Titel
Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971 - 1989


Autor(en)
Wolle, Stefan
Erschienen
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reichel, Thomas

Dieses Buch ist ein Zwitter. Zum einen hat Stefan Wolle als Zeitzeuge, der zu Beginn der "Ära Honecker" an der Ost-Berliner Humboldt Universität studierte und - nach zwischenzeitlicher Relegation vom Studium - anschließend bis zum Ende der DDR als Historiker an der Akademie der Wissenschaften tätig war, ein "Buch des Abschieds" geschrieben. Diese sehr persönliche Perspektive bekräftigend, beansprucht der Autor, daß darin "alles erlaubt" sein müsse - von "Zärtlichkeit und Haß" bis zu "Trauer und Zorn" (S. 14).

Auf der anderen Seite handelt es sich um ein Auftragswerk der Bundeszentrale für politische Bildung, in dem für ein möglichst breites Publikum ein wissenschaftlich fundierter Überblick über Staat und Gesellschaft der DDR in den letzten beiden Jahrzehnten ihrer Existenz geboten werden soll. Diese zum Teil widerstreitenden Voraussetzungen machen das ohnehin nicht ganz einfache Vorhaben von vornherein zu einem schwierigen, spannungsgeladenen Projekt. Entstanden ist dennoch ein über weite Strecken ausgesprochen gut lesbares Buch, das auf knapp 350 Seiten, ergänzt durch eine ausführliche Zeittafel und ein Verzeichnis weiterführender Literatur, einen breiten Überblick zur Geschichte der DDR in den 1970/80er Jahren gibt. Daß Stefan Wolle diese Arbeit auf sich genommen hat - angesichts des kurzen Zeitabstandes und des bislang vergleichsweise geringen Forschungsertrages, der aber in den nächsten Jahren deutlich anwachsen dürfte - (jetzt schon) ein solches Buch zu verfassen, ist um so begrüßenswerter, als viele potentielle Autoren aus guten Gründen abwinken würden, obwohl der Band zweifellos eine "Marktlücke" besetzt.

Was also bekommt der Leser geboten? Dem Prolog folgt ein "Wandel und Kontinuität" überschriebener chronologischer Abriß der zweiten Hälfte der DDR-Geschichte, bevor in sechs stärker systematisch angelegten Abschnitten Staat und Gesellschaft des ostdeutschen "Realsozialismus" betrachtet werden.

Der erste dieser Teile soll von der "DDR und Europa" handeln. Im wesentlichen geht der Autor darin auf verschiedene Dimensionen der deutsch-deutschen Beziehungen und die Abhängigkeit des SED-Regimes von der Sowjetunion ein. Angesichts der Überschrift diese Abschnittes vermißte der Rezensent allerdings die Verortung im bipolaren System der Blockkonfrontation einschließlich des KSZE-Prozesses, dessen Bedeutung für den Niedergang der kommunistischen Herrschaft in Ost- und Mitteleuropa evident ist. Die Frage, ob es eine gute Idee war, in einem nicht allzu dicken Buch nach ohnehin nicht zu erreichender Vollständigkeit in der Breite der Darstellung zu streben, drängt sich besonders angesichts des dritten Teils über "Strukturen der Macht" auf. Im Schnelldurchlauf vermag Wolle über SED, Blockparteien, Massenorganisationen und Staatsapparat bestenfalls zu wiederholen, was in diversen Handbüchern und Lexika bereits mehrfach aufgeschrieben wurde.

Weit interessanter und anregender sind dagegen jene Überlegungen, die der Autor im vierten Teil zum Zusammenhang von "Macht und Geheimnis" anstellt. Tatsächlich gehörten die systematische Unterdrückung von (autonomer) Öffentlichkeit, die rigide, verlogene Informationspolitik und die massive Einschränkung der Meinungsfreiheit zu den zentralen Mechanismen der Herrschaftssicherung in der DDR. Entsprechend trug ihre sukzessive Infragestellung und Perforation zur Aushöhlung der Macht des SED-Regimes bei. Informativ und lesenswert sind auch die Ausführungen über die "Inszenierung der Macht", etwa am Beispiel der Weltfestspiele 1973 in Ost-Berlin.

In dem folgenden, mit ca. 65 Seiten umfangreichsten (Groß-)Kapitel wendet sich Wolle den Komplexen Gesellschaft und Wirtschaft zu. Diverse Tabellen und Statistiken - beispielsweise zu Renten, Geburtenentwicklung, Frauenbeschäftigung und -einkommen - illustrieren anschaulich diesen interessanten Aufriß zu einigen wichtigen Feldern der Sozial- und Wirtschaftspolitik der SED.

Zu recht wird darin u.a. an die sehr niedrigen (Mindest-)Renten in der DDR und den daraus resultierenden geringen materiellen Lebensstandard vieler älterer Menschen erinnert sowie der gelegentlich noch immer gepflegte Mythos von der Gleichberechtigung der Frauen im "Arbeiter- und Bauernstaat" als solcher entlarvt. Anhand weniger Zahlen macht Wolle sichtbar, daß die weibliche "Hälfte" der DDR-Gesellschaft zwar ab Mitte der 1970er Jahre knapp 50 Prozent der Hoch- und sogar mehr als zwei Drittel der Fachschulabsolventen stellte, aber ganz überwiegend in den unteren Lohn- und Gehaltsgruppen beschäftigt wurde, während sie in den besser bezahlten - und mit mehr Macht ausgestatteten - Positionen deutlich unterrepräsentiert war und "nebenbei" nach wie vor das Gros der (natürlich unbezahlten) Arbeiten im Haushalt erledigte.

Ein (nur) kurzes Unterkapitel ist explizit dem "Alltag" gewidmet. Unter der Rubrik "'Sie werden plaziert!' oder die heimliche Herrschaft der Verwalter des Mangels" wird zwar prägnant eine wichtige Dimension des alltäglichen Lebens in der "realsozialistischen Konsumgesellschaft" geschildert, aber in Anbetracht des Untertitels auf dem Buchdeckel erscheinen nicht einmal zehn Seiten zu diesem Thema ein bißchen mager. Freilich kommt Alltägliches auch in anderen Passagen des Textes vor; doch verweist dies darauf, daß der Autor sowohl mit der sehr feinen Untergliederung in weit mehr als einhundert Kapitelchen als auch mit einigen der Überschriften nicht unbedingt ein "glückliches Händchen" hatte. Deutlich ins Auge sticht auch die gelegentliche Widersprüchlichkeit in Wolles Darstellung und Bewertung. Zum Beispiel malt er am Ende seiner Ausführungen zum Alltag in der DDR folgendes Bild: "Über dem Land lag der Duft von selbstgebackenem Pflaumenkuchen, ewigen Kaffeekränzchen und miefiger Gemütlichkeit. Jeder gestaltete sich seine eigene Welt, kämpfte weniger um die Befreiung der Menschheit als für die Begrünung des Hinterhofes oder den Bau eines Buddelkastens. Nicht mehr die großen Weltentwürfe standen zur Debatte, sondern die kleinen, dafür mit großer Ernsthaftigkeit behandelten Dinge des Lebens." (S. 221)

Wer meint, der Autor hätte hier den Rückzug in die vielzitierten Nischen beschrieben, wird beim Weiterlesen überrascht sein. "Die DDR besaß keine Nischen. Ihre Gesellschaft war bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet." (S. 338) Ist die zuerst zitierte Beobachtung falsch oder die resümierende Bewertung überzogen oder fehlt nur die Vermittlung zwischen ihnen? Löst sich diese Widersprüchlichkeit als vermeintlich auf, wenn man hinzufügt, daß es sich lediglich um zwei grundverschiedene Perspektiven auf ein und denselben Gegenstand handelt, die nur schwerlich zur Deckung zu bringen sind?

In den beiden letzten Teilen und einem abschließenden Epilog werden auf immerhin gut einhundert Seiten Krise und Untergang der DDR dargestellt. Zumal aus der Retrospektive ist es sicher gerechtfertigt, diesem Themenkomplex einen Großteil des Buches zu widmen. Ganz gewiß sind die Ausbürgerung Wolf Biermanns, die Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz, das Verhältnis von Kirche und Staat, die Entwicklung der Friedensbewegung und der oppositionellen Gruppierungen, die Auswirkungen von Glasnost und Perestrojka sowie die Ausreisebewegung ebenso wichtige Aspekte der "Ära Honecker", wie die anderen in diesen Kapiteln behandelten Fragen.

Nur läßt ein Buch, das mit "Alltag und Herrschaft in der DDR" überschrieben ist, den Leser etwas unbefriedigt zurück, wenn im Hinblick auf den allmählichen Zusammenbruch dieses Staates die Existenz einer "'schweigenden Mehrheit' der politisch Indifferenten" konstatiert und der so charakterisierten Bevölkerungsmehrheit lediglich attestiert wird, daß "sie sich wohl dabei befand", von "ihrem" Staat entmündigt worden zu sein (S. 334). Betont Stefan Wolle nicht eingangs, daß sich die Geschichte der DDR "nur 'von unten' erzählen" ließe (S. 21)? Wie erklärt er aber, daß die Arbeiterschaft, die am 17. Juni 1953 den Aufstand gegen das SED-Regime angeführt hatte, sich in nennenswerter Zahl erst Ende 1989 in die Demonstrationszüge einreihte, als sich deren Motto von "Wir sind das Volk" zu "Wir sind ein Volk" verschob? Welche Wandlungen haben sich da vollzogen zwischen diesen beiden Fixpunkten der DDR-Geschichte? Da fehlt so mancher Zwischenschritt und praktisch gänzlich eine Analyse der z.T. subtilen Veränderungsprozesse in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft im ostdeutschen "Realsozialismus".

Es drängt sich die Vermutung auf, daß (Selbst-)Ironie im Spiel sein muß, wenn der Autor unter der Überschrift "Ende und Verklärung der DDR-Opposition" zu dem Schluß kommt, daß "ein paar hundert Schmuddelkinder aus den Kellern der Gemeindehäuser und ein gutes Dutzend evangelischer Pastoren die waffenstarrende Diktatur überwunden hätten. Und doch hat es sich so und nicht anders abgespielt." (S. 340 f.) Auch wenn er einige Sätze weiter noch nachschiebt, daß "ohne die Entspannungspolitik und den Umbruch in der Sowjetunion" die "Opposition nicht zum Zuge gekommen" wäre, gerät hier die Gewichtung der unterschiedlichen historischen Faktoren ziemlich durcheinander.

Das Dilemma der eingangs beschriebenen Konstellation beim Schreiben diese Buches zieht sich wie ein roter Faden durch fast den gesamten Text. Wolle ist am besten, wenn er sich und die Leser in oft durchaus typischen Anekdoten, Witzen und Episoden an das Leben in der DDR unter Honecker erinnert und dabei glänzend unterhält. Er bleibt viel schuldig, wenn es um Analysen und plausible Erklärungen geht. Natürlich wäre es zu viel verlangt, wollte man - von wem auch immer - nicht einmal zehn Jahre nach der friedlichen Revolution und dem Zusammenbruch der SED-Diktatur eine auch nur annähernd vollständige Untersuchung und schlüssige Interpretation zu Staat und Gesellschaft der DDR in den 1970/80er Jahren erwarten. Dieser Maßstab soll auch nicht an Wolles Buch angelegt und dessen Wert als ein erster wichtiger Versuch dies (dennoch) zu tun, nicht geschmälert werden.

Trotzdem kann sich der Rezensent noch ein paar kritische Bemerkungen nicht verkneifen. Der Historiker Stefan Wolle tut sich und seinem Buch keinen Gefallen, wenn er im Prolog beinahe losgelöst von jeglichen methodischen und inhaltlichen Diskussionen der Zeitgeschichtsschreibung auf teilweise abenteuerliche Weise darüber doziert, wie "der Historiker" die DDR-Geschichte erforschen und darstellen soll und damit einen Anspruch formuliert, den er keineswegs einlöst; zumal er selbst schon früh einräumt, daß "die Fragen und Meinungen des Autors eher aus dem Erleben als aus dem Studium der Quellen geboren" sind (S. 22).

Da scheint es müßig hinzuzufügen, daß diesem Buch - vielleicht mit Ausnahme einiger Stasiakten - keinerlei Quellen zugrunde liegen, die üblicherweise herangezogen werden, wenn es um Alltags-Geschichte geht; also beispielsweise die Überlieferung von Parteien, Massenorganisationen, staatlichen Stellen und Betrieben von der Bezirksebene abwärts sowie Oral-History-Interviews. Schließlich hätte Wolles Darstellung sicher nicht darunter gelitten, wenn der Forschungsstand nicht nur sporadisch berücksichtigt worden wäre.

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