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Titel
"God save Ulster!". Selbstverständnis und nationale Identität der "Protestant community" Nordirlands


Autor(en)
Seibert, Sebastian
Reihe
Region - Nation - Europa 48
Erschienen
LIT 2007: LIT Verlag
Anzahl Seiten
104 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Keisinger, SFB 437 - "Kriegserfahrungen", Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Nation und Nationalismus erlebten seit dem Ende des Kalten Krieges eine von vielen Beobachtern nicht für möglich gehaltene Renaissance. Zahlreiche neue Nationalstaaten sind seither entstanden. Nationalitätenkonflikte, zum Teil friedlich, zum Teil blutig ausgetragen, wurden seit den 1990er-Jahren erneut feste Bestandteile der europäischen Politik. Die Sowjetunion zerfiel in eine Vielzahl von Einzelstaaten, das Ende Jugoslawiens brachte Konfliktlinien zum Vorschein, die Europa bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert – Stichwort: ‚orientalische Frage’ – in Atem gehalten hatten. Jüngst folgten die Kosovaren dem Vorbild Sloweniens, Kroatiens, Makedoniens, Montenegros und Serbiens und begründeten einen eigenen Nationalstaat.

Sebastian Seibert beschäftigt sich in dieser nur rund 100-seitigen Studie, die auf den Ergebnissen seiner Magisterarbeit beruht, mit dem irischen Fall. Genauer gesagt geht es ihm um die nationale Identität und das Selbstverständnis nordirischer Protestanten seit Ende des anglo-irischen Krieges und der daraus resultierenden Teilung der Insel im Jahr 1921. Dass es sich bei der Protestant community Nordirlands nicht um eine allgemein anerkannte Nation handle, so Seibert in der Einleitung, mache den Fall besonders interessant. Womit hat man es zu tun, so die zentrale Frage des Bandes, wenn von der protestantischen Gemeinschaft Nordirlands die Rede ist? Kann die nordirische Protestant community tatsächlich als eine quasi-nationale Einheit aufgefasst werden? Oder ist nicht nach wie vor die Identifikation mit Großbritannien ausschlaggebend, wenn es um die Konstruktion von nordirisch-protestantischer Identität geht?

In der Forschung werden diese Fragen kontrovers diskutiert. David Miller betonte in seiner Studie Queen’s Rebels von 1978, dass sich die Protestant community Nordirlands weder in die britische noch in die irische Nation integriert habe noch eine eigene Nation darstelle.1 Jennifer Todd sah sich veranlasst, zwischen Ulster Loyalists und Ulster British zu differenzieren. Für die ersteren sei die Identifikation mit Großbritannien zweitrangig, während für die Ulster British die enge Bindung an Großbritannien einen zentralen Bestandteil ihrer Identität ausmache.2 In Anlehnung daran formulierte Michael Gallagher für Nordirland eine Drei-Nationen-Theorie. Demnach gebe es in Nordirland drei unterschiedliche nationale Identitäten: Irisch, Britisch und Ulster.3

Seibert unterteilt seine Studie in zwei Kapitel. Im ersten Teil, der beinahe die Hälfte des Bandes umfasst, beschäftigt er sich intensiv mit den Klassikern der Nationalismusforschung, von Ernest Renan über Maurice Halbwachs bis zu Anthony D. Smith und Benedict Anderson. Es handelt sich dabei um einen durchaus interessanten und gut lesbaren Überblick zu den unterschiedlichen Theorien von Nation und Nationalismus, jedoch wird eine Querverbindung zum eigentlichen Thema der Arbeit, der nationalen Identität und dem Selbstverständnis nordirischer Protestanten, nicht hergestellt. Einzig die Hervorhebung von Religion und Kultur als wesentliche identitätsstiftende Faktoren geben einen Hinweis auf die besondere Problematik, mit der man es bei der irischen Frage zu tun hat. Erst im zweiten Kapitel wird darauf näher eingegangen, wobei, nachdem der Analyse zunächst ein Schnelldurchlauf durch die nordirische Geschichte seit 1921 vorangestellt wird, sich die Ausführungen zum eigentlichen Thema auf rund 30 Seiten beschränken. Für eine Publikation in Buchform eine etwas magere Ausbeute.

Dennoch erweist sich die Lektüre als anregend. In partieller Abgrenzung zu Todd und auch Gallagher kommt Seibert zu dem Ergebnis, dass sich die Identität der Protestant community Nordirlands gerade über den Wunsch nach einer Aufrechterhaltung der Union mit Großbritannien herausgebildet hat, da eine zu weitläufige kulturelle und nationale Anlehnung an die irische Identität einer Vereinigung mit dem Süden Vorschub geleistet hätte. Eine wichtige Rolle spielte (und spielt) der Protestantismus, der mit Freiheit und Demokratie assoziiert und zum Bollwerk gegen einen dogmatisch-fundamentalistischen Katholizismus stilisiert wurde (und nach wie vor wird). Damit liefert die Religion den zentralen Baustein zur Identitätsstiftung nordirischer Protestanten und gleichzeitig das entscheidende Abgrenzungsmerkmal gegenüber dem katholischen Süden. Dieser Gegensatz schafft weit über das Religiöse hinaus soziale, kulturelle und vor allem politische Sinngehalte. Die "Ethnisierung der Religion" überdeckt interne theologische Differenzen und wirkt somit in einer Weise identitätsstiftend, die weit über den Bereich der Kirche und des Religiösen hinausreicht. Entsprechend verschwimmen im nationalen Selbstverständnis und Geschichtsbild nordirischer Protestanten religiöse und ethnisch-nationale Aspekte. Und gerade darin erkennt Seibert die Spezifizität einer nordirischen Identitätskonstruktion, nämlich zum einen die Besonderheit der eigenen Gemeinschaft herauszustellen und diese gleichzeitig als britisch und Teil des Königreichs zu imaginieren. Zwar kann mit Blick auf die Protestant community Nordirlands noch nicht von einer erfolgreich abgeschlossenen Nationskonstruktion gesprochen werden, zahlreiche Indikatoren, die in eine solche Richtung weisen, sind laut Seibert jedoch erkennbar. So nimmt die Zugehörigkeit zur Protestant community im Prozess nationaler Identitätsstiftung eine klar dominierende Position gegenüber anderen, zum Teil überlagernden Identitäten ein. Dass den nordirischen Protestanten ein erfolgreicher Abschluss ihrer Nationsbildung dennoch nicht gelungen ist, sieht Seibert vor allem im problematischen Verhältnis zu Großbritannien begründet. Denn sowohl in der irischen wie auch britischen Außenwahrnehmung handelt es sich bei den Nordiren eben in erster Linie um Iren, und nicht um Vertreter einer eigenständigen nordirischen Nation.

Vor allem im letzten, analytischen Teil seiner Studie kann Seibert überzeugen, was den Leser für einige Längen in der ersten Buchhälfte entschädigt. Zwar liefert der Band kein neues Quellenmaterial, und auch viele der Schlussfolgerungen liefern nicht wirklich Neues, dem Autor ist es aber dennoch gelungen, einen dichten und durchaus lesbaren Band über die Konstruktion von Selbstverständnis und nationaler Identität in der Protestant community Nordirlands zu schreiben, in dem die Probleme, die diesen Prozess begleiten, dem Leser klar und einleuchtend vor Augen geführt werden.

Anmerkungen:
1 Miller, David W., Queen’s Rebels. Ulster Loyalism in Historical Perspective, Dublin 1978.
2 Todd, Jennifer, Two Traditions in Unionist Political Culture, in: Irish Political Studies 2 (1987), S. 1-26.
3 Gallagher, Michael, How many nations are there in Ireland?, in: Ethnic and Racial Studies 18 (1995), 4, S. 715-739.

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