S. Glienke u.a. (Hrsg.): Erfolgsgeschichte Bundesrepublik?

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Titel
Erfolgsgeschichte Bundesrepublik?. Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus


Herausgeber
Glienke, Stephan Alexander; Paulmann, Volker; Perels, Joachim
Erschienen
Göttingen 2008: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
396 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Groß, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Vernachlässigte „gesellschaftliche und politische Handlungsbereiche […], in denen sich eine Wahrnehmungsabwehr gegenüber dem Hitler-Regime in stetem Maße“ gezeigt habe (S. 8), stehen im Fokus dieses Sammelbandes. Gemeinsames Ziel der Vertreter verschiedener Disziplinen ist es, einen Beweis für „die politische, ideologische und mentale Verwurzelung des nationalsozialistischen Regimes“ in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft anzutreten; jene Nachwirkung sei zudem sehr viel tiefgreifender gewesen, als bisher von der Forschung erkannt (S. 9).

Der einleitende Teil und weitere 12 Aufsätze, gegliedert in fünf thematische Blöcke, widmen sich einem breiten Untersuchungsspektrum, das von personellen und ideologischen Kontinuitäten in der Jurisprudenz sowie im Naturschutz über die mediale Darstellung von nationalsozialistischen Gewalttäterinnen bis zu „ideologischen Tendenzen“ bei Götz Aly und Jörg Friedrich reicht. Dieser letzte Block mit dem Titel „Neue Tendenzen in der Geschichtsschreibung“ entspricht indes nicht der rigide postulierten Beweisführung, sondern wirkt zum Zwecke einer ideologisch motivierten Schelte hinten beigegeben.

Vorangestellt ist dem Band ein Aufsatz der Politologin Claudia Fröhlich zur Forschungskontroverse über die Verwendung des Begriffs „Restauration“ im Zusammenhang mit der Genese der Bundesrepublik. Nach einer informativen Skizze jener Auseinandersetzung über den restaurativen Charakter der jungen Republik folgen Exkurse über den prominenten Verfechter der Restaurationsthese, Eugen Kogon, und den ersten Präsidenten des Bundesgerichtshofes, Hermann Weinkauff. Letzterer dient Fröhlich aufgrund seiner exponierten Stellung im NS-Justizwesen und in dem der Bundesrepublik als Paradenachweis für die Restaurationsthese. Insbesondere hebt sie hier Denkmuster ehemaliger Interpretationseliten des NS-Systems hervor, die in der Bundesrepublik prägend weitergewirkt hätten. In ihrem Resümee rehabilitiert Fröhlich die Restaurationskritik und relativiert sie zugleich. Von einer „Ungleichzeitigkeit in der Realisierung demokratischer Ordnung“ ist nun die Rede. Die westdeutsche Nachkriegsgeschichte könne „als eine ambivalente, erfolgreich demokratische und restaurative Geschichte geschrieben werden“ (S. 46).

„Personelle Kontinuitäten“ sind auch das Leitmotiv des ersten Abschnitts. Joachim Wolschke-Bulmahn, Professor für die Geschichte der Freiraumplanung, zeigt versiert die nationalsozialistische Vorgeschichte der bundesdeutschen Naturschützer und deren erfolgreiche Verschleierungstaktiken auf. Der Sozialwissenschaftler Rainer Schuckart widmet sich dem einflussreichen Staatsrechtler Ernst Forsthoff, dessen antidemokratisches Konzept vom „totalen Staat“ nicht nur für den NS-Staat konstitutiv war, sondern auch die rechtsstaatliche Gestaltung der Bundesrepublik nachhaltig geprägt habe. Kontinuitäten dieser restaurativen „konservativen Staatsrechtslehre“, die von „Disziplinierung und Entpolitisierung gesellschaftlicher Interessen“ (S. 111) gekennzeichnet sei, verfolgt Schuckart von der Weimarer Republik über den NS-Staat bis in die Bundesrepublik.

Der zweite und umfangreichste Abschnitt „Gesellschaftlicher Umgang mit dem Nationalsozialismus“ umfasst vier Beiträge. Signifikant für den Sammelband ist die angestrengte Vermeidung des Begriffes „Vergangenheitsbewältigung“. Dessen inhaltliche Relevanz ist jedoch gerade der gemeinsame Dreh- und Angelpunkt aller Beiträge. Bei aller Problematik, die dieser Begriff birgt, wäre zumindest eine einleitende Thematisierung und Stellungnahme sinnvoll gewesen.1

Im Winter 1959/60 konfrontierte die so genannte „Schmierwelle“ die bundesdeutsche Öffentlichkeit auf vehemente Weise mit dem Thema Antisemitismus und der Erinnerung an die NS-Massenmorde. Die Politologin Shida Kiani schildert die Reaktionen von Politik, Justiz und Öffentlichkeit. Sie legt minutiös die Strategien des Umgangs mit Hakenkreuz-Schmierereien und antisemitischen Parolen dar, seziert den Konkurrenzkampf westdeutscher Politik um Deutungshoheit im In- und Ausland und beschreibt „die Unfähigkeit“ der Gesellschaft im Umgang mit der eigenen, nationalsozialistischen Vergangenheit. Allerdings befremdet Kianis Interpretation, „der Antisemitismus“ habe von „offizieller Seite“ eine stillschweigende Duldung und von „fast allen Parteien“ gar eine indirekte Bestätigung erhalten (S. 141). Auf eine exakte Begriffsbestimmung von „Antisemitismus“ verzichtet sie hier.2

Neben den Beiträgen von Volker Paulmann, der sich mit der Haltung der Studentenbewegung zur NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik beschäftigt, und Ute Herwig, die die „Dämonisierung und Sexualisierung von nationalsozialistischen Gewalttäterinnen in den Medien der Nachkriegszeit“ dechiffriert, sticht der Beitrag „Die Darstellung der Shoah im öffentlichen Raum“ von Stephan Alexander Glienke hervor. Am Beispiel der 1960 eröffneten Wanderausstellung „Die Vergangenheit mahnt“ über Verfolgung und Vernichtung der Juden dokumentiert und analysiert Glienke kritisch die große Bandbreite an Problemen, die die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der jungen Bundesrepublik mit sich brachte.

Die Literaturwissenschaftler Anja Schnabel und Klaus Wannemacher erinnern im dritten Block „Literatur und Theater“ an das mahnende Engagement des Schriftstellers Wolfgang Koeppen und des Theatermachers Erwin Piscator. Schnabel unterstreicht zu Recht die von Koeppen wahrgenommene seismographische Pflicht des gesellschaftskritischen und unbestechlichen Literaten. Wie etwa auch Wolfgang Borchert schuf Koeppen Literatur, die als moralischer Stellvertreter fungieren sollte. Die Deklarierung der literarisch überhöhten sowie von Restaurationsphobie geprägten Schilderungen in der von Schnabel erörterten Romantrilogie als „eine detailgetreue Wiedergabe der Zeitumstände“ (S. 261) überzeugt indes nicht – zumal Koeppen selbst den literarisch verdichtenden Charakter seiner Arbeit betont hat.3 Wannemacher charakterisiert Piscator sodann als den Protagonisten des Gedächtnis- bzw. Dokumentartheaters. Er betont damit dessen Rolle als Pionier der Erinnerungskultur, der sich der institutionell forcierten Geschichtspolitik der jungen Bundesrepublik mittels der Theaterkunst entgegengestellt habe.

In der vierten Sektion „Justiz und NS-Herrschaft“ hinterfragt Axel von der Ohe kenntnisreich die Gründe für das Scheitern der strafrechtlichen Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizverbrechen. Der Politologe verweist unter anderem auf eine personelle Restauration innerhalb der westdeutschen Justiz. Diese habe sich als „strukturelle Hypothek“ erwiesen und sich insbesondere in einer Empathie der Richter gegenüber NS-Angeklagten gezeigt (S. 314). Eine konsequente justizielle Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit seitens der „Juristengeneration des Hitler-Staates“ sei faktisch nicht möglich gewesen (S. 315). Einen ergiebigen komparativen Ansatz verfolgt der Historiker Andreas Mix. Der Vergleich zweier Strafprozesse gegen NS-Täter vor bundesdeutschen und DDR-Gerichten (jeweils gegen Exzesstäter aus dem Warschauer Ghetto) zeigt Gemeinsamkeiten, systembedingte Unterschiede und Interaktionen auf. Ferner erörtert Mix den jeweiligen Grad der politischen Instrumentalisierung von NS-Prozessen sowie die zugrunde liegenden Motive und Zielsetzungen.

Der gemeinsame Tenor der Beiträge – mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt – ist restaurationskritisch, anklagend und moralisierend. Das Augenmerk ist vornehmlich auf das Scheitern, Fehlen bzw. die unzureichende Umsetzung von „Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik gerichtet. Bereits das unkommentierte Buchcover, welches Soldaten mit Stahlhelm, Stiefeln und Knüppeln zeigt, suggeriert ein militaristisches und faschistoides Bild der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Die Untersuchungsansätze und Interpretationen des überwiegend jungen und zweifellos engagierten Autorenteams wirken weder innovativ noch originell. Weiterführend wäre etwa die Frage nach den Maßstäben der Bewertung bzw. Verurteilung mit Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in anderen westlichen Demokratien und nach deren jeweiligen Strategien zur „Vergangenheitsbewältigung“. Der Rezensent erkennt kein spezifisch deutsches Unvermögen in diesem Zusammenhang. Ein vergleichender Blick nach Österreich, Italien oder auch Spanien könnte die Interpretation der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der jungen Bundesrepublik anders akzentuieren.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Wertgen, Werner, Vergangenheitsbewältigung: Interpretation und Verantwortung. Ein ethischer Beitrag zu ihrer theoretischen Grundlegung, Paderborn 2001.
2 Vgl. etwa Bergmann, Werner, Geschichte des Antisemitismus, München 2002.
3 Im Vorwort einer späteren Auflage von „Tauben im Gras“ ging Koeppen auf die heftigen Reaktionen infolge der Erstveröffentlichung (von 1951) ein und verwies auf die literarische Imagination seines Romans: Koeppen, Wolfgang, Tauben im Gras, Tb.-Ausg. Frankfurt am Main 1980, S. 7.

Kommentare

Von Kritidis, Gregor09.09.2008

Zu Oliver Groß’ Rezension des Sammelbandes „Erfolgsgeschichte Bundesrepublik?“ vom 28.7.2008 (<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-061>) möchte ich folgende Punkte anmerken:

Der Rezensent charakterisiert die Beiträge als mehr oder minder „restaurationskritisch, anklagend und moralisierend“. Das Augenmerk sei „vornehmlich auf das Scheitern, Fehlen bzw. die unzureichende Umsetzung von ,Vergangenheitsbewältigung’ in der Bundesrepublik gerichtet“. Die Untersuchungsansätze des Autorenteams, so Groß, „wirken weder innovativ noch originell“. Den Beiträgen von Mitherausgeber Joachim Perels und Ralf Steckert über neuere Tendenzen in der Geschichtsschreibung bei Götz Aly und Jörg Friedrich wird einleitend gar der Status der Wissenschaftlichkeit abgesprochen, so dass sich eine Auseinandersetzung mit ihren Positionen für den Rezensenten von vornherein erübrigt.

Wie der Rezensent zu diesem Urteil kommt, bleibt unerfindlich – zumindest legt er seine impliziten Maßstäbe nicht offen. Denn die Beiträge des Sammelbandes zielen keinesfalls auf die moralischen Defizite der frühen Bundesrepublik und müssen daher auch nicht ‚angestrengt’ den Begriff der Vergangenheitsbewältigung vermeiden, wie Groß moniert. Vielmehr geht es um die strukturellen Folgen einer Aktualisierung autoritär-obrigkeitsstaatlicher Positionen, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse der frühen Bundesrepublik nachhaltig prägten. Es war in juristischer und gesellschaftspolitischer Sicht keineswegs irrelevant, ob ein Parteigänger des NS-Regimes wie Ernst Forsthoff zu einem der zentralen Interpreten des Grundgesetzes avancierte, während demokratische Juristen wie Martin Drath sich dem Verdacht des Stalinismus ausgesetzt sahen. Hieraus haben sich weiterwirkende Widersprüche ergeben, deren Bedeutung nicht deshalb schwindet, weil die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die immer eine gegenwärtige Auseinandersetzung impliziert, in anderen Ländern ähnliche Verlaufsformen angenommen hat. Es kommt darauf an, die Diskussionen über zeitgeschichtliche Fragen zu beleben, anstatt sich unter dem Etikett „innovativ“ in fruchtlose Ebenen zu begeben.

Gregor Kritidis, 3. September 2008


Von Groß, Oliver09.09.2008

Replik zur Kritik von Gregor Kritidis an meiner Rezension vom 28.7.2008 (<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-061>)

Wissenschaftler – ebenso wissenschaftliche Rezensenten – sollten sich einer unabhängigen und zugleich kritischen wertneutralen Forschung verpflichtet fühlen. Des Weiteren sollten sie unter größtmöglichen Anstrengungen bemüht sein, eigene ideologische Präferenzen außen vor zu lassen.1 Dass dies in Anbetracht des menschlichen Faktors nie vollends gelingen wird, ist offenkundig. Entscheidend jedoch ist, dass Wissenschaftler – ebenso wissenschaftliche Rezensenten – dies versuchen.

Der Vorwurf von Gregor Kritidis, den Beiträgen von Mitherausgeber Joachim Perels und Ralf Steckert sei in meiner Rezension der Status der Wissenschaftlichkeit abgesprochen worden, ist unzutreffend. Die Kritik bezog sich darauf, dass beide Beiträge nichts mit der originären Konzeption und dem Erkenntnisziel des Sammelbandes zu tun haben. Hier sollten wohl lediglich zwei Beiträge untergebracht und die Möglichkeiten genutzt werden, eine zum Teil auch ideologisch motivierte Schelte zu verteilen.2

Diskussionen über zeitgeschichtliche Fragen sollten in der Tat stets erneut belebt und geführt werden. Das im vorliegenden Sammelband thematisierte Sujet bedarf jedoch auch der Perspektivwechsel, neuer Fragestellungen sowie eines Infragestellens von tradierten Ansätzen. Um etwa einer monokausalen Überinterpretation der 12-jährigen – katalytisch wirkenden – nationalsozialistischen Herrschaft entgegenzuwirken, müssten vielmehr die überwiegend nichtdemokratische deutsche (und europäische) Vorgeschichte sowie insbesondere die daraus resultierenden personellen und ideologischen Kontinuitäten mit ins Zentrum des Diskurses gerückt werden.

Oliver Groß, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, 4. September 2008

Anmerkungen:
1 Der Begriff „Ideologie/ideologisch“ ist nicht eindeutig definiert. Der Rezensent benutzt ihn hier im Sinne einer wertneutralen Beschreibung gesellschaftlicher bzw. politischer Ideen. Demzufolge sollte der Begriff nicht etwa nur sozialistische oder nationalsozialistische Leitvorstellungen beschreiben, sondern beispielsweise auch demokratische implizieren. Der im Sammelband behandelte Gegenstand erfordert insbesondere eine ideologiefreie Herangehensweise, da hier einer Gesellschaft nahezu ohne demokratische Vergangenheit eine demokratische Staatsform – die sie zugleich selbst ausgestalten sollte – oktroyiert worden war.
2 Vgl. Glienke, Stephan Alexander; Paulmann, Volker; Perels, Joachim (Hrsg.), Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, S. 16.


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