S. Banach: Der Ricklinger Fürsorgeprozess 1930

Titel
Der Ricklinger Fürsorgeprozess 1930. Evangelische Heimerziehung auf dem Prüfstand


Autor(en)
Banach, Sarah
Reihe
Frauen- und Genderforschung in der Erziehungswissenschaft, hgg. von Sabine Hering, Maria Anna Kreienbaum, Anne Schlüter, Band 5
Erschienen
Opladen & Farmington Hills 2007: Barbara Budrich Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kurt Schilde, Universität Siegen

Die Fürsorgeerziehung von 'auffälligen' Kindern und Jugendlichen – von Detlev Peukert treffend als Sozialdisziplinierung bezeichnet1 – befand sich seit den 1920er-Jahren in der Krise. Das 1928 publizierte Buch 'Jungen in Not' von Peter Martin Lampel skandalisierte sie: Der Autor hatte als Hospitant in der Erziehungsanstalt 'Struves Hof' bei Berlin Erlebnisberichte von Fürsorgezöglingen gesammelt und veröffentlicht. Auf diesem Buch beruhte das ab 1929 kontrovers diskutierte Theaterstück 'Revolte im Erziehungshaus'.2 Die Fürsorgeerziehung wurde zum Gegenstand mehrerer Prozesse, die eine große mediale Aufmerksamkeit fanden: 1930 standen das Landerziehungsheim der Stadt Berlin in Scheuen (heute: Celle) und die Erziehungsanstalt Rickling (zwischen Neumünster und Oldesloe) sowie 1932 die Erziehungsanstalt Waldhof-Templin (Brandenburg) im Mittelpunkt.3 Der nun von Sarah Banach rekonstruierte Ricklinger Fürsorgeprozess richtete sich – wie im Fall Waldhof-Templin – gegen Erzieher eines Heimes der Inneren Mission (heute Diakonisches Werk). Mit ihrer Studie liegt erstmals eine wissenschaftlich fundierte Darstellung zu einem der großen Fürsorgeprozesse der Weimarer Republik vor. Banach thematisiert einen Wendepunkt in der Geschichte der deutschen Heimerziehung, der damals weit über die Fachöffentlichkeit hinaus große Aufmerksamkeit fand, weil "anstelle der Darstellung der Anstaltsleitung erstmals der Beschwerde von Fürsorgezöglingen über die skandalösen Zustände im Heim von Seiten des Gerichts Glauben geschenkt wurde" – so die Herausgeberin Sabine Hering über die von ihr betreute Dissertation im Vorwort.

Zum besseren Verständnis der Vorgeschichte des Ricklinger Fürsorgeprozesses nähert sich Banach ihrem Thema zunächst über einen Exkurs zur Fürsorgeerziehung in der Weimarer Republik und eine kritische Reflektion der theologischen Grundlagen der Fürsorgeerziehung des Heimträgers Landesverein für Innere Mission für männliche Zöglinge in Rickling. Gestützt auf umfangreiches, von Banach teils erstmalig ausgewertetes Quellenmaterial aus dem Archiv des Landesvereins – darunter Bestände zu den Mitarbeitern und den Zöglingen – sowie aus dem Landesarchiv Schleswig-Holstein in Schleswig – z.B. die Akten der Heimaufsicht im Bestand der Provinzialverwaltung – rekonstruierte sie den Prozess wie das ihm vorausgegangene Geschehen. Ergänzend hat Banach zeitgenössische Fachzeitschriften und monografische Veröffentlichungen berücksichtigt.

Aufgedeckt wurden die Missstände durch den ehemaligen Fürsorgezögling Wilhelm Ehlers, nachdem sich bereits 1921 einige entwichene Jungen beim Hamburger Verein ehemaliger Fürsorgezöglinge über schlechte Behandlung und unzureichendes Essen beschwert hatten. Die Rekonstruktion der Biografie von Ehlers erfolgte auf der Basis der über ihn angelegten Fürsorgeakten und der von ihm verfassten Erinnerungen: Der 1904 in Itzehoe Geborene verlor früh seine Mutter und wurde 1921 wegen drohender 'sittlicher Verwahrlosung' aufgrund von Diebstahl, Umhertreiben und Unterschlagung in die Fürsorgeerziehungsanstalt Rickling eingewiesen. In dieser zwischen 1902 und 1911 errichteten Einrichtung musste der 17jährige Buchdrucker- und Setzerlehrling bis zum Erreichen der Volljährigkeit 1925 bleiben. Die Fürsorgeerziehung erfolgte – wie die von Banach aufgefundenen Quellen erschütternd belegen – durch unqualifiziertes Personal, das seine Aufgabe in der Vermittlung von christlichen Werten, Patriarchalismus, Repression, Arbeitserziehung, Gehorsam und Disziplin sah. Der Alltag war streng reglementiert und von Andachten und Gebeten sowie Arbeit in unterschiedlichen Werkstätten, in der Landwirtschaft sowie bei der Moorkultivierung bestimmt. Körperliche Züchtigungen wurden trotz des staatlichen Verbots regelmäßig angewendet, ebenso Beschimpfungen. Ehlers‘ Rebellion gegen die Missstände half ihm nicht: Die Verweigerung von medizinischer Hilfe nach einem Arbeitsunfall resultierte gar in der Amputation eines Fingers – ein großes Handicap für einen Buchdrucker und Setzer.

Der Jugendliche wandte sich mehrfach an den früheren Heimleiter, Pfarrer Johannes Voigt, und wünschte von ihm neben der Wiedergutmachung für den amputierten Finger Respekt und vor allem die Anerkennung seiner Leiden. In dem Briefwechsel zwischen dem tiefgläubigen Pastor und dem nichtgläubigen Fürsorgezögling – auf beider Biographien wird ausführlich eingegangen – standen sich zwei gegensätzliche Persönlichkeiten gegenüber: Banach hat herausgearbeitet, dass der Pastor den nichtchristlichen rebellischen Jungen für unglaubwürdig hielt und ihn nicht als Opfer seiner vom christlichen Missionsgedanken inspirierten Fürsorgeerziehungsarbeit wahrnahm. Deshalb konnte es Ehlers weder gelingen, eine Entschädigung für seinen verlorenen Finger zu erhalten, noch ernst genommen und anerkannt zu werden.

Der ehemalige Fürsorgezögling wandte sich also an die Öffentlichkeit: Er schrieb an die SPD-Fraktion des preußischen Landtages, an den preußischen Minister für Volkswohlfahrt und schließlich an die Presse: Am 3. April und am 23. Juni 1928 erschienen seine Artikel in der Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung über die Zustände im Fürsorgeerziehungsheim Rickling, in denen er seine Erfahrungen und die Erlebnisse eines ehemaligen Zöglings beschrieb und die körperliche Züchtigung verurteilte.

Aufgrund dieser Initiativen begann die Kieler Staatsanwaltschaft zu ermitteln mit der Folge, dass am 14. Dezember 1929 drei 'Erzieher' wegen der Misshandlung von Fürsorgezöglingen angeklagt wurden. Der am 25. April 1930 beginnende Prozess offenbarte die auf der Aussage von mehreren (ehemaligen) Zöglingen basierenden massiven Misshandlungen durch die drei Angeklagten, die alle über keine abgeschlossene Erzieherausbildung verfügten. Sie hatten die in Rickling bestehende Möglichkeit der Qualifizierung nicht genutzt, die allerdings nur wenig sozialpädagogische Inhalte bot. Am 26. April 1930 fielen die Urteile: Da den Angeklagten strafmildernd zugute gehalten wurde, dass sie ihren Aufgaben offensichtlich nicht gewachsen waren, kamen sie mit Gefängnisstrafen zwischen vier Monaten und zwei Wochen davon. Dass es überhaupt zu einer Verurteilung kam, war damals eine Sensation: Das Gericht hatte den Fürsorgezöglingen nicht von vornherein jegliche Glaubwürdigkeit verweigert. Als besonders zuverlässig galten die Aussagen von Ehlers. Eine Berufungsverhandlung im Juni 1931 endete mit einem Vergleich. Im gleichen Jahr musste das Ricklinger Fürsorgeerziehungsheim geschlossen werden, da der Prozess und die Berichterstattung darüber die skandalösen Zustände der evangelischen Fürsorgeerziehung offenbart hatten: Ausnutzung der Zöglingsarbeitskraft, völlig ungeeignetes Personal und unzureichende Leitung der Anstalt, militärischer Drill und Schläge trotz Prügelverbot.

Zusammenfassend ist festzustellen: Das Gerichtsverfahren hatte erstmals in aller Öffentlichkeit auf den "Widerspruch zwischen der Existenz fachlicher sozialpädagogischer Standards und der ausschließlich theologisch begründeten Fürsorgeerziehungsarbeit" (S. 17) aufmerksam gemacht. Es fand in einem Spannungsfeld gegensätzlicher Sichtweisen statt. Der Landesverein für Innere Mission als Träger des Fürsorgeheims vertrat ein theologisch konservatives Menschen- und Weltbild und hielt an tradierten Behandlungsmethoden fest: Die Evangelisation nichtchristlicher Fürsorgezöglinge, die als 'schlechte Menschen' gesehen wurden, erfolgte mit dem Ziel, sie 'zum Glauben zu bekehren' – wenn es sein musste, mit Hilfe von Prügel.4 Die mit dem Prozess – nicht zum ersten Mal – sichtbar gewordene Krise der Fürsorgeerziehung entwickelte sich zu einem Skandal, der wesentlich von der kommunistischen Presse nicht nur gegen die Kirche, sondern vor allem gegen den 'Hauptfeind Sozialdemokratie' funktionalisiert werden konnte: Das Versagen der Fürsorgeerziehung bildete einen Angriffspunkt gegen die sozialdemokratische Jugendpolitik im Besonderen wie die SPD als politische Partei im Allgemeinen.

Die Autorin hat das Beispiel des Ricklinger Prozesses als Chance für eine kritische Darstellung der Fürsorgeerziehung in der Weimarer Republik gut genutzt. Dass Banach der Darstellung der jugendpolitischen, personalen, juristischen und theologischen Rahmenbedingungen so viel Platz einräumt, ist für das Verständnis dieses besonderen Prozesses sehr hilfreich. Durch die Berücksichtigung der Vor- und Wirkungsgeschichte kann die Autorin dessen beispielgebende Bedeutung aufzeigen: Die Missstände in der evangelischen Fürsorgeerziehung gelangten an die Öffentlichkeit, ihr Erziehungsverständnis wurde in Frage gestellt. Der Ricklinger Fürsorgeprozess markierte in diesem Sinne das Ende der repressiven Heimerziehung bis 1933. Allerdings folgte dem Skandal – abgesehen von der Schließung des Ricklinger Heimes – bis zur Machtübernahme der NSDAP 1933 keine Reform der Heimerziehung mehr. Im nationalsozialistischen Deutschland wurde die Willkür in der Fürsorgeerziehung mit der Errichtung von Jugendkonzentrationslagern auf die Spitze getrieben.5 Der Ricklinger Prozess bildete den letzten Höhepunkt der Diskussionen über die Krise der Fürsorgeerziehung. Aber auch nach dem Untergang des Nationalsozialismus sollten noch viele Jahre vergehen, bis grundlegende Veränderungen in der 'öffentlichen Erziehung' – so der neue Terminus – durchgesetzt werden konnten.

Die von Banach vorgelegte erziehungswissenschaftliche Dissertation fordert dazu heraus, sich weiter mit der Geschichte der Fürsorgeerziehung zu befassen. Den Nutzen der Studie erhöhen die im Anhang enthaltenen weitergehenden Informationen über die handelnden Personen und angesprochenen Institutionen sowie abgedruckte Quellen wie die 'Hausordnung für die Ricklinger Fürsorgeerziehungsanstalten', Dienstanweisungen für die Erzieher und Beispiele der Berichterstattung zum Prozess.

Abschließend setzt sich Banach – die früher mehrere Jahre in der Heimerziehung tätig war – für das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung, für die individuelle Betreuung verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher sowie für pädagogisch gut ausgebildetes Personal in Jugendhilfeeinrichtungen und insbesondere in der Heimerziehung ein.

Anmerkungen:
1 Peukert, Detlev, Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 bis 1932, Köln 1986.
2 Vgl. Lampel, Peter Martin (Hrsg.), Jungen in Not. Berichte von Fürsorgezöglingen, Berlin 1929; ders., Revolte im Erziehungshaus. Schauspiel der Gegenwart in drei Akten, Berlin 1929.
3 Vgl. Webler, Heinrich, Das Berliner Landerziehungsheim in Scheuen, in: Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt 23 (1931/32), 32, S. 206-210; Hinz-Wessels, Annette, Zur Krise der Fürsorgeerziehung in der Weimarer Republik. Der Prozess gegen die evangelische Erziehungsanstalt Waldhof-Templin, in: Hofmann, Wolfgang; Hübener, Kristina; Meusinger, Paul (Hrsg.), Fürsorge in Brandenburg. Entwicklungen – Kontinuitäten – Umbrüche, Berlin 2007, S. 341-368. Vgl. meine Besprechung in: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-2-070> (Zugriff: 25.4.2008).
4 Es hat sich leider gezeigt, dass 'Schläge im Namen des Herrn' auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg ausgeteilt wurden. Vgl. Wensierski, Peter, Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik, München 2006.
5 Vgl. Neugebauer, Manuela, Der Weg in das Jugendschutzlager Moringen. Eine entwicklungsgeschichtliche Analyse nationalsozialistischer Jugendpolitik. Mönchengladbach 1997; Guse, Martin; Kohrs, Andreas; Vahsen, Friedhelm: Das Jugendlager Moringen - Ein Jugendkonzentrationslager, in: Otto, Hans-Uwe; Sünker, Heinz (Hrsg.), Soziale Arbeit und Faschismus. Volkspflege und Pädagogik im Nationalsozialismus, Bielefeld 1986, S. 321-344.

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