H. Thieme (Hrsg.): Die Schöninger Speere

Titel
Die Schöninger Speere. Mensch und Jagd vor 400.000 Jahren


Herausgeber
Thieme, Hartmut
Erschienen
Stuttgart 2007: Theiss Verlag
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für Clio-online und H-Soz-Kult von:
Gerhard Trnka, Institut für Ur- und Frühgeschichte, Universität Wien

Mit vorliegendem Band werden einem breiten Publikum die bislang frühesten hölzernen Jagdwaffen und Holzgeräte der Menschheit vorgeführt. Die sensationellen Holzfunde lagen im südlichen Braunkohlentagebau Schöningen bei Helmstedt in Niedersachsen und wurden in den Jahren 1995 bis 1999 gefunden. Bereits das Jahr 1994 erbrachte neben Jagdüberresten einen an beiden Enden angespitzten Holzstab. Etwa zehn Meter tief unter der heutigen Oberfläche am Rande eines ehemaligen Sees sind derart ideale Erhaltungsbedingungen in den torfigen Muddeschichten mit Torfbedeckung gegeben, so dass die Speerfunde aus Fichtenholz (Speer IV war allerdings aus Kiefernholz gefertigt) sich hervorragend erhalten hatten. In Fundlage zusammen mit Knochen von etwa 20 Wildpferden und fertig zugerichteten Steingeräten war es naheliegende, hier einen Jagdaufenthaltsplatz des europäischen Frühmenschen (Homo erectus bzw. Homo heidelbergensis) zu postulieren. Das Ganze lag in über 20.000 ausgezeichnet erhaltenen Jagdbeuteresten (u.a. Wildpferd, Wisent, Rothirsch und Wildesel) mit Schnitt- bzw. Zerlegungsspuren auf einem zehn Meter breiten und über 50 Meter langen, parallel zum ehemaligen Seeufer verlaufenden Saum in dichten Konzentrationen. Die Bedeutung der Fundstelle erbrachte eine örtliche Einstellung des Abbaues und bis 2005 konnte dann diese auch komplett untersucht werden.

In dem Buch stehen die Speere im Vordergrund, wenngleich sämtliche pleistozäne Aspekte der erarbeiteten stratigraphischen Abfolgen von Schöningen behandelt werden. Von Hartmut Thieme stammen „Einleitung: Die Entdeckung von Schöningen“ (S. 17-34), wo die Landschaft und die Problematik des Braunkohletagebaues vorgestellt wird. Naturgemäß gab es nicht nur altsteinzeitliche Befunde und Funde, sondern auch solche aus dem Neolithikum (Jungsteinzeit), der Bronzezeit und Eisenzeit. Gegenstand der weiteren Betrachtungen sind aber die altpaläolithischen Schichten und Funde, welche in den größeren Tiefen angetroffen wurden.

Nach dem Kapitel „Das Eiszeitalter und seine Spuren im Tagebau Schöningen“ (S. 35-86) folgt „Eine neu entdeckte Warmzeit in Schöningen: Das Reinsdorf-Interglazial“ (S. 87-126), worin das 1991 erstmals angeschnittene mittelpleistozäne, warmzeitliche Schichtpaket mit fünf Folgen (Schöningen II) behandelt wird. Es weist eine einmalige Repräsentanz an Florenfunden. Ebenso ist die menschliche Präsenz in sämtlichen fünf Verlandungs- bzw. Uferfolgen des einstigen Sees belegt. Es gibt Befunde von menschlich zertrümmerten Großsäugerknochen, angebrannten Hölzern in Feuerstellen aus den Folgen 1-3 unterhalb der Speerfundstelle. Feuersteingeräte stammen aus den Folgen 2-3.

Von zentraler Bedeutung ist das Kapitel „Ein Befund von Weltbedeutung: Ein Wildpferd-Jagdlager vor 400 000 Jahren“ (S. 127-176). Thieme beschreibt die archäologische Bedeutung von der Entdeckung, dem Ausgrabungsverlauf und der Freilegung der Holzartefakte. Rudolf Musil bearbeitet die Wildpferdereste, die teilweise noch in ihrem anatomischen Verband lagen und wesentlich zur Interpretation als Jagdstation beitragen und in der Vollständigkeit der Erhaltung mancher Skelettteile in paläolithischen Verbänden bisher einmalig sind. Schaber überwiegen das Gerätespektrum. Interessant ist, dass es sich ausschließlich um fertige, teils überarbeitete und nachretuschierte Artefakte (von denen der Retuschierungsabfall vorhanden ist) handelt. Sie wurden speziell für die Bearbeitung und Zerlegung der Jagdbeute mitgebracht bzw. vorgefertigt. Detaillierter folgt die Behandlung der Holzartefakte und deren Interpretation (S. 144-157). Es sind acht Speere. Die Längen variieren zwischen 1,82 und 2,50 Meter mit einem maximalen Durchmesser bis zu 5 Zentimeter. Mit Ausnahme von Speer IV (Kiefer) sind alle anderen aus Fichte hergestellt. Es wurden sorgfältig entrindete und entastete Stämmchen verwendet. Die extrem fein ausgearbeiteten Spitzen wurden aus der Stammbasis geschnitzt. Auch die erhaltenen Basen (ursprünglicher Bäumchenspitzenbereich) erfuhren eine spitze Zurichtung, was mit ballistischen Gründen argumentiert wird. Dass es eindeutige Wurfgeräte sind, geht aus der Schwerpunktposition der Artefakte im vorderen Drittel des Speerschaftes hervor, mit einer Verjüngung nach hinten. Die Qualität der Zurichtung und Bearbeitung so perfekt ausgeführt, dass nicht einmal Schnitt- oder Schabspuren von den zur Herstellung verwendeten Feuersteingeräten vorhanden sind. Jahrringbreiten von durchschnittlich 0,5 Millimeter zeigen innerhalb des Reinsdorfer-Interglazials kühlere Umweltverhältnisse an. Das 1994 gefundene erste Holzartefakt wird als Wurfstock angesprochen. Ein angekohlter Fichtenholzstab von etwa 88 Zentimeter Länge ist nicht so sorgfältig zugerichtet. Seine Spitze weist auf acht Zentimetern eine angekohlte Stelle auf, so dass ein Zusammenhang mit den Feuerstellen (Stocherholz, Schürholz) bis hin zu einer Verwendung als Bratspieß einleuchtend ist.

Holzanatomische und klimabezogene Überlegungen durch Werner H. Schoch (S. 158-159) gehen auch auf Wachstumsstandorte und den damit verbundenen Waldbestand ein. Sportwissenschaftliche Betrachtungen durch Hermann Rieder (S. 159-162) weisen nach, welche Effizienz und Perfektion anhand experimenteller Versuche mittels nachgebauter Speere erzielt werden kann und Wurfweiten bis fast 100 Metern gestatten.

Wichtige kulturelle Überreste menschliche Präsenz stellen Feuerstellen dar. Diesen kommt bereits seit der Frühzeit des Menschen eine zentrale Bedeutung zu, da mit dem Feuer bzw. dem Unterhalt des Feuers grundlegende soziale und technische Errungenschaften verbunden sind. Im Fall von Schöningen 13 II-4 (S. 166-171 - Solveig Schiegl und Hartmut Thieme) sind Überreste von Feuerstellen durch eine hitzebedingte Rotfärbung des Sediments, verbunden mit Trocken- und Schrumpfungsrissen, nachzuweisen. Auch im Bereich des Jagdlagers waren solche rötliche Sedimentverfärbungen anzutreffen.

Im Kapitel „Überlegungen zum Gesamtbefund des Wildpferd-Jagdlagers“ versucht Hartmut Thieme das Jagdgeschehen und die weiteren Geschehnisse nach der Befundlage aufzuschlüsseln und jagdstrategisch zu rekonstruieren (S. 177-190). Der lediglich durch hohes Seggengras bewachsene Uferbereich stellte zusammen mit der aus dem Nordwesten bzw. Norden kommen Hauptwindrichtung eine günstige Position dar, in welcher die JägerInnen entsprechend nahe einer Pferdeherde auflauern konnten. Da die etwa 20 Pferdeüberreste ein angenommenes, einmaliges Jagdereignis vermitteln, sind die acht Jagdwaffen unterrepräsentiert.

Weitergehende Überlegungen zur Zerlegung und Nutzung der Jagdbeute zielen daraufhin, wie die große Menge an Frischfleisch nicht nur rasch, sondern auch dauerhaft verarbeitet werden konnte. Damit werden bereits verschiedenste Konservierungsmöglichkeiten wie Lufttrocknen, Räuchern und Rösten ins Spiel gebracht, womit auch mit dem hölzernen Bratspieß treffend argumentiert werden kann. Natürlich boten die Tiere auch wertvolle Rohstoffe in Form der Häute, des Knochenmarks aus den Langknochen, der Sehnen usw., was wohl erst nach der vollkommenen Aufarbeitung von den vielen tausenden Knochenfunden endgültig beantwortet werden kann. Aufgrund der relativen Ufernähe der Feuerstellen wie auch der demographischen Werte der Pferdereste scheint ein Zeitraum vom Spätsommer bis in den Herbst in Betracht zu kommen. Die menschliche Präsenz darüber hinaus (vielleicht bis in den Spätwinter) bewirkte wohl, dass fast kein Raubtierverbiss an den Knochen festzustellen ist.

Anschließend an diese eindrucksvollen Darlegungen ist mit Kapitel „Die altpaläolithische Fundstelle Schöningen 12 (Reinsdorf-Warmzeit)“ ein weiterer altpaläolithischer Aufschluss aus dem Optimum der Reinsdorf-Warmzeit und danach untersucht worden (S. 191-210). In zwei Fundschichten mit zahlreichen fossilen Tierresten wurden auch Feuersteingeräte und Astansatzstücke von Weißtanne mit eingeschnittenen Kerben, möglicherweise Klemmschäftungen, entdeckt.

Mit dem Kapitel „Die altpaläolithische Fundstelle Schöningen 13 I: der bisher älteste Siedlungsnachweis des Menschen in Niedersachsen“ (Hartmut Thieme S. 211-216) wird ein Fundplatz aus dem Holstein Interglazial (Schöningen I) vorgestellt. Eine Thermolumineszenzdatierung soll wesentlich älter als 400.000 Jahre sein. Ganz wichtig ist die von Dietrich Mania und Hartmut Thieme verfasste Abhandlung „Zur Einordnung der altpaläolithischen Fundhorizonte von Schöningen in die Erdgeschichte“ (S. 217-220). Die Reinsdorf-Warmzeit, in dessen späte Phase der Pferdejagdplatz (also nach dem Klimaoptimum) gehört, soll mit der Sauerstoffisotopenstufe (OIS) 11 der Tiefseekurve korrelieren; aufhorchen lässt die Bemerkung „im Gegensatz zu der jüngeren chronologischen Einstufung durch Brigitte Urban (siehe Abb. 55 auf S. 72) oder in letzter Zeit auch durch anderen Autoren.“ (S. 218, 220) Welche diese wären, wird allerdings nicht erwähnt. Es handelt sich um die Arbeit von Michael Baales und Olaf Jöris.1 Demzufolge wäre ein etwa 100.000 Jahre jüngeres Alter für Schöningen I-III zu veranschlagen.

Das Buch endet mit dem Thema „Das Wildpferd-Jagdlager von Schöningen mit den Jagdspeeren“ (S. 221-228), wo auf die Menschengattung von Homo erectus und seinen bisher bekannten Errungenschaften eingegangen wird, letztlich aber anhand der Speerfunde und seinen weiterführenden Implikationen für den europäischen Frühmenschen ein geistig viel höher zu veranschlagendes ‚Weltbild’ vorzunehmen ist und der „große Wurf“ bereits vor hundertausenden von Jahren stattfand.

Zusammenfassend hinterlässt das Buch einen prägenden Eindruck, was – abgesehen von den herausragenden Funden und Befunden – die inhaltliche wie optische Darstellung betrifft. Es werden sowohl FachkollegenInnen wie auch Fachfremde angesprochen und eingehend informiert. Wunderschöne Farbbilder, Graphiken und Abbildungen ergänzen die Texte in willkommener Form und geben ein instruktives Bild der Ereignisse und Abläufe vor 300 bis 400.000 Jahren wieder. Ebenso wird auch die Methode und Vorgehensweise der Archäologie in den Braunkohlenabbaue erläutert. Jedenfalls bleibt noch abzuwarten, was die weitergehenden Forschungen für neue Erkenntnisse und Überraschungen erbringen werden. Bis dahin sollte auch mehr Klarheit über die exakten altersmäßigen Einstufungen bestehen.

Anmerkung:
1 Michael Baales / Olaf Jöris, Zur Altersstellung der Schöninger Speere, in: J. Burdukiewicz u.a. (Hrsg.), Erkenntnisjäger. Kultur und Umwelt des frühen Menschen (Festschrift für Dietrich Mania), Veröffentlichungen des Landesamtes für Archäologie Sachsen-Anhalt 57 (2003), S. 281-288.

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