U. Lucarelli: Exemplarische Vergangenheit

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Titel
Exemplarische Vergangenheit. Valerius Maximus und die Konstruktion des sozialen Raumes in der frühen Kaiserzeit


Autor(en)
Lucarelli, Ute
Reihe
Hypomnemata 172
Erschienen
Göttingen 2007: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 64,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Klingenberg, Institut für Geschichte und Kunstgeschichte, Technische Universität Berlin

Valerius Maximus zählt zu den antiken Autoren, die häufiger in Fußnoten erwähnt werden, aber weitaus seltener größere Aufmerksamkeit erhalten. Mitverantwortlich war das Proömium, in dem der Autor seine Sammlung von exempla als eine Art Handbuch für die Rhetoriklehre präsentiert. Dagegen wendet sich nun Ute Lucarelli in ihrer von Hans-Joachim Gehrke betreuten Freiburger Dissertation. Sie kritisiert die Benutzung von Valerius Maximus als „Quellen-Steinbruch der althistorischen Forschung“ (S. 19).

Damit ist bereits einer der Kernpunkte ihrer Arbeit benannt. Wie Lucarelli betont, ist der Kontext des ganzen Werkes auch für die Interpretation eines einzelnen exemplum wesentlich. Das Werk zeige daher nicht nur einen rein aufzählenden Sammlungscharakter, sondern sei vielmehr als Ganzes zu betrachten, dem darüber hinaus eine eigene Aussage zugrunde liege. Es sei darauf angelegt gewesen, im Zusammenhang gelesen zu werden (S. 20). Die „Konstruktion des sozialen Raumes“, so zeigt bereits der Untertitel des Buches, steht dabei im Mittelpunkt der Ausführungen. Die Verfasserin erkennt in den sozialen Beziehungen eine Hauptthematik bei Valerius Maximus, die sie dementsprechend zum Thema ihrer Arbeit erhebt. Wie sie in ihrem ersten Kapitel (S. 11-24) darlegt, das auch einen Überblick über die bisherige Forschung zu Valerius Maximus umfasst, geht es ihr dabei um die Veränderungen dieser Relationen, die sich besonders aus den Bürgerkriegen der spätrepublikanischen Geschichte ergeben hätten. Die sozialen Beziehungen bei Valerius Maximus teilt Lucarelli für ihre Analyse in verschiedene Rubriken ein, die sich in ihrer Gliederung niederschlagen. Bei den Familien- und Verwandtschaftsverhältnissen bildet das Vater-Sohn-Verhältnis einen eigenen Schwerpunkt (S. 37-129), während die „weiteren Verwandtschaftsbeziehungen“ (S. 130-209) nicht so umfangreich behandelt werden. Nach einer Zusammenfassung der Zwischenergebnisse (S. 210-213) zeigt sie dann, wie die „übrigen Nahbeziehungen“ bei Valerius Maximus dargestellt werden.

Als „Teil des frühkaiserzeitlichen Normendiskurses“ sieht sie das Werk des Valerius Maximus in erster Linie „als eine Quelle für die Zeit seiner Entstehung“ (S. 288). Einen Quellenwert für die Zeit der Republik, aus der die meisten exempla entnommen sind, spricht sie ihm jedoch weitgehend ab. Während man in der älteren Forschung die Abweichungen von der historischen Realität meist als Irrtümer oder Ungenauigkeiten des vor allem als exzerpierenden Autor verstandenen Valerius Maximus betrachtete, geraten diese in der vorliegenden Arbeit – soweit dies nachvollziehbar ist – zu bewussten Umdeutungen und Umstrukturierungen. Zu einem Schlüsselbegriff wird dabei die ‚Inszenierung‘, der sich auf beinahe jeder Seite wieder findet. Inszeniert, also als Aussagekern dargestellt, werden Verhaltensweisen, Wertbegriffe und Normkonzepte wie etwa pietas oder pudicitia, aber eben auch soziale Beziehungen. Der Inszenierung stellt die Verfasserin die ‚Kontingenz‘ gegenüber, worunter sie eine mittelbare Erwähnung sozialer Beziehungen in exempla versteht, für deren Kern sie nicht notwendig wären. Zu der von Lucarelli herausgearbeiteten Einbettung in den Normendiskurs gehört als wesentlicher Zug, dass Valerius Maximus in dieser Weise nicht nur eine Bestandsaufnahme von Wertvorstellungen vorgenommen, sondern durch „strukturierende und sinnstiftende Eingriffe“ (S. 177) einen genuinen Normenkosmos geschaffen habe. In der Tat hatten exempla in der römischen Kultur zur Vermittlung oder Untermauerung bestimmter Tugenden und Verhaltensweisen einen hohen Stellenwert, wie die Autorin auch in ihrer gelungenen Definition verdeutlicht (S. 24-35). Der besondere Beitrag von Valerius Maximus zeige sich vor allem an den Stellen, wo es keine traditionellen Verhaltensmuster gab oder namhafte Beispiele fehlten, für die Valerius dann weniger bekannte oder gar namenlose exempla heranziehen musste.

Die von der Verfasserin als Ziel benannte und im letzten Kapitel (S. 292-299) auch umgesetzte Einordnung in den historischen Kontext der tiberischen Zeit bleibt aber nach der Meinung des Rezensenten etwas schemenhaft. Dass die Bürgerkriege und die im Vergleich zur Republik veränderten Machtverhältnisse der Kaiserzeit auf die Struktur der sozialen Beziehungen gewirkt haben, ist sicher richtig. Allerdings lag 14 n.Chr., als Tiberius die Nachfolge des Augustus antrat, die Bürgerkriegszeit mittlerweile bald zwei Generationen zurück. Die Zahl derer, die diese Periode noch bewusst miterlebt hatten, war nicht mehr groß.1 Valerius Maximus zählt gewiss nicht dazu, und daher sei hier die Frage nach der Verortung des Autors gestellt: Der zugegebenermaßen reichlich enigmatische Valerius Maximus tritt in der vorliegenden Studie nahezu vollständig hinter seinem Werk zurück. Vereinzelte Selbstbezüge geben jedoch einige Indizien zum Autor, die auch für die Aussage des Werkes nicht ganz ohne Belang sein dürften. So erwähnt er einen Sextus Pompeius, den er nach Kleinasien begleitet habe, bei dem es sich um keinen anderen als den Consul des Jahres 14 n.Chr. handelt.2 Er war verwandt mit Augustus und stand auch Tiberius nicht fern.3 Valerius hebt seine Freundschaft mit Pompeius hervor, die sich auch in der Unterstützung bei seinen Studien geäußert habe.4 Ein weiterer Bezug auf eine politische Realität wird von Lucarelli kurz erwähnt (S. 241, Anm. 665), ohne indes zu weiteren Schlüssen zu führen. Es handelt sich um eine heftige Invektive gegen den zeitweise quasi allmächtigen Prätorianerpräfekten Seian, die erst nach dessen Fall im Jahr 31 n.Chr. denkbar erscheint. Eine stärkere soziale und politische Verortung des Valerius Maximus wäre daher durchaus wünschenswert gewesen.

Dies hätte Lucarellis Antwort auf die Frage nach dem Adressaten stützen können, den sie offensichtlich in der gesamten „frühkaiserzeitlichen Aristokratie“ erkennt. Indes hat die Position W. Martin Bloomers, Valerius Maximus habe sich vor allem an Aufsteiger aus den lokalen Eliten gerichtet, einiges für sich.5 Dem widerspricht die Verfasserin und betont, auch in der etablierten Aristokratie hätten durch den Blutzoll der Bürgerkriege „die überlieferten Formen der Vermittlung von Traditionen nur noch selten zur Verfügung stehen“ können (S. 21, Anm. 31). Bei dieser etwas pauschalen Aussage ist aber wohl Skepsis angebracht.

Die Ergebnisse der Arbeit von Ute Lucarelli liefern wichtige Anregungen für die weitere Forschung zu Valerius Maximus und seiner Exempla-Sammlung. Hinsichtlich seines Quellenwertes wird man künftig genauer hinsehen: Ob also Valerius Maximus auch für die Republik als Quelle herangezogen werden kann, bedarf weiterer Diskussion. Die vorliegende Studie bezieht hier klar Position und stellt damit einen wertvollen Beitrag zu dieser Frage wie auch zu Valerius Maximus selbst dar. Die anderen Themenfelder seines Werkes jenseits der sozialen Beziehungen bieten Gelegenheit, diesen Aspekt weiter zu vertiefen.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Bemerkungen von Tacitus zu den letzten Jahren des Augustus (ann. 1,3,7).
2 Val. Max. 2,6,8; zu Pompeius vgl. PIR² P 584; Vogel-Weidemann, Ursula, Die Statthalter von Africa und Asia in den Jahren 14–68 n. Chr., Bonn 1982, S. 258–266.
3 Cass. Dio 56,29,5; Tac. ann. 1,7,2.
4 Val. Max. 4,7 ext. 2b.
5 Bloomer, W. Martin, Valerius Maximus and the Rhetoric of the New Nobility, Chapel Hill 1992.

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