C. Vismann: Akten. Medientechnik und Recht

Titel
Akten. Medientechnik und Recht


Autor(en)
Vismann, Cornelia
Reihe
Fischer Wissenschaft
Erschienen
Frankfurt a.M. 2000: Fischer Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Meier, Staatsarchiv

Wenn eine Zeit vorbei ist, wird sie zum Gegenstand der Geschichte. Zu den Dingen, die derzeit einen vermutlich epochalen Wandel durchmachen, gehoert die papierbasierte Aktenfuehrung in den oeffentlichen Verwaltungen. Ihr Zeitalter ist abgeschlossen. Die 1998 im Bonner Kanzleramt verschwundenen Akten markieren dabei die alte Epoche, denn bisher fuehrte noch jeder Herrschaftswechsel zum Versuch, Herrschaftswissen durch Vernichtung seines Speichermediums Papier zu loeschen. Der aktuelle Wandel in der Buero- und Informationstechnik hat dagegen das erklaerte Ziel, papierene Akten gar nicht erst entstehen zu lassen. Die Geschichte dieses Mediums kommt an ihr Ende. Cornelia Vismann hat sie geschrieben.

Entstanden ist ein ganz famoses Buch. Es besticht durch die Zusammenfuehrung von Disziplinen und Gedanken, die bislang wenig voneinander wussten. Man kann diese Spannweite bereits den Fussnoten entnehmen: hier stehen Derrida, Levi-Strauss und (ein bisschen) Luhmann neben den Archivklassikern Johannes Papritz und Heinrich Otto Meisner (von denen man gar nicht angenommen hatte, sie wuerden ueberhaupt von irgend wem gelesen), Alt- und Rechtshistoriker (genannt sei nur Michael Stolleis) neben Mediaevisten (Peter Classen, und - fuer das Buch wichtig - Ernst Kantorowicz) und Verwaltungshistorikern. Alle diese Zitate und Verweise stehen im Dienst eines Gedankens: Das Recht, und mit ihm der sich als das Spezifikum der abendlaendischen Geschichte entwickelnde Rechtsstaat, braucht ein Medium, um mit sich selbst und den Untertanen oder Staatsbuergern zu kommunizieren. Vismann untersucht nun sowohl Medien wie Kommunikationsformen und zeigt, welchen Einfluss diese aufeinander haben.

Was das Recht sei, zeigt die Autorin anhand zweier beruehmter Geschichten. Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" berichtet von einem Mann, der bereits den ersten Tuerhueter "vor dem Gesetz" nicht ueberwinden kann und schliesslich sterben wird, ohne sein Recht erhalten zu haben. Er stellt nicht die Frage nach der Legitimitaet des Tuerhueters, und dies vielleicht aus gutem Grund. Denn der Anspruch des Rechts, befolgt zu werden, ist nach dem Verschwinden religioeser oder moralischer Begruendungen im 20. Jahrhundert selbstreferentiell: die Autoritaet begruendet sich nicht. Die "Schranken", die das Recht errichtet, sind folglich vor allem ein Produkt ihrer kommunikativen Vermittlung, zu denen in Kafkas Fall natuerlich auch das Schweigen gehoert.

Der zweite zu Beginn des Buchs vorgestellte Text ist Melvilles Erzaehlung "Bartleby" (1853). Bartleby handelt vom Verschwinden der Kanzleien am Ende des 19. Jhs und vom Verschwinden des Kopisten Bartleby, dessen Lebensfunktionen sich immer mehr auf ein sinnloses Kopieren von Schriftstuecken beschraenken, waehrend die Schreibmaschine Leute seiner Art ueberfluessig macht. Bartleby steht also fuer die Medientechnik, wie Kafka fuer das Recht steht.

Nachdem die Literatur den Rahmen abgesteckt hat, wendet die Autorin sich der Geschichte der Akten als Geschichte des Rechts zu. Sie beginnt in der Antike, bei magistratischen Befehlen und senatorischen Consulti und deren mythischem Vorgaenger, dem Zwoelftafelrecht. Mit der Expansion des roemischen Reichs wird in den Provinzen schliesslich nur noch das zu einer offiziellen Handlung, was dort in Papierform ankommt. Das Medium wird zum Teil dessen, was Recht ist. Einmal in der Welt, wird dieses Papier in Archiven gespeichert und dient der Gegenwart zur Legitimation. Schon im Rom des Prinzipats waren die mores maiorum zentraler Bezugspunkt politischer Argumentationen. Justinian schliesslich laesst alles, was Recht ist, sammeln und in den nach ihm benannten Codex eingehen. Damit war ein Kanon des Rechts entstanden, der Europa bis heute praegt. Und die materiale Gestalt des Codex symbolisiert die Vorstellung von Abgeschlossenheit; die Idee eines festen Corpus von Anweisungen und Regeln, mit deren Hilfe man alles beurteilen koenne. Vismann entwickelt von hier aus auch die Entstehung der Fiktion vom Urtext, ein philologisches Phantasma, dessen Charisma bis heute manche Forschung inspiriert.

Als naechster Schritt der Aktenentwicklung wird die sizilische Kanzlei Friedrichs II. vorgestellt. Sie beendet das Mittelalter, die aktenlose Zeit der Urkunden. Ausgangspunkt ist die Registertechnik: Auslaufregister mit Datum, Empfaenger und einem Regest als Inhaltsangabe ermoeglichen es der Kanzlei, ihre erledigten Faelle in Erinnerung zu behalten. Der Gedanke, das Aktenwesen habe von Registern seinen Ausgang genommen, ueberzeugt auch auf anderen Gebieten: Register von Gueterbesitz und erfolgten Abgaben, Lagerbuecher, oder Register von Grundstuecksbesitzern wie die Koelner Schreinskarten des 12. Jahrhunderts stehen auch andernorts am Beginn der schriftgestuetzten Verwaltung.

Von Friedrich II. geht es weiter zu Maximilian II. Der Buchdruck wurde erfunden und ermoeglicht die Arbeit mit vorgefertigten Formularen. Am Beispiel der Type von Maximilians Theuerdank-Druck zeigt die Autorin, wie sich ein Schrifttyp (die spaetere Schwabacher) gewissermassen von der Reichskanzlei aus im ganzen Reich durchsetzt. Jetzt beherrschen Juristen die Kanzleien und definieren, was Recht ist. Im Barock schliesslich entstehen verbindliche Ordnungssysteme fuer alle Bereiche des Lebens, man denke nur an hoefisches Zeremoniell, die Entwicklung der Bau- und Gartenkunst oder die Sprachgesellschaften.

Alle diese Systeme produzieren Papier, das gesammelt und archiviert wird. Legitimation von Herrschaft muss ueber den schriftlichen Nachweis erfolgen. Es ist die Zeit der Aktenversendungen und der endlosen Prozesse vor dem Reichskammergericht. Zugleich entsteht die Urkundenlehre als Hilfsmittel zur Entlarvung von Faelschungen. Vismannn schliesst die Epoche ab mit einem Blick auf das Geheime Preussische Staatsarchiv in Berlin. Um 1870 begann man hier, die Archivbestaende analog zur Geschichte der Behoerden zu organisieren. Die Bestaendeuebersicht des Archivs bildet dann gewissermassen organisch den Staat in seiner Geschichte ab. Das Archiv wird Arcanum und Symbol des Staates. Archivare arbeiten noch heute nach diesem Provenienzprinzip und versuchen, moeglichst intakte "Archivkoerper" herzustellen. Ob diese Art der aktiv betriebenen Ueberlieferungsbildung das Verschwinden der Akten ueberdauern wird, bleibt abzuwarten.

Die Ausfuehrungen zum 20. Jahrhundert sind vor allem den technischen Neuerungen gewidmet. Am Anfang stehen Stehordner und Telefon, es folgt die Bueroreform der zwanziger Jahre mit der Einfuehrung der Sachbearbeiter-Registratur, am Ende kommen Computer und Digitalisierung. Mit Ausfuehrungen ueber das Stasi-Unterlagengesetz und einem Heiner-Mueller-Zitat ("die Akten, meine unteren Organe") endet der historische Durchgang.

Als Integration von Rechts-, Verwaltungs- und Mediengeschichte steht das Buch singulaer da. Es empfaengt den Leser mit grosser Geste und fuehrt ihn von der Antike bis in unsere Tage. Zu beanstanden waeren nur Kleinigkeiten: so war Johannes Papritz nicht "Direktor der preussischen Archive" (S. 130), eine solche Position hat es nie gegeben und wenn, waere ihr in den 30er Jahren Albert Brackmann als Generaldirektor nahegekommen (vgl. Torsten Musial, Staatsarchive im Dritten Reich, Berlin 1996, S. 31 ff. und 190). Nicht ueberzeugt hat mich auch die grosse Bedeutung, die die Autorin dem Cancellieren beilegt, dem Ungueltigmachen von Schriftstuecken als Gegenstueck zu ihrer rechtlichen Validitaet - das duerfte es in dieser Form nicht gegeben haben.

Kafka und Melville haben uebrigens eine Fortsetzung in der Figur des Bartlebooth aus George Perecs Roman "Das Leben. Gebrauchsanweisung" (1978). Nicht mehr Recht oder Kanzleien stehen hier im Mittelpunkt, denn wir befinden uns im Jahrhundert der Individualisierung, sondern es geht um Erinnerung, also die historische Funktion der Akten. Bartlebooth, ein schwerreicher Millionaer, verbringt sein Leben nach einem strengen Plan mit Reisen und malt Hafenansichten, die er nach Paris schickt. Dort zerschneidet ein Puzzlemacher die Bilder, die Bartlebooth dann in der zweiten Haelfte seines Lebens wieder zusammensetzt (ein Ordnungsvorgang), um sie im Anschluss restlos zerstoeren zu lassen. Kein Papier soll zurueckbleiben. Ziel ist das vollkommene Vergessen. Aufgrund eines Scherzes des Puzzlemachers - ein Teilchen passt nicht - scheitert Bartlebooth mit diesem Plan des Vergessens ebenso wie Kafkas Figur vor dem Gesetz und Bartleby bei dem Versuch, durch Kopieren zu bewahren.

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