf, wenn es für einen Forschungsgegenstand keinen Platz im jeweils dominierenden Paradigma gibt. Modelle haben heuristischen Wert, Modelle können aber auch betriebsblind machen.

Im gegebenen Fall heißt dies: Für die alte Schule des Totalitarismus waren Wahlen nichts weiter als „Propaganda“, „fake“, nicht ernst zu nehmen; für die spätere Schule einer kritischen Sozialgeschichte waren Wahlen sekundär, „bloß politisch“. Es war wieder einmal Arch Getty, der in einem außerordentlich hellsichtigen Aufsatz auf die Bedeutung der neuen Verfassung, auf die nach ihr durchgeführten Wahlen und den möglichen Zusammenhang zwischen Wahlmobilmachung einerseits und Lancierung der Massenoperationen andererseits hingewiesen hat.2

Auch das hier anzuzeigende Buch von Wendy Z. Goldman beschäftigt sich nicht mit der Wahlkampagne des Jahres 1937 und den Massenoperationen, wohl aber mit den innergewerkschaftlichen Wahlen und deren gewalttätig-terroristischer Seite. Angesichts dessen, dass wir nur ganz wenig wissen über den Ablauf der internen, in der Partei, in den Gewerkschaften und anderen Berufsorganisationen nach dem Februar-März Plenum von 1937 angesetzten Wahlprozeduren 3, kann Wendy Goldmans Studie als eine Pionierarbeit angesehen werden. Man kann für diese Leistung sogar die begrifflich unscharfe, wenn nicht fahrlässige Bezeichnung „democracy“ in Kauf nehmen – sie trifft kaum jene kampagnenförmig erzeugte, von Stimmungsmache, Denunziation und Hetze geprägte Freisetzung der Kritik von unten gegen „die da oben“. Wendy Goldman ist sich der Riskanz durchaus bewusst: „what could denunciations, spy mania, fear, mass arrests, extralegal trials, and executions possibly have in common with secret ballots, new elections, official accountability, and the reviatlisation of democracy from below?“ (S. 8)

Was Goldman uns zeigt, ist, wie eng Repression und demokratische Phraseologie ineinander greifen, wie sehr sich Wut, Empörung, Verzweiflung von Betriebsbelegschaften und Fabrikkomitees ummünzen und mobilisieren lassen, um vermeintliche Gegner auszuschalten und zu Fall zu bringen, ja ganze Führungsebenen zu vernichten. Die Titel, unter denen sich der Unmut zielgerichtet entfesseln ließ, sind unscharf, beliebig, und dazu angetan, sich letztlich gegen jedermann wenden zu können: Schädlinge, Feinde des Volkes, Saboteure, Speichellecker, Bürokraten usw.

Wendy Goldman hat ihre Studie auf die gewerkschaftsinternen Zirkulare, Protokolle, Rechenschaftsberichte und die Presse des Allunions-Zentralrats der Gewerkschaften im Kernzeitraum 1937/1939 gestützt. Im Unterschied zu einer reinen Repressionsgeschichte geht es ihr darum, das soziale Feld, den Druckraum, in dem die Kritik, die Abrechnungs- und Vergeltungsgelüste der Massen generiert werden, zu erfassen. In den einzelnen Kapiteln geht es chronologisch-systematisch um die explosive Situation, die sich in der Krise der Industrialisierung im Zuge des ersten Fünfjahrplans herausgebildet hat, um die Ausweitung der Verschwörungsszenarien vom Kirow-Mord bis zum ersten Schauprozess im August 1936, um den Versuch, die Massen für die Verfolgung und Vernichtung der zu Feinden des Volkes erklärten Rivalen oder Gegner zu gewinnen.

Die stärksten Kapitel sind zweifellos die im Detail aus Protokollen und Berichten rekonstruierten Verläufe von Gewerkschafts- und Betriebsversammlungen. Hier zeigt sich, dass sich die klaren Scheidungen zwischen oben und unten, zwischen „Tätern“ und „Opfern“, zwischen Kritik und Denunziation, zwischen Protest und Abrechnung, zwischen Freisetzung von Wut und Entfesselung eines alles niedermachenden Hasses nicht oder kaum halten lassen. An Anlässen für die Entfesselung von Wut, Hass, Kritik, Neid fehlte es in dieser durch den Zusammenbruch aller sozialen Strukturen gekennzeichneten Gesellschaft auf Fabriks- und Werksebene nicht. Unfälle am laufenden Band, Stress, Wohnungschaos, Engpässe und schiere Not in der alltäglichen Versorgung mit Lebensmitteln – es bedurfte nur einer gezielten Instrumentierung, um dafür zu sorgen, dass jeder im anderen seinen unmittelbaren Feind sah.

Goldman zeigt, wie sehr die Neuwahlen der mittleren und Führungsebenen die gesamte Struktur des Gewerkschaftsapparates durcheinander gewirbelt hatten – mehr als 70 Prozent der Fabrikkomitees waren ausgewechselt, 66 Prozent der Vorsitzenden der Komitees, 92 Prozent der regionalen Führungsebenen. Die Neuwahlen zu den Gewerkschaften kamen dem Öffnen der Büchse der Pandora gleich (S. 151) – dies ist gewiss der präzisere Ausdruck für „Terror and Democracy“. Es ist eine Stärke dieser glänzenden Studie, dass sie uns hineinführt in die erregten Betriebsversammlungen, in die hitzigen Debatten, in das Aufeinanderprallen von Belegschaften und Leitung. Sie kann plausibel machen, wie erregte Kontroversen Hand in Hand gehen mit einer wachsenden Bereitschaft zu physischen Übergriffen und einer allgemein werdenden Dehumanisierung. An einigen Stellen wird ganz klar, wie sehr „Entlarvung“ des Feindes auf den Versammlungen und Auslieferung an die Vernichtungsmaschinerie in den Massenoperationen Hand in Hand gehen (vgl. die Fälle auf S. 207 ff.). Ähnlich wie in anderen Bereichen haben auch die Gewerkschaftsführungen alles getan, um im Aufspüren von Feinden nicht zurückzubleiben und einen Beitrag an der Selbstzerstörung dieser Organisation zu leisten.

Aber das Große an dieser Studie ist nicht, noch einmal das schiere Ausmaß der Gewalt nachzuerzählen, sondern die interne Dynamik aufgezeigt zu haben – und sie somit auch ein Stück zu erklären. Man wünscht sich nach der Lektüre dieser Studie weitere Arbeiten dieses Formats. Sie geben einem die Zuversicht, dass historische Aufklärung letztlich auch den Arcana der Stalinschen Sowjetunion wird zu Leibe rücken können.

Anmerkungen:
1 Nicolas Werth, L’ivrogne et la marchande de fleurs. Autopsie d’un meurtre de masse 1937-1938, Paris 2009; Mark Junge / Gennadij Bordjugov / Rolf Binner, Vertikal’ bol’sogo terrora. Istorija operacii po prikazu NKVD No 00447, Moskva 2008.
2 J.Arch Getty, „Excesses are not permitted“: Mass Terror and Stalinist Governance in the Late 1930s, in: Russian Review 61 (2002), S. 113-138.
3 V. I. Nosac / N. D. Zvereva, Rasstrelnye 30-e gody i profsojuzy, Sankt-Peterburg 2007.

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