R. Fritz u.a. (Hrsg.): Nationen und ihre Selbstbilder

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Titel
Nationen und ihre Selbstbilder. Postdiktatorische Gesellschaften in Europa


Herausgeber
Fritz, Regina; Sachse, Carola; Wolfrum, Edgar
Reihe
Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert 1
Erschienen
Göttingen 2008: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin von Lingen, Sonderforschungsbereich 437 "Kriegserfahrungen - Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit", Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Der Erfolg gesellschaftlicher Konsolidierung bei der staatlichen Neugründungsphase nach Kriegen, Konflikten und Systemtransformationen gilt als ein Indikator für die Stabilität politischer Gemeinwesen, der erzielte Gründungskonsens als deren gesellschaftliche Basis. Besonders deutlich treten solche Prozesse seit 1990 beim Umbau postdiktatorischer Gesellschaften in Osteuropa zutage, wie die Beiträge im Sammelband von Regina Fritz, Carola Sachse und Edgar Wolfrum eindrucksvoll belegen. Zum Thema „(Re-)Formulierung nationaler Selbstbilder in postdiktatorischen Gesellschaften in Europa“ präsentierten Promovierende auf einer Nachwuchs-Tagung in Wien im Mai 2006 laufende Projekte mehrheitlich des Heidelberger Gradiertenkollegs „Diktaturüberwindung und Zivilgesellschaft in Europa“ und des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Wien.1 Trotz des eher informellen Charakters der Tagung ist die Publikationsentscheidung sinnvoll, sind hier doch neue Ansätze auf hohem wissenschaftlichem Niveau versammelt.

Der Schwerpunkt des Bandes liegt auf der (medialen) Darstellung der Nations-Selbstbilder, gefasst unter „(Re-)Formulierung“ oder „(Re-)Formatierung“ von Erinnerung, sowie der Distinktionsfähigkeit nach außen und dem Integrationsangebot nach innen. Die Begriffe machen bereits deutlich, dass es sich um einen von der Politik bzw. von gesellschaftlichen Gruppen gezielt gesteuerten oder beeinflussbaren Prozess handelt. „Nationen und ihre Selbstbilder“ bietet damit eine ideale Ergänzung zu den Begleitbänden der vielbeachteten Ausstellung „Mythen der Nationen“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin.2

Postdiktatorische Gesellschaften nach 1990 haben auf ihrem Weg in ein bereits weitgehend vereintes Europa, so Sachse und Wolfrum einleitend, deutlich weniger Spielraum als die Nationen, die nach 1945 in eine staatliche Neuordnung entlassen wurden: Politische, rechtliche und wirtschaftliche Vorgaben an die neuen Staaten sind klar definiert, territoriale Expansion ist quasi ausgeschlossen, die Gemeinsamkeit einer Massenkultur im Zeitalter des Internet längst globalisiert – so bleibt nur der Rückgriff auf nationale Mythen und Selbstbilder, um sich von anderen Nationen abzugrenzen und im Innern ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, das die Transformationszeit zu überbrücken hilft.

Die Tagungsbeiträge wurden für den Sammelband umgruppiert und durch die Hinzugewinnung einiger weiterer Experten vertieft. Der Band gliedert sich in drei Teile: „Postdiktatorische Überblendungen I: Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg, Holocaust“, „Postdiktatorische Überblendungen II: Kommunistische Diktaturen in Europa nach 1945“ sowie „Nationale Konstruktionselemente: ‚Jugend’ und ‚Familie’, Sprache und Literatur“. So kommen manche Länder (wie Rumänien und Polen) mehrfach vor – was keine Wiederholung, sondern eine nützliche thematische Verschränkung bedeutet. Gerade die drei Betrachtungen zu Polen gehören in ihrer Dichte und Analyseschärfe zu den anregendsten des Bandes.

Die erste Sektion beginnt mit Katrin Hammersteins kritischem Blick auf die Gründungsmythen der DDR, Österreichs und der Bundesrepublik Deutschland. Im Gegensatz zur vordergründigen Annahme, dass sich die DDR und Österreich auf je eigene Weise als Opferstaaten sehen konnten und nur die Bundesrepublik das Erbe der Täternation angetreten habe, kann die Autorin zeigen, wie sich in allen drei Staaten verschiedene Schattierungen eines Opfermythos ausprägten, die sich gegenseitig bedingten und eine integrative Funktion entfalteten. Bestätigt wird dieser Befund durch die führende österreichische Forscherin zur Erinnerungskultur, Heidemarie Uhl, die anhand des „Denkmalstreits“ die Transformationen des österreichischen Gedächtnisses auslotet.

Sodann wendet sich der Blick nach Ost(mittel)europa: Hildegard Schmoller analysiert das tschechische Selbstbild, basierend auf dem Trauma vom Münchner Abkommen und der Erinnerung daran. Oszillierend zwischen den Parolen „verratene Nation“ und „kampfbereites Volk“ wird die Instrumentalisierung des Traumas anhand dreier verschiedener Zäsuren (nach 1938, 1945 und 1989) verdeutlicht. Laura Hölzlwimmer beleuchtet die polnische Erinnerungskultur seit 1945 anhand einiger Kontroversen – wie beispielsweise um Katyn und Jedwabne oder die heftigen geschichtspolitischen Debatten der letzten Jahre seit dem EU-Beitritt Polens. Neben der fundierten Überblicksdarstellung bietet die Autorin auch noch einen hervorragenden Einstieg in die Erinnerungstheorie. Regina Fritz geht in ihrem Beitrag auf die „gespaltene Erinnerung“ an den Holocaust in Ungarn ein. Sie zeigt die tiefen Verwerfungen auf, die sich im Kampf um den Opferstatus und durch die unterschiedliche Bewertung der Mittäterschaft herausgebildet haben. Petru Weber schließt mit seinem Beitrag über Rumänien die erste Sektion ab und formuliert mit der Einführung des neuen Forschungsbegriffs „domestic holocaust“ den Appell, die Anteile der nationalen Mittäterschaft in den Blick zu nehmen und sie mit Vorkriegslinien und Stereotypen zu verknüpfen.

Die zweite Sektion wendet sich den kommunistischen und postkommunistischen Selbstbildern zu. Birgit Hofmann lenkt mit einer Gegenüberstellung der Nations- und Identitätskonzeptionen des „Prager Frühlings“ 1968 und der „Samtenen Revolution“ 1989 einen Blick auf konkurrierende Geschichtsbilder, die ursprünglich aufeinander bezogen waren, sich heute jedoch unversöhnlich gegenüberstehen. Julie Trappe erläutert in ihrem aus juristischer Sicht verfassten Beitrag die rumänische Taktik der „kollektiven Unschuld“. Im Fokussieren auf einen alleinschuldigen, toten Ex-Diktator erkennt sie interessante Parallelen zum deutschen Fall und macht damit die für den Großteil der Gesellschaft höchst integrierende Wirkung von Schuldabwehr-Mechanismen deutlich.

Katja Wezel erläutert am Fall Lettland, wie die Nationsvorstellung nach dem Ende der Sowjetunion durch Abgrenzung neu konstruiert wurde. Unter dem Begriff „Okkupation“ vermische sich die Erinnerung an die Sowjetzeit und die deutsche Besatzung von 1941 bis 1944 zu einer fast unterschiedslosen, fortdauernden Periode der Fremdherrschaft, die die eigene Staatlichkeit von 1921 lediglich unterbrochen habe. Diese Narration führe zu einer Ausgrenzung der russischen Minderheit und anhaltenden Spannungen im Alltag der jungen Nation. Imke Hansen schließt den Bogen mit einem kundigen Blick auf die Nationsbildungsprozesse in Weißrussland/Belarus, der „letzten Diktatur Europas“. Hansen bietet durch ihre fundierte Analyse der Dualität zwischen oppositioneller und regimegelenkter Erinnerungspolitik eine theoretische Verknüpfung von Geschichtspolitik nach der Diktatur mit deren vorheriger Instrumentalisierung in der Diktatur.

Der dritte und letzte Teil des Bandes beschäftigt sich mit „nationalen Konstruktionselementen“ in Sprache und Literatur, besonders anhand des Stellenwerts von „Jugend“ und „Familie“. Valeska Henze liefert eine komplexe Darstellung der Jugendkultur in Polen und erläutert deren Beitrag zur Transformation der Gesellschaft nach 1989. Katharina Blumberg-Stankiewicz untersucht kundig gesellschaftliche Exklusionsmechanismen und Sündenbockfunktionen, hier am Beispiel der Homosexuellen und der polnischen rechtsradikalen Partei „Liga der Polnischen Familien“. Ian Innerhofer analysiert den Zerfall Jugoslawiens anhand der Diskussion um die Sprachbezeichnung in Bosnien-Herzegowina und gibt damit ein besonders eindringliches Exempel von Geschichtspolitik im Alltag.

Ansgar Warner lenkt den Blick wieder nach Westeuropa und zeigt am Beispiel des literarischen Umgangs mit der Franco-Diktatur in Spanien einen Fall von „work in progress“ – eine Nation, die seit Ende der 1990er-Jahre den Blick auf die Opfer des Bürgerkriegs richtet und erst dadurch in eine neue, versöhnlichere Phase eintritt. Hier wird deutlich, dass die Zäsuren von 1945 und 1989 nicht in allen Ländern nationsbildende Wirkung entfaltet, wohl aber zu transnationalen Wechselwirkungen geführt haben. Gabriele Kämper schließt den Band mit einem theoretischen Ansatz zum „Gender-Appeal“ nationaler Rhetoriken. Sie macht deutlich, dass Nationsbilder über eine emotionale Ebene wirken und sich besonders häufig einer binären Sprache bedienen, also einer Entgegensetzung zwischen „männlichen“ und „weiblichen“ Bildern.

Gerade in postdiktatorischen Gesellschaften lautet die Gretchenfrage der Geschichtspolitik, ob die Rückbesinnung auf die „frischen“ Erinnerungen im Vordergrund stehen soll, also die Diktaturerfahrung sowie deren Überwindung, oder ob man auf tradierte ältere Nationsbilder zurückgreift. Der vorliegende Band macht hervorragend deutlich, dass belastende Erinnerungen nach Konflikten meist externalisiert werden und dass als neutraler geltende Geschichtsbilder aus früheren Zeiten wiederbelebt werden, um den gesellschaftlichen Einigungsprozess zu sichern. Insgesamt bietet der Band einen historisch fundierten Ausblick auf die Effekte, die der „strategische Umgang mit der eigenen Geschichte“3 im internationalen Zusammenspiel der Staaten künftig wohl noch verstärkt haben wird.

Anmerkungen:
1 Siehe den Tagungsbericht von Regina Fritz und anderen: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1233>, 13.06.2008.
2 Flacke, Monika (Hrsg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, 2 Bde., Mainz 2004 (rezensiert von Rainer Eckert: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/type=rezbuecher&id=82068206>). Hingegen fehlt ein Rückbezug auf Frei, Norbert (Hrsg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006 (rezensiert von Nina Burkhardt: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-194>, 13.06.2008).
3 Gong, Gerrit W., The Beginning of History: Remembering and Forgetting as Strategic Issues, in: Washington Quarterly 24 (2001), S. 45-56, hier S. 56; auch online unter URL: <http://www.twq.com/01spring/gong.pdf>, (13.6.2008).