A. Keller: Das rhetorische Zeitalter

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Titel
Frühe Neuzeit. Das rhetorische Zeitalter


Autor(en)
Keller, Andreas
Erschienen
Berlin 2008: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Regina Toepfer, Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik, Goethe-Universität Frankfurt a.M.

Einführungsliteratur erlebt derzeit eine Hochkonjunktur, auch die oft vernachlässigte Literaturgeschichte der Frühen Neuzeit wird mittlerweile von diesem Trend erfasst.1 Solange ein epochenfremder Literaturbegriff und die klassizistischen Normen der Goethezeit zugrunde gelegt wurden, galten die zwischen 1400 und 1700 entstandenen Werke als minderwertig, da sie weder die Ideale der Sprachreinheit noch die der künstlerischen Autonomie oder einer zeitlosen Ästhetik erfüllten. Selbst wenn sich in den letzten dreißig Jahren ein erfreulicher Wandel abzeichnet, ist die Frühe Neuzeit in der Germanistik in einem deutlich geringeren Maße institutionell verankert als in der Geschichtswissenschaft. Auch gehört die ‚Mittlere deutsche Literatur’, wie Hans-Gerd Roloff sie in Abgrenzung zum Mittelalter und zur Moderne bezeichnete2, selten zum verpflichtenden Lehrprogramm literaturwissenschaftlicher Studiengänge. Weshalb eine Beschäftigung mit der Frühen Neuzeit als eigenständiger Epoche lohnend ist und welche Kriterien für ihr Literaturkonzept charakteristisch sind, wird in dem zu besprechenden Studienbuch vermittelt.

Der Untertitel des Werks, „Das rhetorische Zeitalter“, ist programmatisch. Andreas Keller beschreibt Sprache, Text und Bildung in der Frühen Neuzeit als ein offenes Kommunikationssystem, das sich aus korrespondierenden Gesprächsbeiträgen zusammensetze. Den Dialog betrachtet er als epochales Grundmuster, das zahlreichen Textformen zugrunde liege und nahezu sämtliche literarischen Werke kennzeichne. Nicht nur Streitgespräche, Disputationen oder Wechselgesänge, sondern auch Briefe, Spiele und Lieder führt Keller auf ein dialogisch-rhetorisches Prinzip zurück. Im Gegensatz zum Mittelalter gälten Inhalte nicht mehr als dogmatisch gesetzt, sondern würden mit Hilfe der Argumentationsstrategien der antiken ars oratoria verhandelt. Wissenschaftliche, pädagogische, politische, ökonomische und religiöse Fragen würden auf diese Weise diskutiert, wobei die Literatur nicht nur als Reflexionsmedium, sondern auch als Impulsgeber zu verstehen sei. Der rhetorische Diskurs sorge für die Kommunikation von Ideen, die Wirkung entfalteten, und fungiere so als zentrales Movens des Zeitalters.

In seiner Abhandlung bietet Andreas Keller ein breites Spektrum unterschiedlicher Aspekte zu Literaturproduktion und Diskurstraditionen in der Frühen Neuzeit, die durch das Leitmotiv einer rhetorischen Interpretation geeint werden. Nach der kritischen Auseinandersetzung mit dem Epochenbegriff beginnt Keller mit der materiellen Überlieferung (Kap. 2), bei der er sowohl die Paratexte der Drucke als auch die Benutzerspuren als Indizien für ein dialogisches Prinzip wertet. Die folgenden Kapitel (3-5) widmen sich rhetorischen Grundkategorien, die für eine Textanalyse von Bedeutung sind: dem Verhältnis von Poetik und Rhetorik, der Findung (inventio) und Anordnung (dispositio) von Argumenten sowie der sprachlichen und stilistischen Gestaltung (elocutio). Im Anschluss werden Autorbegriff und Autortypen vorgestellt. Dass Dichter in einen produktiven Wettstreit miteinander treten und sich zu poetischen Sozietäten zusammenschließen, zeugt implizit von der Gesprächskultur der Frühen Neuzeit (Kap. 6).

Die Ausführungen zu Diskursen und Textsorten (Kap. 7) sind wesentlich für Kellers These, bietet ihm die Rhetorik doch eine Möglichkeit, die Gattungsgrenzen mit Hilfe der Topik zu überschreiten und in den verschiedenen Textformen das Grundmodell des Dialogs zu erkennen. Als rhetorische Strategie zur Steuerung der Kommunikation wird auch der Einsatz verschiedener Medien interpretiert, wie die Beispiele einer Predigt, einer Drameninszenierung oder die Wechselbeziehungen zwischen Text und Bild zeigen (Kap. 8). In den verbleibenden Kapiteln verschiebt sich die Perspektive von einem genuin literaturwissenschaftlichen zu einem allgemein-historischen Interesse: Mit den Erläuterungen zu „Erziehung, Bildung und Wissenschaft“, „Religion und Religiosität“, „Subjekt, Macht und Krieg“, „Raum, Zeit und Geschichte“, „Naturerfahrung und Naturbegriff“ (Kap. 9-13) werden die Diskurse, die in der zeitgenössischen Literatur eine wichtige Rolle spielten, präsentiert.

Mit der konsequenten Deutung aller Aspekte im Sinne der intendierten These macht sich Andreas Keller die Argumentationsstrategie des untersuchten Zeitalters zu eigen. Das Studienbuch thematisiert nicht nur die Bedeutung der Rhetorik für die Frühe Neuzeit, sondern darf selbst als ein Lehrstück für die Anwendung der ars oratoria gelten. Die Literatur der Frühen Neuzeit dient dabei als Fundgrube, aus der der Verfasser bei der inventio verschiedene Topoi auswählt und sie so kombiniert, dass ihre dispositio zu dem gewünschten Ergebnis führt. Beispielsweise wird ‚Reinecke Fuchs’ als Beitrag zum zeitgenössischen Hofdiskurs vorgestellt und dient die ‚Melusine’ des Thüring von Ringoltingen zur Veranschaulichung einer Popularisierung der Naturphilosophie. Auch bei der sprachlichen Ausgestaltung (elocutio) beherzigt Keller rhetorische Grundregeln, indem er die Forderung nach dem inneren aptum, einer dem Zielpublikum angemessenen Formulierung, erfüllt. Komplexe Zusammenhänge werden erläutert und Fachtermini stets so erklärt, dass kaum Vorkenntnisse erforderlich sind.

Die gesamte Aufbereitung des Textes ist auf den hochschuldidaktischen Verwendungszweck zugeschnitten. Zentrale Begriffe sind in Marginalien festgehalten und den einzelnen Kapiteln „Fragen und Anregungen“ beigegeben, die das Textverständnis sichern und gelegentlich zur eigenen Untersuchung anleiten sollen. Am Ende jedes Kapitels sowie im „Serviceteil“ (Kap. 15) erfolgen Lektüreempfehlungen von Quellen und – versehen mit einem kurzen Kommentar – von Forschungsliteratur. Der Schwerpunkt der Literaturauswahl liegt vor allem auf dem 17. Jahrhundert, Studien zum 15. Jahrhunderts sind unterrepräsentiert.3 Wichtiger als die Beigabe des Glossars, in dem zwei Dutzend zentrale Begriffe der Frühen Neuzeit erläutert werden, wäre – zusätzlich zu dem Personenverzeichnis – ein Sachregister gewesen.

Die Stärke der Studie liegt in ihrem literaturgeschichtlichen Gesamtkonzept, wohingegen die historische Verortung nicht in jedem Punkt einer kritischen Prüfung standhält: Während Andreas Keller völlig zu Recht Stellung gegen die langlebigen Vorurteile fehlender Originalität, volkstümlicher Ausdrucksweise oder einer fruchtlosen Regelpoetik bezieht, werden die humanistischen Selbstdarstellungen reproduziert (S. 123). Zu relativieren wäre die Vorstellung, dass die Humanisten das Ideal der Dreisprachigkeit nicht nur vertreten, sondern auch verwirklicht hätten. Nur ein verschwindend geringer Teil der Gebildeten war der griechischen, noch weniger der hebräischen Sprache mächtig. Ebenso sind die Verdienste der Humanisten um die Bewahrung und Verbreitung antiker Texte zwar kaum hoch genug anzusetzen, keineswegs jedoch mit den Prinzipien moderner Textkritik zu vergleichen. Schon in Ermangelung der Quellen war keiner der Zeitgenossen in der Lage, Stemmata zu erstellen und aus mehreren Versionen einen Originaltext zu rekonstruieren.4

Obwohl sich Keller explizit von einer Ereignisgeschichte abgrenzt und die Frühe Neuzeit berechtigterweise als Epoche des Übergangs bezeichnet, in der sich bei vermeintlichen Revolutionen Kontinuitäten nachweisen lassen, wäre eine größere Präzision in der Darstellung der historischen Entwicklung wünschenswert (S. 14, 124, 141): So wird in der buchgeschichtlichen Forschung die Lösung der Drucke vom Vorbild der Handschriften bereits auf die Zeit um 1480 datiert oder gilt die humanistische Universitätsreform in der Bildungsgeschichte bereits zu Beginn der 1520er-Jahre als abgeschlossen.5 Zudem sollte in Übereinstimmung mit der reformationsgeschichtlichen Forschung nicht vor der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in der sich die Glaubensrichtungen dauerhaft konsolidieren, von einer Konfessionalisierung gesprochen werden.6 ‚Der’ Protestantismus existierte nur als Projektion der Altgläubigen, die die divergierenden religiösen Reformströmungen in einem gemeinsamen Feindbild zusammenfassten.

Ungeachtet dieser Kritikpunkte ist Kellers Einführung in die Frühe Neuzeit empfehlenswert. Zwar kann die frühneuzeitliche Literatur über die Rhetorik nicht umfassend dargestellt werden, doch wird ein zentrales Charakteristikum der Textproduktion beleuchtet. Hervorzuheben ist, dass die Studierenden mit dem rhetorischen Grundwissen einen hermeneutischen Schlüssel für eigene Textanalysen erhalten. Sollte der Appell des Autors Gehör finden und würden die Leser tatsächlich ad fontes zurückkehren, Archive besuchen und sich mit zeitgenössischen Drucken beschäftigen, dann dürfte das Buch zu einer Intensivierung der Frühneuzeit-Studien in der Literaturwissenschaft beitragen.

Anmerkungen:
1 Vgl. auch Kai Bremer, Literatur der Frühen Neuzeit. Reformation – Späthumanismus – Barock, Paderborn 2008.
2 Vgl. Hans-Gerd Roloff, Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur, in: Christiane Caemmerer u.a. (Hrsg.), Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur, Amsterdam 2000, S. 469-494.
3 Unbedingt zu ergänzen: Franz Josef Worstbrock (Hrsg.): Deutscher Humanismus 1480-1520: Verfasserlexikon, Berlin u.a. 2005ff.
4 Vgl. Regina Toepfer, Pädagogik, Polemik, Paränese. Die deutsche Rezeption des Basilius Magnus im Humanismus und in der Reformationszeit, Tübingen 2007, S. 18-25, 109-124, 151-162.
5 Vgl. Tilo Brandis, Handschriften- und Buchproduktion im 15. und frühen 16. Jahrhundert, in: Ludger Grenzmann / Karl Stackmann (Hrsg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, Stuttgart 1984, S. 176-193; Arno Seifert, Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien, in: Notker Hammerstein (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1, München 1996, S. 197-374.
6 Vgl. Stefan Ehrenpreis / Ute Lotz-Heumann, Refomation und konfessionelles Zeitalter, Darmstadt 2002.

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