H.-G. Haupt / G. Crossick: Die Kleinbürger

Titel
Die Kleinbürger. Eine europäische Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts


Autor(en)
Haupt, Heinz-Gerhard; Crossick, Geoffrey
Erschienen
München 1998: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
366 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
PD Dr. Rolf Petri, Institut f. Geschichte, Martin-Luther-Universität

Mit Hilfe eines ungewöhnlich breiten vergleichenden Ansatzes wenden sich Haupt und Crossick den Kleinbürgern Frankreichs, Großbritanniens, Deutschlands und Belgiens, daneben auch Österreichs, Italiens, der Niederlande und Schwedens zu. Daß Osteuropa ausgeklammert bleibt, begründen die Autoren mit Sprachkompetenzen und einem noch unzureichenden Forschungsstand. Letzterer verursacht gelegentliche, im Text sorgfältig offengelegte Asymmetrien auch beim Abgleich der westeuropäischen Länder. Ausgehend von eigenen Untersuchungen haben die Autoren über zwei Jahrzehnte hinweg viele Projekte zum Thema mit angeregt und vernetzt und sich dadurch in die Lage versetzt, das auch in englischer Sprache erschienene, neue Maßstäbe setzende Standardwerk zur europäischen Kleinbürgertumsforschung zu verfassen. Gerade weil ihnen der vergleichende Blick dabei gewissermaßen zur zweiten Natur geworden zu sein scheint, handhaben Crossick und Haupt die komparative Methode mit Bedacht. Der internationale Vergleich wird insbesondere auf politische und institutionelle Einflußfaktoren angewandt. Er betrifft etwa die Rechtsstellung der Zünfte im 18. und 19. Jahrhundert und den Einfluß von Massenparteien und Interessenorganisationen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Doch für vieles, was im thematischen Zusammenhang als wesentlich erscheint, erbringt der pauschalisierende Vergleich zwischen Nationen weit weniger als beispielsweise eine Typologie der europäischen Städte und ländlichen Räume und die genaue Kenntnis der lokalen Verhältnisse.

Gegenstand der Untersuchung sind die "alten" Mittelklassen, vor allem die selbständigen Handwerksmeister und Ladenbesitzer. Die in der Industrialisierung emporkommende neue Mittelklasse - technische und kaufmännische Angestellte, kleine und mittlere Beamte usw. - unterschieden sich in ihren Arbeits- und Lebensverhältnissen und in ihrem Stil und Selbstverständnis trotz mancher verwandtschaftlicher Querverbindung erheblich vom "klassischen" Kleinbürger. Die beide Gruppen verbindende soziale "Mittellage" wurde erst gegen Ende der Untersuchungsperiode wahrgenommen und theoretisiert. Was die Handwerke betrifft, so verdeutlichen die Autoren einen Transformationsprozeß, der schon unter dem Einfluß des Verlagssystems und der physiokratischen Anfeindung der Zünfte die institutionellen Rahmenbedingungen sowie das Selbstverständnis der Meister und ihr Verhältnis zu Gesellen und Kundschaft allmählich veränderte. In Großbritannien wurden die zunftähnlichen Gebilde unter dem doppelten Druck des Marktes und der staatlichen Ordnungspolitik früh ihrer Bedeutung beraubt, in Frankreich galten sie seit der Revolution als unwiederbringlich kompromittiert, während sie im deutschsprachigen Raum dank der dezentralen Organisation des wirtschaftlichen Lebens lange erhalten blieben, bevor sie ihr Erbe an Innungen, Ausbildungsprärogative und sonstige neokorporative Institutionen weitergaben. Überall kamen die Veränderungen "einer subtilen Transformation korporativer Erwartungen, Sprachformen und Codes" (49) gleich und waren trotz aller Sehnsucht nach den angeblichen Gewißheiten der früheren Ordnung mit praktischen Lösungen verbunden, die der Marktanpassung keineswegs nur feindlich gegenüberstanden.

Der ökonomische Kern des Problems bestand im Verhältnis von Kleinbetrieb und Industrialisierung bzw. Urbanisierung. Für die kleinen Ladenbesitzer war das Großkapital bis zum Aufkommen der Warenhäuser und Handelsketten eine eher indirekte Störgröße, die seine Unabhängigkeit durch die schwere Hand der Grossisten oder Kreditgeber bedrohen konnte. Für das Handwerk hingegen hieß Industrialisierung direkte Konkurrenz der Maschine gegen das Werkzeug. Konkret bedeutete allerdings auch dies je nach Beruf, Produkt, Stadt und Epoche etwas anderes. Die Autoren unterscheiden mindestens drei Varianten:

(1) Die im arbeitsteiligen Verlagssystem organisierten Distrikte, in denen Anpassungsprozesse meist schon früh zwischen Unter- oder Übergang zum spezialisierten Kleinbetrieb entschieden.

(2) Die Handwerke, die dank Nähmaschine oder Drehbank, also dank der Industrie, zumindest zeitweise neuen Auftrieb erhielten und solche, die sich auf Reparatur und Installation industrieller Güter spezialisierten.

(3) Die Nischenproduktion, die räumlich oder vom Produkt her begrenzte Märkte bediente.

Würde man diese Klassifizierung mit den Produkt- und Technologiezyklen der industriellen Sparten und den Wachstumsschüben der Städte überkreuzen, erhielte man ein über das gesamte 19. Jahrhundert aufgefächertes Panoptikum von Auf- und Abstiegsbewegungen, von Untergängen, Krisen, Chancen, Neuanfängen. Nur im Deutschland der Hochindustrialisierung schien die Bedeutung der Kleinproduktion generell zurückzugehen, in den anderen Ländern war nicht einmal dies der Fall. Der vielfach prophezeite Untergang trat jedenfalls nirgendwo ein. "Für den Kleinbetrieb in den europäischen Ökonomien des 19. Jahrhunderts bestand das zentrale Problem nicht so sehr in der Frage nach Überleben oder Untergang, sondern in der Transformation" (89).

Entsprechend der unterschiedlichen Lagen fächerten sich das Einkommen und der soziale Status der Kleinbürger auf. Eine kleine Gruppe wohlhabender Meister und Kaufleute mochte in ihrer Freizeit die Geselligkeit bürgerlicher Kreise teilen, in Kleinstädten gar zum Kreis der Honoratioren gehören. Eine viel größere Gruppe am anderen Ende der Skala wurde oft mehrfach zwischen Lohnarbeit, Abhängigkeit von Gläubigern und echter Selbständigkeit hin und her geworfen und teilte die Lebensräume und Geselligkeitsformen proletarischer und proletaroider Kreise. Die Heterogenität der Lebenslagen, die individuelle Instabilität und das Streben nach Sicherheit waren allerdings, so schreiben die Autoren, "für das Kleinbürgertum kein Hindernis bei der Herausbildung einer sozialen Identität, sondern gerade ihr Charakteristikum" (290).

Zentrale Teile der Arbeit sind der Selbstwahrnehmung, dem sozialen Kontext der Kleinstadt und des Großstadtviertels, der "Welt der kleinen Leute" und ihrem Verhältnis zur "großen" Politik, der Kultur und den Geselligkeitsriten der Kleinbürger gewidmet. Unmöglich, hier auch nur ansatzweise die vielen, immer wieder nach nationalen Traditionen, Stadttypen, Berufen sich aufspreizenden oder nur nuancierenden Aspekte anzusprechen. Einige Grundlinien seien stichpunktartig nachgezeichnet: Etwa die Rolle einer auf Grundstücke und Häuser zielenden Investionsstrategie, die einer politischen Strategie der Einflußnahme auf lokalpolitische Entscheidungen entsprach. In dem von ihm als natürlicher (Über)lebensraum angesehenen Nahbereich verstand sich der Kleinbürger als Mittler und wurde oft als janusköpfig empfunden: mal als Teilhaber am Alltagsleben "des Volkes", mal als unerbittlicher Vermieter, mal als solidarischer Kreditgeber in Zeiten von Streik oder Krankheit, mal als wohltätiger Armenpfleger. Der Meister, die selbstausbeuterische Familie des Ladenbesitzers, unter deren Dach und in deren Zeit Beruf, Wohnen und Geselligkeit übergangslos ineinander flossen, sahen sich als Arbeiter im Schweiße ihres Angesichts und insofern dem vornehmen Tagedieb moralisch überlegen, zugleich aber als Wahrer von Eigentum und geordneten Verhältnissen.

In der Kleinstadt oder im Viertel spielten "Ansehen, korrektes Verhalten und Ehre ... in der informellen täglichen Geselligkeit eine zentrale Rolle und wiesen dem Einzelnen auch einen Status in der lokalen Gemeinschaft zu" (155). Hinzu kam das unter dem Gesichtspunkt der Ehre, aber auch der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit notwendige "reibungslose" Funktionieren von Ehe und Familie. Die Privatheit und der makellose Schein der kleinbürgerliche Familie hatten längst die öffentlichen, zünftigen Regulative des Kleinbetriebes ersetzt. Entsprechend entfernten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die kleinbürgerlichen Ideale von der über die Arbeit vermittelten Solidarität mit den Arbeitern, wurden im Kleinbetrieb zünftige Bindungen endgültig durch Lohnarbeitsverhältnisse ersetzt. Unter dem Eindruck wachsender Konflikte (im Betrieb, aber auch um Konsumgenossenschaften und politische Losungen) lösten sich die Kleinbürger zunehmend aus ihrer noch bis 1848 weit verbreiteten "Identifizierung mit dem Volk" (202).

Jenseits aller nach Ort und Zeit abzustufenden Wandlungen aber behielten ihren festen Platz in der Imagination der Kleinbürger: die Familie, der Lokalismus und das Eigentum. Die Familie blieb zentral, weil das Private nicht nur eine emotionale Kompensation für die äußeren Fährnisse bot, sondern auch - mehr im Laden als in der Werkstatt - tatsächlicher Träger der wirtschaftlichen Existenz war und in jedem Fall eine Ressource für Krisenzeiten. Das Lokale blieb zentral nicht nur, und nicht einmal unbedingt, als Dimension der Arbeits- und Tauschbeziehungen des Kleinbetriebes, sondern als Ideal der Überschaubarkeit und Regierbarkeit der wirtschaftlichen Umstände. "Lokale Märkte, lokale Kunden und Händler, Ehrlichkeit, Familiarität und Interdependenz der lokalen Ökonomie, mit diesen Parolen verteidigten kleine Einzelhändler und Handwerker nicht nur ihre ökonomischen Grundlagen, sondern auch ihre moralischen Werte" (264) und setzten sich damit ab von den zumindest theoretisch proklamierten Horizonten der Arbeiter, Bürger und neuen Mittelklassen.

Schließlich das Eigentum, ein Begriff, unter dem die Autoren nicht nur die Definition des bürgerlichen Gesetzbuches, sondern auch die moralökonomische Sichtweise der Kleinbürger und ihr Arbeitsethos subsumieren. Erworbenes, meist vor Ort für jedermann sichtbares Eigentum galt als Zeichen der beruflichen Fertigkeiten, des ehrlichen Handels und der persönlichen Verdienste, und sollte zugleich eine Art Unterpfand sein für die Ausübung des Berufes, das Recht auf Kundschaft, auf wirtschaftliche Sicherheit und moralische Anerkennung. Selbst im liberalen Großbritannien habe ein solcher, der Marktlogik entgegenstehender Anspruch im "Trade"-Begriff fortgelebt (267).

Nach einer klassischen Lesart wurde die soziale Identität der Kleinbürger von Fremdzuschreibungen genährt und konnte dank wachsender ökonomischer Abhängigkeit für fremde Interessen politisch instrumentalisiert werden. Auch die Autoren unterstreichen, daß angesichts der strukturellen Heterogenität der Mittelklassen den etwa von Parteien und Mittelstandspolitikern kommenden Zuschreibungen "eine besondere Bedeutung für die Konstruktion einer kleinbürgerlichen Identität" zukam (179).

Zugleich aber verweisen sie auf den über viele Jahrzehnte hinweg stabilen Grundbestand von Anschauungen und Werten, auf denen das kleinbürgerliche Selbstverständnis beruhte. Dazu gehörten die Vorstellung vom Gegensatz zur Oligarchie der reichen Spekulanten und Monopolisten, das Mißtrauen gegenüber zentralstaatlicher Gängelung, der Antifiskalismus, das Ideal lokaler Selbstverwaltung, die Bevorzugung der überschaubaren Gemeinschaft gegenüber einer vom anonymen Markt regulierten Gesellschaft, schließlich die moralische Auffassung von Eigentum, Wirtschaft und Arbeit. "Keines dieser Themen war eigentlich reaktionär", bemerken die Autoren und verweisen darauf, daß ähnlich lautende Diskurse in zeitlich oder räumlich verschiedenen Zusammenhängen zu unterschiedlicher Einordnung in das politische Links-Rechts-Schema führten. Sie reichte vom radikaldemokratischen Engagement in der 1848er Revolution über die reformliberal oder konfessionell motivierte Selbsthilfe- und Genossenschaftsbewegung bis hin zur Sympathie für rechtsextreme, antifiskalistische, antietatistische oder antibolschewistische Bewegungen im frühen 20. Jahrhundert.

Für die spätere Nähe zu faschistischen Bewegungen etwa in Italien, Deutschland, Österreich und zeitweise in Belgien war deshalb die soziale Konstitution und Mentalität des Kleinbürgers keine hinreichende Bedingung. Vielmehr gab dafür das Ensemble nationalgeschichtlicher Entwicklungen den Ausschlag. So verhinderten in Großbritannien konfessioneller Nonkonformismus und liberale Werthaltungen, in Frankreich die tief verankerten republikanischen Traditionen eine extrem rechte Orientierung der ihrem sozialen Selbstverständnis nach den vorgenannten durchaus ähnlichen Kleinbürger.

Die Gliederung des Werkes, das von der Beschreibung der Klasse über ihre Stellung im Wirtschaftsprozeß ausgeht, um sich dann ihrem familiären Institut und dem städtischen Umfeld, ihrer Definition durch die Politik, ihrer sozialen Abgrenzung und schließlich ihrer kulturellen Fremdwahrnehmung und Selbstinszenierung zuzuwenden, zeichnet in gewisser Weise einen Diskussionsprozeß nach, den die Sozialgeschichte unter dem Eindruck des liguistic turn in den letzten beiden Jahrzehnten vollzogen hat. Das Kleinbürgertum war äußerst heterogen und in weiten Teilen in seiner ökonomischen Stellung verunsichert, es "franste" sozial in vielen Bereichen nach unten und in wenigen nach oben "aus". Es war weder in seinen Arbeits- noch in seinen sonstigen Zusammenhängen räumlich abgeschlossen, sondern in das Leben der Städte und die Geselligkeit der unterschiedlichen Viertel und der dort lebenden Klassen und Schichten eingewoben. Wenn es also eine zahlenmäßig und gesellschaftspolitisch relevante Klasse gab, deren Konstitution davon abhing, daß sie als soziale Gruppe gedacht und diskursiv "gemacht" werden mußte, so war es das Kleinbürgertum.

Die von der Sozialgeschichte kommenden Autoren greifen die kulturgeschichtliche Anregung auf, um jene Fragen nach der Identität der Klasse zu beantworten, die eine überwiegend auf Produktions- oder Marktbeziehungen blickende Soziologie und Sozialgeschichte allein nicht lösen konnte. Deshalb analysieren sie eingehend die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Kleinbürger, ihre Rolle im Stadtviertel und im Netzwerk alltäglicher Geselligkeit, die Diskurse über "classe moyenne" und "Mittelstand" sowie die verächtliche Definition als "kleine", nachäffende "Bürger", die idealisierende Erinnerung an die regulierte Wirtschaft der Zünfte und die moralische Auffassung von Ökonomie und Staat. Das waren Ideen, aus denen die Kleinbürger ihr Selbstbild formten und mit deren Hilfe sie sich als Klasse unterscheiden ließen. Auf der anderen Seite sind die Autoren jedoch nicht bereit, die in den sozioökonomischen Verhältnissen liegenden Gründe für die Persistenz bestimmter Wahrnehmungsmuster zu vergessen: etwa das Zusammenfallen von Arbeit, Eigentum und Wohnen, das der Familie eine von ganz praktischer Arbeits- und Lebensbewältigung ausgehende, zentrale Stellung im Ideenhaushalt der Kleinbürger einräumte - bis hin zur gelegentlichen Repräsentation der idealen Gesellschaft als Familie und des Staates als strenger und gerechter Vater.

Der Darstellung und Selbstinszenierung der sozialen Gruppe wird demnach eine nicht weniger konstitutive Rolle eingeräumt als den ökonomischen und sozialen Handlungs- und Lebensumständen. Doch um derartig "wertvolle Hinweise neuer historischer Debatten aufzugreifen", so resümieren Haupt und Crossick ihr Vorgehen selbstbewußt, war es "nicht notwendig, den sozialgeschichtlichen Ansatz aufzugeben" (304).

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