U. Haefeli: Verkehrspolitik und urbane Mobilität

Cover
Titel
Verkehrspolitik und urbane Mobilität. Deutsche und Schweizer Städte im Vergleich 1950-1990


Autor(en)
Haefeli, Ueli
Reihe
Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung 8
Erschienen
Stuttgart 2007: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
380 S.
Preis
€ 66,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Schmucki, Institute of Railway Studies and Transport History, University of York / National Railway Museum

Ueli Haefelis Buch zur Geschichte des Stadtverkehrs in drei Schweizer und drei deutschen Städten ist eine wahre Fundgrube verkehrspolitischer Diskurse der 1950er- bis 1990er-Jahre. In seiner Studie präsentiert, vergleicht und gewichtet Haefeli nicht nur Stimmen aus Deutschland und der Schweiz, sondern er setzt auch verschiedene politische Ebenen und Akteure miteinander in Beziehung und prüft ihren Einfluss auf den Ausbau des lokalen Verkehrsnetzes. Das Buch zeichnet sich in erster Linie durch seine vergleichende Perspektive aus. Haefeli unternimmt die umfassende Aufgabe, Stadtverkehrspolitik und urbane Mobilität in der Schweiz und Deutschland nebeneinander zu stellen. Dies ist kein leichtes Unterfangen, da bekanntlich öffentlicher Verkehr in verschiedenen Städten sehr unterschiedlich aussehen kann und laut verkehrswissenschaftlicher Forschung oft nicht zu vergleichen ist. Haefeli vergleicht die verkehrspolitischen Diskurse auf der nationalstaatlichen Ebene in beiden Ländern (erster Teil I) und die Verkehrsentwicklung in sechs Fallbeispielen, den Städten Bern, Basel, Zürich, Bielefeld, Münster sowie Freiburg im Breisgau (Teil II). In einer Zusammenfassung und Synthese (Teil III) präsentiert er eine gelungene Analyse sowie die Ergebnisse der eher faktisch orientierten ersten beiden Teile.

Die Stärke der Gegenüberstellung der Verkehrspolitik in Deutschland und der Schweiz liegt in der kompakten Zusammenfassung der Resultate der bisher für Deutschland vorliegen Arbeiten und einer Analyse der Entwicklung in der Schweiz. Haefeli kommt zum Schluss, dass trotz Rhetorik über nationale Sonderwege die Gemeinsamkeiten überwogen. Die sehr unterschiedlichen Ausgangslagen der beiden Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg beeinflusste die Wirtschafts- und Verkehrsentwicklung der kommenden Jahrzehnte sehr viel weniger, als oft vermutet wird. Für beide Länder spielte das Auto als Symbol für Amerikas Freiheit und Wohlstand eine wichtige Rolle. In beiden Ländern schrumpfte der finanzielle Handlungsspielraum des Staates und in beiden Ländern bildeten föderalistische Strukturen sowie die Aushandlung politischer Kompromisse im Rahmen von neo-korporatistischen Akteuernetzwerken den verkehrspolitischen Rahmen. In diesen Akteurnetzwerken spielten die Verkehrsverbände, die Automobilindustrie und das Autogewerbe eine herausragende Rolle, aber auch verschiedene Gruppen von Verkehrsexperten, deren wechselnde Abhängigkeiten und Rivalitäten den Charakter der Zusammenarbeit zwischen Verkehrs- und Stadtplanung wesentlich mitbestimmten. Zentrales verkehrspolitisches Thema der frühen 1950er-Jahre war in beiden Ländern auf der nationalen Ebene die Aufgabenteilung zwischen Schiene und Straße. In den 1960er-Jahren rückte die Stadtverkehrsfrage mehr in den Blickpunkt, und löste in Deutschland eine „beispiellose Infrastrukturpolitik“ (S. 293) aus, während in der Schweiz die Mechanismen der direkten Demokratie allzu großzügige Projekte verhinderten, was an den Diskussionen um die ‚Expressstraßen’ dargelegt wird. Dies ist einer der wichtigsten Unterschiede im Vergleich zwischen der Schweiz und Deutschland: Die schweizerischen Institutionen der halbdirekten Demokratie begünstigten eine Politik im Zeichen kurzfristiger Engpassbewältigung und punktuellen Reagierens. Wichtige Entscheidungen wurden kaum im Sinne des planvollen Wandels gefällt. Zudem konnten die deutschen Städte bei der Finanzierung ihrer Verkehrsinfrastruktur vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren auf die großzügige Unterstützung von Bund und Ländern zurückgreifen, während die Schweizer Städte in einem viel höheren Ausmaß auf sich alleine gestellt blieben.

Der zweite Teil des Buches, in dem Haefeli die sechs Fallbeispiele analysiert und vergleicht, ist der stärkste des Buches. Hier werden die interessantesten Schlussfolgerungen und neue Resultate präsentiert. Er zeigt nicht nur, dass alle Städte vom Durchbruch der Massenmotorisierung geprägt sind und der Vormarsch des Autos überall auf Kosten des Fahrrads und des Niedergangs des öffentlichen Verkehrs ging, sondern auch dass trotz Verlust von Marktanteilen am Gesamtverkehr es den Schweizer Städten und auch Freiburg gelungen war, die Zahl der beförderten Personen stabil zu halten oder gar leicht zu erhöhen, dass die Liniennetze in den schweizerischen Städten dichter und die Fahrplanfrequenzen um einiges höher waren und die Schweizer offensichtlich den öffentlichen Verkehr mehr benutzten als die Deutschen. Haefeli arbeitet deutlich die Handlungsspielräume der Kommunen heraus. Beispielsweise verdeutlicht er wie Bielfeld solche nutzte, um in den 1960er-Jahren eine auf die Interessen des motorisierten Individualverkehrs gerichtete Politik zu verfolgen. Darüber hinaus analysiert er anhand von Freiburg Optionen und Grenzen einer Verlagerungspolitik in den 1980er-Jahren. Im Fazit zieht Haefeli wirtschaftliche, soziale und auch kulturelle Schlüsse. So weist er etwa die These einer stärkeren emotionalen Verbundenheit der Schweizer zum öffentlichen Verkehr zurück. Dagegen unterstreicht er die große Bedeutung der Verkehrsexperten, der Automobilverbände und Autohändler, die in beiden Ländern in den 1950er- sowie 1960er-Jahren großen Einfluss auf die Verkehrsgestaltung besaßen. In der Schweiz hat darüber hinaus auch die Bauwirtschaft bei der Verkehrspolitik eine wichtige Rolle gespielte. Aber nicht nur Akteursgruppen, sondern auch Individuen schreibt Haefeli große Einflussnahme zu, so etwa gut informierten und gut organisierten Laien, welche beispielsweise in Zürich der S-Bahn zum Durchbruch verhalfen oder in Freiburg (aus den Reihen der Grünen Fraktion) die Einführung eines Umweltabonnements gegen den Willen der betroffenen Verkehrsbetriebe durchsetzten. Ganz zum Schluss zieht Haefeli wohl die prägnantesten Schlussfolgerungen und fragt: „Stehen wir also vor der paradoxen Situation, dass sich das deutsche System [...] kurzfristig als leistungsfähiger erwies, dass sich diese Vorteile aber langfristig in ihr Gegenteil verwandelten?“ (S. 314) In der Schweiz war die Gefahr groß, dass ein an sich mehrheitsfähiges Projekt durch eine nicht kohärente und in sich widersprüchliche Opposition zu Fall gebracht wurde. So wurden die meisten der großen Straßen- und U-Bahnvorlagen vom städtischen Stimmvolk abgelehnt und die Kommunalverwaltungen mussten nach Alternativlösungen suchen, die schließlich als ‚erfolgreich’ bewertet wurden. Diese verkehrspolitischen Erfolge der schweizerischen Städte sind deshalb teilweise auf ein gewisses Versagen des politischen Systems zurückzuführen. Zudem zieht Haefeli Unterschiede in der Organisation des öffentlichen Verkehrs zur Erklärung heran. Die deutschschweizerischen Verkehrsbetriebe sahen den öffentlichen Nahverkehr in erster Linie als Unternehmen, das nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen zu führen war. Die jährlich wiederkehrenden Defizite ab Ende der 1960er-Jahre blieben so Gegenstand öffentlicher Diskussion, da öffentlicher Verkehr ohne bedeutende öffentliche Zuschüsse nicht mehr funktionieren konnte. Der Druck auf die Unternehmen, möglichst effizient zu wirtschaften, blieb damit erhalten. In Deutschland dagegen wurden die Defizite durch Quersubventionen aus anderen Zweigen der Stadtwerke gedeckt. Haefeli kann nachweisen, dass dementsprechend ein „echter Enthusiasmus“ für die Belange des öffentlichen Verkehrs institutionell bedingt fehlte.

Ueli Haefelis Buch bietet viele und reichhaltige Einblicke in verschiedene verkehrspolitische Diskurse. Für ein Buch zum Stadtverkehr bleibt die Analyse aber oft auf einer relativ allgemeinen, nationalstaatlichen Ebene verhaftet und beleuchtet – so etwa im ersten Teil – mehr die staatliche Verkehrspolitik als die städtische. Weiter wäre eine differenziertere Auseinandersetzung mit der im Titel angekündigten ‚Mobilität’ wünschenswert gewesen, ein Thema, das in der Verkehrsgeschichte schon oft angemahnt und doch selten in Angriff genommen wurde. Der Begriff Mobilität bleibt sowohl in der theoretischen Auseinandersetzung als auch in der eigentlichen Analyse blass, oft wird er mit verkehrspolitischen Diskussionen gleichgesetzt. Dennoch ist dies ein lohnendes Buch, das viele verkehrspolitisch interessante Aspekte aufzeigt und die geforderte integrative „Mobilitätsgeschichte“ (statt Verkehrsgeschichte) ernst nimmt sowie dazu anregt, auf diesem Weg weiterzugehen.

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