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Titel
Nationalsozialismus. Ursprünge, Anfänge, Aufstieg und Fall


Autor(en)
Bauer, Kurt
Erschienen
Wien u.a. 2008: UTB
Anzahl Seiten
616 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kim Christian Priemel, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder

Eine umfassende Geschichte des Nationalsozialismus aus einer Feder stellt eine immense Herausforderung und ein nicht unbeträchtliches Wagnis dar – dessen ist sich auch Kurt Bauer bewusst, wenn er am Ende seiner nun vorgelegten Gesamtdarstellung auf Michael Rucks einschlägige Bibliographie verweist. Inzwischen auch schon wieder ein gutes Jahrzehnt alt, zählte sie über 36.000 Einträge – die Zahl der seitdem hinzugekommenen Neuerscheinungen mag man sich lieber gar nicht vorstellen, will einem vor der Masse an Literatur nicht schwindeln. Bauer beansprucht daher gar nicht erst, alle Dimensionen, Facetten und Lesarten, welche die NS-Forschung zu bieten hat, vollständig und gleichgewichtig auszuleuchten, sondern konzentriert sich auf Grundzüge und große Linien. Eine eigene Interpretation von nationalsozialistischer Ideologie und Herrschaftspraxis ist daher nicht das Anliegen der Darstellung, und so verzichtet Bauer auch auf eine längere Einleitung zur Ausbreitung methodischer und interpretatorischer Prämissen. Stattdessen benennt die knappe Vorbemerkung mit expansionistischem Nationalismus, aggressivem Antisemitismus und „soziale[m] Appell“ (S. 11) jene drei Elemente, die Bauer als inhaltlichen Kern des Nationalsozialismus ausmacht und hernach in ihrer Genese wie in ihrer politischen Implementierung verfolgt. Hinter der dritten Kategorie steht – im Einklang mit aktuellen Trends der NS-Forschung 1 – das Volksgemeinschafts-Konzept, das allerdings in der folgenden Darstellung weniger als strukturierender Leitgedanke fungiert als vielmehr aus den „Ideen von 1914“ (S. 55) entspringt und dann als Zusammenspiel diverser sozialpolitischer Maßnahmen geschildert wird. Begrifflich ähnelt Bauers Volksgemeinschaft somit Götz Alys „Volksstaat“, und der Autor verzichtet darauf, das heuristische Potential zu nutzen, das sich durch die Unterscheidung in- und exkludierender Politiken ergeben hätte. Auch die Alternative, eine Diskussion der Frage, ob und wie weit dieses binäre Analysemodell zur Erklärung von Funktionalität und Zerstörungskraft des Nationalsozialismus beiträgt, wird nicht gewählt.

In insgesamt 15 Kapitel geht Bauer dem Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus nach, zunächst als Ideologie, dann als Praxis. Ein ausführliches Auftaktkapitel spürt den Ursprüngen der nationalsozialistischen Weltanschauung im langen 19. Jahrhundert nach, namentlich dem erwachenden deutschen Nationalismus des napoleonischen Zeitalters und seiner schrittweisen Transformation zum wilhelminischen Expansionismus, der frühzeitigen Kopplung mit rassistischen und antisemitischen Überzeugungen bei Fichte, Arndt und Jahn, schließlich dem völkischen Milieu, in dem der Nationalsozialismus nach dem Ersten Weltkrieg Gestalt annahm. Im Folgenden wendet sich Bauer dem in der (NS)DAP parteiorganisatorisch institutionalisierten Nationalsozialismus zu und schildert dessen Karriere in den vertrauten Stationen der Frühzeit 1919 bis 1924, der Konsolidierungsphase bis 1929, dem anschließenden „Weg zur Macht“, der Etablierung der Diktatur 1933/34 und den – außenpolitischen – Friedensjahren bis 1937, ehe 1938/39 erst die unkriegerische, dann die militärische Expansion sowie Vernichtungskrieg und Völkermord folgen; ein knapper Abschnitt zum „Ende“ 1944/45 beschließt den Band. Zwischen der chronologisch fortschreitenden Schilderung finden sich Kapitel, die Schlaglichter auf einzelne Aspekte der NS-Geschichte werfen, etwa zur Brutalisierung und Militarisierung der politischen Auseinandersetzungen in Weimar oder zu den Propagandastrategien der NSDAP, aber auch zu den Widerstandsbewegungen vor wie nach 1939, die hier getrennt beschrieben werden. Das mit 70 Seiten längste Kapitel ist dem Holocaust gewidmet, in dem Bauer das historische „Alleinstellung“smerkmal (S. 11) des Nationalsozialismus schlechthin erkennt und der letztlich den Fluchtpunkt der gesamten Darstellung markiert.

All dies wird ungemein faktenreich und anschaulich geschildert, und hierin liegt auch das zentrale Verdienst des vorliegenden Bandes. Bauer gelingt es, die ungeheure Materialflut mit rund 550 Seiten auf ein gut verträgliches Maß zu bändigen, das alle wesentlichen Daten, Akteure, Entwicklungen und Ergebnisse benennt, ohne unzulässig zu verkürzen. Systematisierungen wie die neun „wichtigsten Ideologeme“ (S. 109) des Nationalsozialismus sowie zahlreiche Statistiken, Graphiken und (allerdings bisweilen etwas zufällig wirkende) Illustrationen tragen zur Anschaulichkeit bei. Forschungskontroversen zu einzelnen Punkten werden mehrfach skizziert und ermuntern zu weiterer Lektüre. Nicht zuletzt ist die Darstellung mit Blick auf die studentische Zielgruppe durchweg klar und verständlich formuliert. Auf Fachjargon verzichtet Bauer fast völlig, obschon dies gelegentlich zu Lasten der sprachlichen Präzision geht – etwa wenn diverse Bindestrich-Faschismen bemüht werden, um ein buntes Panoptikum autoritärer Regime vom noch nicht angeschlossenen Österreich bis zur Slowakei und von Vichy-Frankreich bis Kroatien zu charakterisieren. Dies verwischt indes die gewichtigen Unterschiede eher als dass es hälfe, Gemeinsamkeiten zu identifizieren.

Eine große Stärke des Bandes liegt in der Aufmerksamkeit, die Österreich gewidmet wird, ganz im Unterschied zur traditionellen Marginalisierung des Gegenstandes im Gros der (bundesdeutschen) Forschungssynthesen. Nicht nur Leser mit geringer Vorkenntnis werden diese Abschnitte mit Gewinn lesen. Auf anderen Feldern hingegen fällt der Ertrag schwächer aus, so bei den Ausführungen zur Wirtschaft des Dritten Reiches, die auch für eine Zusammenfassung allzu kursorisch bleiben und in einigen Details schlecht informiert sind: Gustav Krupp von Bohlen und Halbach etwa war wohl kaum ein „Supernazi“ (S. 206), sondern vielmehr ein rückgratloser Opportunist, dessen politisches Verantwortungsbewusstsein über Firmenwohl und übersteigerte Vaterlandsliebe nicht hinausreichte. Auch die Abschnitte zum Mord an den europäischen Juden hätten stellenweise genauer ausfallen können, insbesondere da die neueren regionalgeschichtlichen Studien unter anderem von Andrej Angrick, Christoph Dieckmann und Christian Gerlach nur bedingt Eingang in die Darstellung gefunden zu haben scheinen. Auf ihrer Grundlage aber hätten sich nicht nur einige Angaben zu den Opferzahlen präzisieren lassen, auch die Einschätzung des Massakers von Kamenez-Podolsk Ende August 1941 als „Wendepunkt in der Geschichte des Holocaust“ (S. 453) wäre zumindest zu kontextualisieren gewesen: Im litauischen Rokiškis ging das Einsatzkommando 3 bereits zwei Wochen zuvor zur totalen Auslöschung ganzer jüdischer Gemeinden über, unabhängig von Alter oder Geschlecht.

Nicht zuletzt hätte sich die Zahl der Tabellen, als deren Quelle – in der Massierung etwas irritierend – auf Wikipedia verwiesen wird, mit Hilfe der verfügbaren Literatur substantiell verringern lassen. In diesem Zusammenhang ist auch das komplette Fehlen jener 2.000 Fußnoten des ursprünglichen Manuskripts, die Bauer eingangs erwähnt, zu bedauern. Gerade bei einer – zumal so umfangreichen – Darstellung, die für die akademische Ausbildung konzipiert wurde, ist das Manko der mangelnden Überprüfbarkeit recht groß, lassen sich doch Zitate, Zahlenangaben und Detailstudien vom Leser trotz der thematisch gegliederten Literaturauswahl am Buchende eher schwer nachverfolgen. Ein zweites grundsätzliches Defizit geht auf das abrupte Abbrechen der Schilderung mit dem Kriegsende zurück. Ein Kapitel zur juristischen, politischen und historiographischen Aufarbeitung sowie zur Erinnerung von Nationalsozialismus und Genozid nach 1945 stellt eine beträchtliche Leerstelle dar und lässt die Darstellung gerade durch das lange Einstiegskapitel ungleichgewichtig wirken.

Diese Einwände sollten indes nicht das Verdienst verdecken, das Bauer zukommt, das Wagnis einer umfassenden NS-Geschichte eingegangen zu sein. Seine Darstellung liefert einen kompetenten, hilfreichen und in der Tat leicht fasslichen Überblick. Mehr Zusammenfassung denn Synthese, bietet sie eine sinnvolle Ergänzung zu konzeptionell differenzierteren und stärker deutenden Einführungen. Als solche wird der Band sicher große Verbreitung erfahren.

Anmerkung:
1 Vgl. Kim Christian Priemel, Rezension zu: Winfried Süß / Dietmar Süß (Hrsg.), Das „Dritte Reich“. Eine Einführung, München 2008. In: H-Soz-u-Kult, 23.10.2008 , <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-4-070>.

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