F. Lenger u.a. (Hrsg.): Medienereignisse der Moderne

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Titel
Medienereignisse der Moderne.


Herausgeber
Lenger, Friedrich; Nünning, Ansgar
Erschienen
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Meike Vogel, Schule für historische Forschung, Universität Bielefeld

Medienereignisse sind faszinierend – nicht nur für die Zeitgenossen, sondern auch für die Forschung. Die hohe Verdichtung von Kommunikation bietet die Chance, gesellschaftliche Debatten in den Blick zu nehmen oder gleichsam mit einer Sonde Kommunikationssituationen in kurzen Zeiträumen detailliert zu erfassen. Von der Prämisse, dass Medienereignisse für die Forschung einen hohen Erkenntnisgewinn versprechen, geht auch das Gießener Graduiertenkolleg „Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“ aus. Der vorliegende Band „Medienereignisse der Moderne“ ist aus einer vom Kolleg initiierten Ringvorlesung hervorgegangen. Die Herausgeber Friedrich Lenger und Ansgar Nünning orientieren sich in ihrer Einleitung an den Hypothesen des Gießener Forschungsprogramms.1 Wesentlich ist dabei die Annahme, dass Ereignisse, die im kollektiven Gedächtnis fest verankert sind, durch massenmediale Deutungen konstituiert werden.

Der Band behandelt zahlreiche jener Ereignisse, die gemeinhin als DIE Medienereignisse des 19./20. Jahrhunderts gelten (Thronjubiläen Königin Victorias, Kennedy-Ermordung, das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft in Bern 1954 bis zu 9/11), aber auch einige, deren Zugehörigkeit zum Kanon erst auf den zweiten Blick einleuchten, zum Beispiel die Ausstrahlung des amerikanischen Fernseh-Mehrteilers „Holocaust“. Das Ziel des Bandes sehen die Herausgeber nicht darin, jene Ereignisse, denen immense Medienaufmerksamkeit zuteil wurde und deren Charakteristika medial konstituiert sind, in einem Band zu versammeln. Vielmehr soll die „Funktionsweise verschiedener Typen von Medienereignissen in ihrem jeweiligen medienhistorischen Kontext“ (S. 10) untersucht werden. Medienereignisse weisen, so sind sich die Autorinnen und Autoren des Bandes einig, folgende Merkmale auf: Verdichtung gesellschaftlicher (transnationaler) Kommunikation; Rückwirkung des Medienereignisses auf die Entwicklung der Medien und eine große Bandbreite vieler verschiedener Medien der Erinnerung. Wie Frank Bösch in seinem Beitrag über den Untergang der „Titanic“ herausstellt, kann der „grenzübergreifende Mediendiskurs selbst als Ereignis“ gefasst werden (S. 80).

Es ist nicht verwunderlich, dass gerade die Beiträge über die Medienereignisse im 19. Jahrhundert die Bedeutung der Öffentlichkeit vor Ort betonen. Carola Dietze beschäftigt sich mit zwei Attentaten auf Wilhelm I. im Jahr 1878 und möchte diese sowohl außerhalb der Medien in der ‚direkten’ Öffentlichkeit und als Medienereignis in den Blick nehmen. Für den Kaiser wurden nach Bekanntwerden der Attentate Gottesdienste abgehalten und zahllose Geschenke sowie Beileidsbekundungen erreichten den Hof. Diese erhielten durch die Zeitungen auch überregional und international Bedeutung. Durch die Verknüpfung der direkten und massenmedialen öffentlichen Sphäre und durch zahlreiche quellenbelegte Reaktionen gelingt es Dietze, sich der Rezeptionsebene zu nähern. Sie erreicht damit ihr Ziel, das Publikum nicht aus dem Blick zu verlieren und darüber hinaus dessen Rolle als eigenständiger Akteur herauszuarbeiten. Für die Definition der Attentate als Medienereignisse wäre es allerdings meiner Ansicht nach nicht nötig gewesen, ‚direkte Öffentlichkeit’ und ‚Medienereignis’ zu trennen. Im Gegenteil: die Analyse gewinnt, wenn man sie beide als Teile eines Ereignisses betrachtet. Ansgar Nünning und Jan Rupp beschreiben ebenfalls, wie eine Versammlungsöffentlichkeit – in diesem Fall anlässlich der Thronjubiläen von Königin Viktoria Ende des 19. Jahrhunderts – von der Berichterstattung in Printmedien und Film sowie durch die zu diesem Jubiläum gedruckten Münzen, Drucke etc. ergänzt wurde. Gerade diese Transmedialität lasse Medienereignissen große Aufmerksamkeit zuteil werden. Anhand des ‚Diamond Jubliee’ von 1897 zeigen die Autoren, dass die Feierlichkeiten eine transnationale und performative Bedeutung hatten. Das Medienereignis verstärkte Viktorias Rolle als symbolische Verkörperung des britischen Empires.

Frank Bösch beschäftigt sich am Beispiel des Unterganges der Titanic ebenfalls mit den (Be-)Deutungen von Ereignissen und deren Wandelbarkeit. Bösch weist darauf hin, dass die Technikkritik, die später oft mit dem Mythos des Untergangs der Titanic verbunden war, zeitgenössisch keine so große Rolle spielte wie später in den 1970er-Jahren zur Zeit der neuen sozialen Bewegungen. Auch waren die Deutungen des Unglücks sehr viel differenzierter, als die häufige Erwähnung der ‚transnationalen Trauer’ es glauben macht. Schaut man sich die Berichterstattung genauer an, so sei ‚transnationale Trauer’ durchaus von nationalistischen Parolen begleitet gewesen. Die Deutungen des Unglücks unterschieden sich, je nach landes- und schichtenspezifischer Presse, sie spiegelten und beeinflussten die gesellschaftlichen Vorstellungen und Konflikte.

Die Beiträge von Peter Becker über die Olympischen Spiele 1936 und von Franz-Josef Brüggemeier über die Fußballweltmeisterschaft 1954 beschäftigen sich weniger mit den Deutungen und inhaltlichen Einordnungen durch die Medien. Im Vordergrund der Beiträge stehen vielmehr die Übertragungsmodalitäten und die Bedeutung technischer Innovationen. Olympia 1936 war das erste Sportereignis, das weltweit simultan im Radio übertragen werden konnte; und auch das Fernsehen machte seine ersten Gehversuche. Für das NS-Regime, so Becker, erfolgte die Selbstrepräsentation besonders über die herausragenden Medientechnologien und weniger als vermutet über eine nationalsozialistische Prägung der Spiele. 1954 beim Endspiel der Weltmeisterschaft in Bern hatten sich die technischen Möglichkeiten von Radio und Fernsehen noch weiter entwickelt, so dass sie durch die breit rezipierte Übertragung eine virtuelle Gemeinschaft schaffen konnten. Allerdings habe das Ereignis keine grundlegenden Werte verkörpert oder gar gestiftet, vielmehr habe die durch die Medien erzeugte Gemeinschaft das Ereignis nicht überdauert. Brüggemeier möchte damit die vermeintlich offensichtliche Deutung des „Wunders von Bern“ als (nationale) Identität stiftendes Ereignis relativieren. Die von ihm konstatierte Gemeinschaft war aber dennoch eine nationale, weshalb der Moment erlebter Nationalität nicht zu unterschätzen ist.

In seinem Beitrag über die Mondlandung setzt Lorenz Engell die Entwicklung des Fernsehens und der Raumfahrt auf interessante Weise miteinander in Beziehung. Dass der Mondflug für das Fernsehen eine willkommene Gelegenheit zur Darstellung seiner Möglichkeiten bot, ist bereits vielfach beschrieben worden. Engell verweist darauf, dass der Mondflug ohne das Fernsehen nicht möglich gewesen wäre, „weder technisch noch ökonomisch, weder politisch noch symbolisch“ (S. 152). Das Fernsehen schuf sich neben der Infrastruktur durch Satellitenaufbau – so Engell – quasi ein Monopol der Visualisierung, denn „tatsächlich konnte nur das Fernsehen die Nachfrage nach transparenter und visuell anregender Darstellung komplexer technischer Prozesse dauerhaft befriedigen“ (S. 157). Die Folgerung Engells, das Fernsehen sei erst durch die Mondlandung rekursiv und selbstreflexiv geworden, überzeichnet allerdings die Zäsur der Mondlandung und verkennt die Tatsache, dass das Fernsehen bereits vor 1969 „sein eigenes Vorkommen in der Welt“ (S. 168) reflektiert hatte.2

Heidmarie Uhl wendet sich als Historikerin wieder stärker den Mediendiskursen zu. Uhl zeichnet den Holocaust als „globalen Gedächtnisort“, den die gleichnamige Fernsehserie 1979 maßgeblich bestimmte. Am Beispiel Österreichs zeigt sie, dass nicht nur der Fernsehfilm, sondern vor allem die gesellschaftlichen Reaktionen darauf bereits erwartet wurden. Die Serie habe eine emotionale Debatte über den Antisemitismus in Österreich und über die Schuldfrage in Gang gesetzt. Uhl zeigt, dass auch ein mediales Produkt Auslöser eines Medienereignisses sein kann, das im Fall von „Holocaust“ für eine transnationale „Synchronisierung von Bildern und Narrativen“ (S. 189) sorgte.

Der anregende Beitrag von Claus Leggewie schildert die Kommunikationsstrukturen und Netzwerke von Al-Qaida und damit die Voraussetzungen eines medialen Ereignisses wie 9/11. Die oft analysierten Bilder und Medienberichte zum Ereignis selbst lässt er außen vor. Nicht eingehend betrachtet werden leider ebenfalls die im Untertitel angekündigten „medialen Spiegelungen eines freudig begrüßten Ereignisses“ in der arabisch-islamischen Welt, die laut Leggewie im Kontrast zur westlichen Berichterstattung eher dem Narrativ triumphaler Genugtuung folgten. Der letzte Beitrag des Bandes von Guido Isekenmeier, ebenfalls in Gießen entstanden, ist in erster Linie theoretisch orientiert und betrachtet die Formen des Realismus und deren Herstellung in den Massenmedien. Dabei betont er, dass Ereignis und Mediendiskurs nicht voneinander getrennt werden sollen und können, da nicht zu klären sei, ob die Darstellung der Form des Ereignisses, dem Medium oder der Ästhetik geschuldet sei. Deshalb könne nur das Zusammenspiel in den Blick genommen werden.

Folgt man beim Lesen der chronologischen Abfolge der einzelnen Beiträge, so wird nicht nur die rasante Entwicklung der Massenmedien deutlich, sondern auch die fundamentale Veränderung von Kommunikationssituationen, die mit dieser Entwicklung einherging. Um die „Funktionsweisen“ von Medienereignissen zu fokussieren, wären aber eine stärker thematisch orientierte Gliederung und eine etwas ausführlichere Einleitung sinnvoll gewesen. Zwar beschäftigt sich die Einleitung kurz mit dem titelgebenden Begriff der Moderne und setzt deren Beginn etwa um 1860 mit der Professionalisierung des Medienbereiches, einer Globalisierung und Simultanität der Nachrichtenverbreitung an. Hier stellt sich aber die Frage, inwiefern die massenmedial geprägten Kommunikationsräume die Moderne tatsächlich prägten oder diese ausmachten.

Einige Phänomene wie das der Transnationalität von Medienereignissen werden in nahezu allen Beiträgen erwähnt, in wenigen aber systematisch untersucht. Ebenso hätte man sich bei der (durchaus produktiven) Heterogenität der Beiträger über die kurzen Bemerkungen in der Einleitung hinaus ein Autorenverzeichnis gewünscht. Davon abgesehen, verdeutlicht der Band eindrücklich, wie Massenmedien die (politische) Kommunikation des 19./20. Jahrhunderts prägten. Die Beiträge zeigen, dass vielfältige Herangehensweisen und Perspektiven möglich sind und eine Schärfung des Erkenntnisinteresses von Nöten ist. Hier bieten die weitgehend sehr gut lesbaren Texte zahlreiche Anregungen, sowohl in inhaltlicher als auch in theoretischer Hinsicht. Für uns, die wir als Rezipienten Medienereignisse wahrnehmen, bietet der Band interessante Erkenntnisse über die Entstehung und Wandelbarkeit medialer Deutungen, und er ermöglicht die Reflexion unserer eigenen Lesart. Dieses Erkenntnispotential geht weit über die im Band vorgestellten historischen Ereignisse hinaus.

Anmerkungen:
1 Forschungsprogramm des Graduiertenkollegs „Transnationale Medienereignisse“ <http://www.uni-giessen.de/cms/fbz/dfgk/tme/forschungsprogramm> (29.05.2009).
2 Diskussionen über die Formen und Modi der Berichterstattung lassen sich bereits seit Mitte der 1960er-Jahre beobachten. Anlässlich des Medienereignisses „1968“ werden diese Selbstreflexionen besonders deutlich. Vgl. Meike Vogel, Unruhe im Fernsehen. Auseinandersetzungen über die Berichterstattung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in: Peter Schwirkmann / Peter Paul Kubitz (Hrsg.), Staatsmacht und Öffentlichkeit – wie frei war das Fernsehen 1968?, Berlin 2008, S. 87f. Vgl. an zeitgenössischen Stellungnahmen die Beiträge in: Christian Longolius (Hrsg.), Fernsehen in Deutschland. Gesellschaftspolitische Aufgaben und Wirkungen eines Mediums, Mainz 1967.

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