G. Jostkleigrewe: Deutsch-französische Fremdbilder

Cover
Titel
Das Bild des Anderen. Entstehung und Wirkung deutsch-französischer Fremdbilder in der volkssprachlichen Literatur und Historiographie des 12. bis 14. Jahrhunderts


Autor(en)
Jostkleigrewe, Georg
Reihe
Orbis Mediaevalis 9
Erschienen
Berlin 2008: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
446 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Oschema, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Vom gewandt-höfischen, aber unzuverlässigen Franzosen bis hin zum sprichwörtlichen "furor teutonicus" sind die wohlfeilen und langlebigen Stereotype, mit denen sich die europäischen Völkerschaften im Verlauf der mittelalterlichen Geschichte und gerne auch darüber hinaus gegenseitig bedachten und bedenken, weithin bekannt. So unterhaltsam ihre Sammlung und die mit ihnen zusammenhängenden Bilder zuweilen sind, so droht sie doch gerne im Charme des Antiquarischen stecken zu bleiben. Georg Jostkleigrewe spricht sich daher in seiner jüngst publizierten Erlanger Dissertationsschrift vehement gegen einen solchen Zugang aus und versucht, die gegenseitige Wahrnehmung von "Deutschen" und "Franzosen" stärker strukturiert in den Griff zu bekommen. Er verbindet dabei stupende Quellenkenntnis, die nicht wenige Texte auch aus ihrer handschriftlichen Grundlage heraus vorführt, mit ausgeprägtem Methodenbewusstsein und theoretischer Reflexion. Beste Voraussetzungen also, um dem Leser aufzuzeigen, ob und wie sich die untersuchten deutschen und französischen Autoren gegenseitig "erschrieben".

Die Vielfalt der damit angesprochenen Themenfelder kann im Rahmen dieser Besprechung keinesfalls erschöpfend benannt werden. Auch sei hier bereits der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass Ansatz und Ergebnisse dieser Arbeit eine rege Debatte und weiteren Austausch nach sich ziehen mögen, wobei sich Affirmation und kritische Sichtung der höchst anregenden Studie gewiss vermischen werden. Zur Vorstellung soll hier vor allem der Gang der Arbeit knapp skizziert werden, bevor einige kommentierende Anmerkungen folgen.

Eine prägnant zugespitzte Einführung stellt den gewählten Zugang und das Quellenkorpus vor, das sich aus deutsch- und französischsprachigen literarischen Texten und Chroniken zusammensetzt, die zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert entstanden sind (S. 13-55). Zugleich klingt die spezifische Problematik im Verhältnis der beiden gewählten "Nationen" an: Es geht um die gegenseitige Fremdwahrnehmung in einer besonderen Beziehung. Mit der gemeinsamen karolingisch-fränkischen Herkunft und in Verbindung mit den divergenten Situierungen (Königreich versus Kaisertum) entwickelte sich zwischen Deutschen und Franzosen ein eigentümliches Spannungsfeld, das sich auch in Asymmetrien der Wahrnehmung niederschlug.

In drei Abschnitten (Strukturen und Dimensionen der Fremdwahrnehmung; Parameter der Entstehung spezifischer Fremdbilder; Zusammenfassung) nähert sich die Arbeit in einem ersten Teil der Genese der Fremdbilder und ihren Charakteristika. Als besonders originell, aber zugleich zur Diskussion reizend, darf der stark quantifizierende Zugriff gelten, der vorführt, wie asymmetrisch schon die Mengenverteilung der "grenzüberschreitenden" Nachrichten und Inhalte angelegt ist: Während die deutschsprachige Historiographie kaum über den westlichen Nachbarn berichtet – Ausnahmen bieten in Ansätzen Ottokars "Steirische Reimchronik" und die "Sächsische Weltchronik" – war französischen Autoren diese Perspektive weniger fremd. Selbstverständlich kam dabei der Rolle des Kaisertums besondere Bedeutung zu, und man wird die Details dieser Analyse noch weiter diskutieren müssen, etwa hinsichtlich der Ausführungen über die "verdeckten" Kenntnisse, die Jostkleigrewe aus indirekten Nachrichten erschließt (S. 84-104). Der Autor argumentiert aber stets sorgfältig und differenziert: So macht er deutlich, wie die Nachrichten unterschiedlich auf den Berichtszeitraum verteilt sind, da sich viele der Fremdbeschreibungen auf die Zeit der "gemeinsamen" fränkischen Geschichte (S. 69-75) beziehen, und dass sie keinen strikten Gesetzen gehorchen, was die korrekte Beschreibung des Fremden bzw. die Projektion eigener Lebensumstände betrifft (S. 137-156).

Nach diesem strukturell ausgerichteten Abschnitt widmet sich der längere zweite Teil den konkreten Inhalten, welche die Beschreibung des Verhältnisses von "Regnum Franciae" und "Imperium" bestimmten. Die zentralen Fragen sind dabei bereits von einer langen Forschungstradition vorgegeben, die sich insbesondere für die wechselseitige rechtlich-politische Situierung von Frankreich und dem Reich interessierte. Mit Blick auf andere Materialkomplexe (lateinische Historiographie, Traktatliteratur, juristische Texte) wurden hier dezidierte Meinungen begründet, die sich anhand der volkssprachigen Texte häufig genug nicht bestätigen lassen. Wenn es auch für die moderne Sicht besonders interessant sein mag, wie sich die Auffassung von der Eigenständigkeit des französischen Königs gegenüber der imperialen Autorität herausbildete, so scheint dieses Problem für die Zeitgenossen weniger virulent gewesen zu sein: Einen Vorrang des Kaisertums festzustellen erschien vielen französischen Autoren des 13. Jahrhunderts nicht problematisch – das berühmte 'rex imperator in regno suo'-Konzept drang erst im 14. Jahrhundert in die volkssprachliche Historiographie ein und auch dann keineswegs mit massiven Auswirkungen. Wesentlich wirkmächtiger erscheint in Frankreich die von Suger von St. Denis entwickelte Vorstellung einer besonderen Kirchennähe der französischen Herrscher, die sich daher in einem stets spannungsreichen und geschichtsmächtigen Verhältnis zu den papstfeindlichen Kaisern befunden hätten. Plausibel führt Jostkleigrewe vor, wie dieser Gedanke erst um 1300 herum an Wirkung verlor – anderes war auch kaum denkbar, angesichts der Krise zwischen Philipp IV. und Bonifaz VIII.

Zwei zentrale Aspekte kennzeichnen den zweiten Teil der Arbeit: Zum einen unterstreicht er die bereits festgestellten quantitativen Unterschiede zwischen der deutsch- und der französischsprachigen Tradition. Immer wieder dient die "Steirische Chronik" als Referenztext für die Perspektive aus dem Reich – vorrangig aus dem simplen Grund, dass das Verhältnis zwischen Frankreich und dem Reich in der weiteren deutschsprachigen Überlieferung kaum eine Rolle spielte. Ganz anders dagegen die vielfältigere französische Tradition. Zum zweiten fällt die vom Material vorgegebene inhaltliche Engführung auf: In den Fokus der Berichte tritt der Nachbar fast nur dort, wo konkrete (Interessens-)Konflikte zu verzeichnen sind. Die zentralen Themenkomplexe bilden daher die Auseinandersetzungen zwischen den späten Staufern und den Anjou um die Herrschaft im südlichen Italien (S. 245-255 und 327-360) sowie jene Konflikte zwischen Frankreich und dem Reich, die sich im burgundisch-lothringischen Grenzraum abspielten (S. 256-272). Das Bild einer quasi-nationalen Auseinandersetzung ist aber auch hier nicht zu untermauern. Es ist daher nur konsequent (und nicht einer aktuellen Mode geschuldet), dass Jostkleigrewe seine Arbeit mit einem Kapitel über die immer wieder anzutreffende Vorstellung von einer vertraglichen Freundschaft, einer "amicitia" zwischen den beiden Reichen beschließt.

Ohne dass damit die deutsch-französische Geschichte des Mittelalters schöngefärbt würde, zeigt dieser knappe Überblick doch bereits, dass man die Wertigkeit so mancher liebgewordenen Vorstellung von den ehemaligen "Erbfeinden" wird modifizieren müssen. So wurden die Konflikte im Grenzraum offensichtlich nicht als schlechthin französische Expansionspolitik wahrgenommen (S. 269 und 271) und auch die deutschsprachigen literarischen Werke der Zeit besaßen nicht die Freiheit (und wohl auch nicht die Absicht), Karl den Großen zu einem "deutschen Kaiser" zu machen (S. 157-170). Allerdings gilt es natürlich die Grundlage dieser Ergebnisse zu beachten, die nur auf einem Ausschnitt aus den insgesamt verfügbaren Materialien der Epoche fußen. Auch ist zu fragen, ob alle der untersuchten Texte nach dem gleichen Muster analysiert werden können: Ist der "Ménestrel de Reims" mit denselben Kriterien zu untersuchen wie die Chroniken des Umfelds von Saint-Denis? Und wie geht man mit dem hie und da aufscheinenden Modus der Ironie um? Trotz solcher Fragen legt Jostkleigrewe hier gewichtige Neubewertungen vor, die zur weiteren Diskussion reizen sollten.

Dass er es dem Leser dabei nicht immer leicht macht, bei der Stange zu bleiben und auch tatsächlich den Kern der Argumentation zu verfolgen, soll allerdings nicht verschwiegen werden: In der Vielzahl der vorgeführten Exempel droht sich der eigentliche Gegenstand zuweilen aufzulösen, so dass man gerne und regelmäßig auf die Orientierungsleistung des Inhaltsverzeichnisses zurückkommt. Auch wird die Lesefreude durch wiederholt erscheinende Flüchtigkeitsfehler getrübt, die eine gründliche Korrektur vor der Drucklegung hätte beseitigen können. Die Eile bei der Publikation macht sich schließlich in den Kartenbeigaben im "Anhang II" bemerkbar, welche die "geographischen" Horizonte ausgewählter Texte vorführen (S. 403-405): Es wäre hilfreich gewesen, die markierten Orte und Räume zu benennen und vor allem die Sigelerläuterungen der Legende im selben Maßstab wie die Markierungen der Karten zu halten (die Größe der Sigel zeigt quantitative Einstufungen an). Von größerem Nutzen ist daher das dreigeteilte Register ("mittelalterliche Autoren und Texte", "historische und mythische Personen", "Orte").

Doch solche Kritik soll nicht vom inhaltlichen Kern ablenken: All jenen, die sich mit der Geschichte der gegenseitigen Wahrnehmung Deutschlands und Frankreichs im Mittelalter beschäftigen, sei es aus einer "nationenorientierten" Perspektive oder aus der Sicht der Fremdwahrnehmung als solcher, ist dieses Buch zur Lektüre zu empfehlen.