H. Wagner (Hrsg.): Die Geschichte des Nordwestdeutschen Rundfunks

Cover
Titel
Die Geschichte des Nordwestdeutschen Rundfunks. Band 2


Herausgeber
Wagner, Hans Ulrich
Erschienen
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Behmer, Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung, Ludwig-Maximilians-Universität München

Seit dem Jahr 2000 arbeitet am Hans-Bredow-Institut die „Forschungsstelle Geschichte des Rundfunks in Norddeutschland“ als Kooperationsprojekt mit dem Norddeutschen Rundfunk (NDR), dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) und der Universität Hamburg. 2005 hat sie (nach und neben vielen Aufsätzen) einen ersten Ergebnisband zur Geschichte des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) vorgelegt.1 Nun edierte sie einen zweiten Band mit 21 Beiträgen von zwölf Autorinnen und Autoren (mit fünf Texten vertreten ist Knut Hickethier, je drei Aufsätze steuerten Janina Fuge, Christoph Hilgert und Hans-Ulrich Wagner bei) und schloss damit, wie der Herausgeber und Forschungsstellenleiter Hans-Ulrich Wagner im Vorwort betont, ihre Arbeit zum NWDR „vorerst ab“ (S. 10). Standen im ersten Band die Organisations- und die Institutionsgeschichte im Vordergrund2, so bietet der zweite Band vielfältige Facetten insbesondere zur Programmgeschichte erst des NWDR-Hörfunks, dann des Fernsehens.

Detailreich nachgezeichnet werden in den beiden mit je rund 40 Seiten längsten Aufsätzen des Readers die Informationssendungen und politischen Programmangebote (von Janina Fuge und Christoph Hilgert) sowie die musikalischen Bestandteile (von Andreas Vollberg) des NWDR-Hörfunks. Kürzere „Fallstudien“ gibt es beispielsweise zum Sport im Hörfunk- und im Fernsehprogramm, zum Schul-, Kirchen- und Frauenfunk im Radio, zu Bildung und Kultur wie auch zu unterhaltenden und Rat gebenden Angeboten im Fernsehen und zum Fernsehspiel. So ergibt sich insgesamt ein umfassendes Bild von der Programmkonzeption und von den journalistischen Leistungen im nordwestdeutschen Nachkriegsrundfunk bis 1955. Auch Probleme werden deutlich herausgearbeitet. So etwa – durchaus weiter aktuell – das mitunter schwierige Verhältnis der Medien zu Parteienvertretern, bei denen noch vielfach mindestens „Überreste einer virulent kulturpessimistischen Tradition“ vorherrschten, die den Rundfunk als „ein der Politik zur Verfügung stehendes Führungsmittel der ‚Massen’“ (S. 141) begriff. Immer wieder wird exemplarisch belegt, wie dementsprechend in die Programmgestaltung hineinzuwirken versucht wurde, zum Beispiel indem vorgeblich einseitige Kommentare scharf kritisiert wurden oder die Absetzung von Kabarettprogrammen gefordert und auch erreicht wurde.

Nichtsdestotrotz „lebte“ der Sender, wie die Autorinnen und Autoren ebenfalls immer wieder betonen, „demokratische Diskurskultur vor“ (S. 113). Die Programmverantwortlichen sahen sich primär im Auftrag „einer unbeirrten Erziehung der Rundfunknutzer“ (S. 65). In allen Programmbereichen stand der Reeducation-Gedanke im Vordergrund. Geschichtssendungen waren konzipiert als „Gegengeschichte zum Nationalsozialismus“ (S. 174), Ziel des Frauenfunks war es, „die Frauen für die Demokratie zu sensibilisieren und sie dazu anzuhalten, sich sozialpolitisch zu engagieren“ (S. 197) und so fort. So hatte es insgesamt „Priorität, Angebote zu liefern, die […] die Mehrheit der Deutschen befähigen sollten, an einer demokratisierten Gesellschaft teilzuhaben. Hier zählte zunächst nicht, was der Hörer eigentlich von ‚seinem’ Sender einforderte. Stattdessen bot der größte Sender Westdeutschlands an, was seiner Ansicht nach das Publikum zu interessieren habe“ (S. 165). Die Hörererwartungen (und bald auch die der Zuschauer) waren freilich, damals wie heute, andere: „Entspannung, Ablenkung, Zerstreuung, Vergnügen – mit diesen Erlebniskategorien sahen sich die Programm-Macher des NWDR konfrontiert“ (S. 207). Diese Bedürfnisse suchten sie folglich insbesondere in ihren Unterhaltungsangeboten zu bedienen, und das durchaus erfolgreich. Viele der in den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren in Hamburg und Köln entwickelten Formate prägten nachhaltig die weitere mediale Entwicklung: Quiz und Familienserien, Talkprogramme, Fernsehshows und auch schon Kochsendungen. Gerade das Fernsehen stand aber von Beginn an wegen seiner „Unterhaltungsorientierung“ in der Kritik. Schon bei der Eröffnung des neu gebauten Fernsehhauses im Oktober 1953 hielt NWDR-Generaldirektor Adolf Grimme entgegen: „Wir sollten uns […] davor hüten, das Programm mit tierisch – am Ende gar noch moralingesäuert – ernster Fracht zu überladen. Freudiger Ernst erschließt die Herzen sicherer. Die heiter-ernste Unterhaltung hat darum im Programm ein legitimes Recht“ (S. 320). „Ein allgemeiner Kulturverfall durch die Fernsehunterhaltung“, so meint Joan Kristin Bleicher gleichsam augenzwinkernd, blieb dann auch „bis heute aus“ (S. 334).

„Eingeleitet“ sind die programmgeschichtlichen Beiträge mit je einem prägnanten Abriss von Knut Hickethier zur Technikgeschichte erst des NWDR-Hörfunks, dann des Fernsehens. Etwas aus dem konzeptionellen Rahmen fallen vier als „Positionsbestimmungen“ deklarierte, zu Beginn des Bandes positionierte Aufsätze zur Wirtschafts- und Finanzgeschichte des nordwestdeutschen Großsenders (von Mark Lührs) und – stärker noch – zur Rundfunkschule des NWDR (von Dietrich Schwarzkopf), zur Etablierung der Hörerforschung (von Hans-Ulrich-Wagner) und zur Gründung und frühen Entwicklung des Hans-Bredow-Instituts (von Dieter Roß). Interessant sind diese rundfunkhistorischen „Misszellen“ aber allemal. Deutlich wird zum Beispiel immer wieder die Bedeutung einzelner Persönlichkeiten für die Etablierung neuer Ansätze und die Entwicklung von Institutionen, so von Wolfgang Ernst für die angewandte Publikumsforschung und von Gerhard Maletzke, der als „ein Glücksfall“ (S. 64) für das Hans-Bredow-Institut vorgestellt wird.

Insgesamt liefert der Band umfassende, anschaulich informierende Einblicke gerade in das Programm des NWDR und seine vielfältigen Angebote. Eine allgemeine Einordnung, eine Zusammenschau der vielen Einzelaspekte erfolgt allerdings nur sehr knapp im dreiseitigen Vorwort und nur eher beiläufig werden die Hörer und Zuschauer thematisiert – Rundfunkrezeption ist jedenfalls in keinem der zwei Bände zur Geschichte des NWDR ein Schwerpunkt. Wurde im ersten Band noch ein Personenregister vermisst, so wird dies nun für beide Bände „nachgereicht“. Wünschenswert wäre auch eine Gesamtbibliographie – Literaturhinweise findet man nur in den (sorgfältigen) Anmerkungen am Ende jedes Beitrags.

Ein zeitlich abgeschlossenes Objekt ist ein dankbarer Gegenstand für den Historiker. Der 1945 gegründete, 1955 aufgelöste NWDR ist ein solches Objekt – und seine Geschichte ist nun durch die Hamburger Forschungsstelle gründlich aufgearbeitet, wesentliche Aspekte sind in den beiden Bänden sorgfältig dokumentiert. Für weitere Detailstudien bleibt freilich immer noch Raum – etwa zur Programmnutzung, zur Rolle einzelner Persönlichkeiten oder zum Weiterwirken bestimmter, im NWDR grundgelegter Entwicklungslinien in den Nachfolgeorganisationen NDR, WDR und Sender Freies Berlin (SFB). Manche Ansätze dazu findet man beispielsweise im opulenten (freilich weniger wissenschaftlichen) dreibändigen „Jubiläumsreader“, den sich der WDR 2006 zu seinem fünfzigjährigen Bestehen „gegönnt“ hat.3

Anmerkungen:
1 Peter von Rüden / Hans-Ulrich Wagner (Hrsg.), Die Geschichte des Nordwestdeutschen Rundfunks. Band 1, Hamburg 2005.
2 Siehe dazu Rolf Steininger: Rezension zu: Peter v. Rüden / Hans Ulrich Wagner (Hrsg.), Die Geschichte des Nordwestdeutschen Rundfunks, Hamburg 2005. In: H-Soz-u-Kult 15.05.2006. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-2-106>.
3 Klaus Katz u.a. (Hrsg.), Am Puls der Zeit. 50 Jahre WDR. 3 Bde. (Bd. 1: Die Vorläufer 1924-1955. Bd. 2: Der Sender. Weltweit nah dran 1956-1985. Bd. 3: Der Sender im Wettbewerb 1985-2005), Köln 2006.

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