E. Schwinge: Komplexität und Transparenz

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Titel
Komplexität und Transparenz. Thukydides: Eine Leseanleitung


Autor(en)
Schwinge, Ernst-Richard
Reihe
Bibliothek der Klassischen Altertumswissenschaften, Neue Folge, 2. Reihe 121
Erschienen
Anzahl Seiten
182 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heinz-Günther Nesselrath, Seminar für Klassische Philologie, Georg-August-Universität Göttingen

Mit dem vorliegenden Buch knüpft Schwinge an einen Aufsatz von 1996 an.1 Sein in der kurzen Einleitung (S. 9–11) formuliertes Ziel ist, „anhand einer Untersuchung der Bücher 3–7“ des Thukydides der Frage nachzugehen, wie Thukydides „ihn [d.h. den Peloponnesischen Krieg] in und mit seiner Erzählung als Krieg sichtbar gemacht [hat], der alle früher in Griechenland geführten Kriege an Format übertrifft“ (S. 10). Schwinge läßt Buch 1 (das sich vor allem der Vorgeschichte und den Gründen des Krieges widmet ) und Buch 8 (das unvollendet ist) beiseite. Dies leuchtet bei seiner Fragestellung ein. Weniger verständlich ist jedoch, warum auch das Buch 2 (das keineswegs „nur den Auftakt des Krieges entfaltet“ (S. 10), sondern die ersten drei Kriegsjahre beschreibt) unberücksichtigt bleibt. Möglicherweise hätten sich bei seiner genaueren Betrachtung Aspekte ergeben, die nicht unbedingt dem entsprechen, was Schwinge als Thukydides’ Haupt-Aussageintentionen herausstellen möchte. So z.B. die insgesamt positive Bewertung des Perikles, der von einem Sieg Athens in diesem Krieg überzeugt war – vgl. 2,65,7 und 13 –, sowie die große Schilderung der Seuche, die sich nicht als durch den Krieg verursachtes Leid ansehen lässt.

Hinter dem etwas sperrigen Titel („Theorie des Thukydides und seine Geschichtsschreibung“) des ersten längeren Kapitels (S. 13–33) verbirgt sich eine im ganzen überzeugende Darstellung, wie sich die von Thukydides selbst (vor allem in den Kapiteln 1,20–22) gegebenen methodischen Hinweise zu der von ihm dann konkret praktizierten erzählenden Geschichtsschreibung verhalten. Dabei stellt Schwinge zunächst Thukydides’ “Tekmerienverfahren“ (S. 14) heraus, das im wesentlichen darin besteht, „aussagefähige Kriterien auszumachen und nicht-aussagefähige ... zu eliminieren“ (S. 18), ferner Kategorien zu entwickeln, „mit denen die Größe [scil. des Peloponnesischen Krieges] ... fassbar wird“ (S. 18); als solche nennt Schwinge „Macht“, „Rüstung“, „Geld“ und das Zusammenwirken der zahlreichen an diesem Krieg Beteiligten (ebd.), dazu aber auch die „Kategorie des Leids“, der er in den folgenden Kapiteln immer wieder besondere Aufmerksamkeit widmet. Ebenso stellt er heraus, dass zwischen der Ermittlung von Vergangenheits- und der von Gegenwartsgeschichte bei Thukydides „kein qualitativer, sondern lediglich ein quantitativ-gradueller Unterschied“ besteht (S. 22) und dass er „bei der Schilderung der historischen Ereignisse ... grundsätzlich nicht anders verfährt als bei der Gestaltung der Reden der historischen Akteure“ (S. 30). Schwinge billigt Thukydides zu, „ein relativ hohes Maß an Genauigkeit ... bei der Datierung von Ereignissen ... bzw. bei der zeitlichen Länge von Geschehensabläufen“ erreicht zu haben (S. 24); er hebt aber auch den Konstrukt-Charakter der von Thukydides gegebenen Version der geschilderten Vorgänge hervor (S. 28). Ob man dies als Widerspruch zu der in 1,22,2 gemachten Aussage, er habe die Ereignisse nicht so dargestellt „wie es mir schien“, sehen sollte (so Schwinge S. 29), hängt davon ab, wie man dieses „wie es mir schien“ interpretiert. Thukydides selber hat hier sicher keinen Widerspruch gesehen.

In den nächsten drei Kapiteln (S. 35–117) werden die Bücher 3 bis 5 in Hinsicht auf die Leitfrage, wie Thukydides in seiner Darstellung die von ihm eingangs behauptete Größe dieses Krieges wirklich sinnfällig machen konnte, genauer untersucht. An Buch 3 stellt Schwinge heraus, wie sich Thukydides – neben der punktuellen Sichtbarmachung von Einzelereignissen (S. 36) – auf die Darstellung einer Mehrzahl von gleichzeitig ablaufenden Geschehenssträngen konzentriert, die er – um eben ihre Gleichzeitigkeit sichtbar zu machen – sich gegenseitig durchdringen lässt, indem er sie jeweils stückweise (am Leitfaden der Chronologie geordnet) erzählt (S. 44 und 45–52). Schwinge nennt das eine „Komplexitätsreduktion“ und fragt, „aus welchem Grund Thukydides das Kriegsgeschehen zu solch größeren ... Geschehenssträngen gerinnen ließ“ (S. 52); er gibt darauf freilich weder hier noch an späterer Stelle (S. 164) eine Antwort. Sie könnte darin bestehen, dass Thukydides wohl gar keine andere Möglichkeit hatte, das vielfältige und an zahlreichen Orten gleichzeitig ablaufende Kriegsgeschehen überhaupt darstellbar zu machen; welche historiografische Darstellung wäre je ohne „Komplexitätsreduktion“ ausgekommen?

Als weiteres Merkmal von Thukydides’ Darstellungsweise arbeitet Schwinge in diesen Kapiteln die „Paradigmatisierung des Kriegsgeschehens“ (zum ersten Mal auf S. 52) heraus, und zwar in formaler Hinsicht – laut Schwinge „vermag ein Geschehensstrang ... im Prinzip das Gesamtkriegsgeschehen im kleinen abzubilden“ (S. 52) – wie auch in inhaltlicher, indem ein konkretes Einzelgeschehen, das Thukydides als wiederkehrend-typisch für den gesamten Krieg herausstellen möchte, bei seinem ersten Auftreten besonders eindringlich dargestellt wird. Schwinge versucht, dies am „Lesbos-Strang“ (Abfall von Mytilene und anschließendes Strafgericht der Athener) und am „Kerkyra-Strang“ (grausamer Bürgerkrieg) zu zeigen, die weite Strecken des 3. Buches bestimmen (S. 54–59 und 63–71). Während sich aber die auf Kerkyra geschilderte Bürgerkriegssituation noch oft wiederholen sollte und damit etwas Paradigmatisches hat – worauf Thukydides selber hinweist (3,82,1–3) –, ist das Geschehen um Mytilene (mit seiner gewissen Art von „Happy end“) jedoch so einmalig, dass man wohl fragen darf, ob Thukydides hier eine Paradigmatisierung wirklich beabsichtigte.

An Buch 4 möchte Schwinge vor allem nachweisen, dass Thukydides in ihm zeigen wollte, „wie es dazu kam, dass dieser Krieg sich so extrem lange hinzog“ (S. 76), d.h. hier gilt das Augenmerk der Reihe von Situationen, in der eine oder beide Seiten einen Frieden ins Auge fassen, dann aber doch weitermachen. Unter diesem Vorzeichen betrachtet Schwinge vor allem den „Pylos-Strang“ (S. 77–86) und (nicht ausschließlich) den „Thrakien- bzw. Brasidas-Strang“ (S. 91–100). Dies setzt sich mit Betrachtungen zum Zustandekommen des Nikias-Friedens (S. 103–106) und zum nicht wirklich „friedlichen“ Charakter dieses „faulen Friedens“ (S. 106–117) im 5. Buch fort.

Das umfangreichste Kapitel des Buches (S. 119–161) ist Thukydides’ Darstellung der Sizilischen Expedition in Buch 6 und 7 gewidmet . Hier ringt Schwinge zunächst mit dem „Problem“ (so die Überschrift des ersten Teilabschnitts, S. 119–126), wie diese (fast) geschlossene Darstellung eines einzelnen Geschehensstrangs – die in der Tat Umfang und Ausführlichkeit jedes anderen Geschehenstrangs im thukydideischen Werk weit übertrifft – in die Gesamtdarstellung des Peloponnesischen Krieges einzuordnen ist und ob sie nicht diesen Krieg als solchen zu sehr in den Hintergrund treten lässt. Aber steckt hier wirklich ein Problem? Bereits in 2,65,11 wird die Sizilische Expedition als größtes Einzelereignis innerhalb des Peloponnesischen Krieges und auch als größter Fehler der athenischen Seite klar herausgestellt (nicht dagegen, wie Schwinge selbst auf S. 124 urteilt, als „ausschlaggebend ... für die Niederlage Athens“); sie ist auf jeden Fall der auch real dominierende Geschehenskomplex in den Jahren 415 bis 413 und hat in dieser Hinsicht den großen Raum, den ihr Thukydides widmet, vollauf verdient.

Noch in einer anderen Hinsicht muss man Schwinge wohl nicht unbedingt zustimmen: Er sieht die Sizilische Expedition durch Thukydides „von Beginn an“ als „Leidensgeschehen“ (S. 130) ausgewiesen (vgl. S. 136: „schon bald nach der Ausfahrt beginnt seine [d.h. des athenischen Sizilienzuges] Paralyse und damit der Weg in den Untergang“). Er muss jedoch selber konstatieren, dass die Athener auch beachtliche Erfolge erringen (S. 137) und dem entscheidenden Erfolg sogar bis auf Haaresbreite nahekommen (S. 140), wie Thukydides explizit festhält (7,2,4). Angesichts dessen dürften Bemerkungen wie die, dass die Sizilische Expedition „als Untergangsgeschehen des athenischen Heeres ... durchgängig ... nichts als Leidensgeschehen“ sei (S. 160), Thukydides’ Darstellungsabsichten wohl zu sehr verkürzen.

Auch in früheren Kapiteln ist bei einzelnen Geschehenssträngen ein „Leidensfinale“ (S. 54) stark hervorgehoben (S. 37–42: Amprakia-Strang; S. 61f.: Plataia-Strang; S. 63–68: Kerkyra-Strang). All dies ist in Thukydides’ Darstellung zweifellos vorhanden, doch droht die zu große Hervorhebung dieses Aspekts die tatsächlichen Gewichte in Thukydides’ Darstellung zu verschieben: Zu Thukydides’ historischer Erzählung gehören ja auch die nicht wenigen markanten Reden, in denen Leid in der Regel kaum eine Rolle spielt; sie werden aus Schwinges Betrachtungen weitgehend ausgeklammert.

Auf weiten Strecken kann man in diesem Buch den Eindruck gewinnen, dass die Einstellung seines Autors und die des Thukydides zum rundum verderblichen Phänomen des Krieges identisch sind (vgl. etwa S. 116: „Beschrieben ist hier ... die Zwangsläufigkeit von Feindschaft und Krieg, dem die Menschen aufgrund ihres Machttriebs unausweichlich unterworfen sind“; S. 117: „Bei solcher Entwicklung der Dinge, die sich ... letzthin dem Machttrieb der Parteien verdankt, mußte [Hervorhebung von Schwinge] der Krieg kommen“). Es ist bei modernen Altertumswissenschaftlern weit verbreitet (und sicher begrüßenswert), eine dem Pazifismus affine Einstellung zu pflegen; es ist aber sehr zweifelhaft, ob man eine solche auch für Thukydides – der sich explizit zur Größe, nicht aber zur Verwerflichkeit des von ihm beschriebenen Krieges geäußert hat – in Anspruch nehmen darf. Möglicherweise ist die von Schwinge vorgenommene „Komplexitätsreduktion“, was die Darstellungsabsichten des Thukydides betrifft, also etwas zu weit gegangen und die „Leseanleitung“ damit zu einseitig ausgefallen.

Das Buch schließt mit einer kurzen Zusammenfassung (S. 163–165), einem Literaturverzeichnis (S. 167–170), einem Stellen- (S. 171–181) und einem knappen Namen- und Sachindex (S. 182). Druckfehler sind selten und nie wirklich sinnstörend; eigenartig, dass Akarnanen und Akarnanien auf S. 37–47 ständig falsch als „Arkananen“ und „Arkananien“ wiedergegeben sind.

Anmerkung:
1 Ernst-Richard Schwinge, Zu Thukydides’ historischer Erzählung, in: Poetica 28 (1996), S. 297–326.

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