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Titel
Treue. Politische Loyalität und militärische Gefolgschaft in der Moderne


Autor(en)
Buschmann, Nikolaus
Herausgeber
Murr, Karl Borromäus
Erschienen
Göttingen 2008: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
455 S.
Preis
€ 54,90
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Jens Boysen, Deutsches Historisches Institut Warschau

Die Herausgeber dieses umfangreichen Bandes haben sich vorgenommen, das Konzept bzw. die Idee der Treue als einen Leitbegriff deutschen Denkens über Staat und Gesellschaft in der Neuzeit zu thematisieren, ja idealiter als „geschichtlichen Grundbegriff“ zu etablieren. Zu Recht kritisieren sie eine voreilige Abqualifizierung des Begriffs als traditional und daher überholt; dagegen unterstreichen sie seine „sehr heterogenen geistesgeschichtlichen Wurzeln“ (S. 14) ebenso wie seinen heuristischen Wert auch für das Verständnis moderner und sogar postmoderner Gesellschaften. Durch ihren Ansatz, der primär – im Unterschied zu den kursorisch auch angesprochenen familiären bzw. intimen Beziehungen – auf die Sozialbeziehungen im öffentlichen Raum zielt, versprechen sie sich einen Beitrag zur Forschung besonders auf drei Gebieten: erstens für ein besseres Verständnis der Motive der „Untergebenen“ innerhalb einer Treuebeziehung, zweitens für eine Interpretation der Genese kollektiver Identitäten als Ausdruck sozialer Beziehungen (in Abgrenzung von essentialistischen Erklärungsmustern) sowie drittens für eine Kulturgeschichte der Politik (S. 31). Eine zentrale Leitfrage ist dabei, wie sich gerade in Deutschland – scheinbar anders als in anderen Ländern – der Treuebegriff lange als politisches Identifikations- und Argumentationsmuster halten konnte und welche Bedeutung er für die innere Struktur der politischen Nation hatte.

In ihrer Einleitung liefern die Herausgeber eine umfassende begriffsgeschichtliche und theoretische Einbettung der Fragestellung in die bisherige Forschung. Sie berücksichtigen dabei insbesondere sprachwissenschaftliche, ideengeschichtliche und rechtsgeschichtliche Gesichtspunkte. Zwar kommt dabei die wichtige Abgrenzung des gesuchten neuzeitlichen vom bekannten mittelalterlichen Treuebegriff etwas kurz, jedoch gehen mehrere der anderen Beiträge im Rahmen ihrer jeweiligen speziellen Fragestellung auf diesen Punkt ein und ergänzen so auch die theoretische Basis des Bandes, freilich in einem eher additiven Prozess. In dem Band finden sich wegen der Konzentration auf den öffentlichen Raum, aber auch als Folge der vorgefundenen historischen Diskurse, mehrere Beiträge über militärische und andere öffentlich-rechtliche Treueverhältnisse.

Als Autoren finden sich nicht nur Historiker, sondern auch Vertreter verschiedener anderer Disziplinen versammelt, etwa aus der Soziologie und der Rechtswissenschaft. Diese Entscheidung war sinnvoll, da das sich daraus ergebende Spektrum an Erklärungs- und Deutungsmustern die Komplexität des in Frage stehenden Begriffs veranschaulicht. Als eine zentrale und produktive Achse ihrer jeweiligen Darstellung erweist sich bei mehreren Autoren die Unterscheidung von „Treue“ und „Loyalität“, als zwei Pole eines Begriffsspektrums, dessen wichtigster differenzierender Parameter der Grad persönlicher bzw. abstrahiert-unpersönlicher Sozialbeziehungen ist. In beiden Fällen geht es jedoch um die längerfristige oder gar dauerhafte Leistungsbereitschaft des Individuums gegenüber einer bestimmten sozialen Bezugsgruppe. Besonders Rainer E. Wiedenmann liefert in seiner gerade für ‚klassische’ Historiker sehr ergiebigen soziologischen Einführung eine interessante Basis zur Verfolgung der Genese der beiden Leitbegriffe, indem er vorschlägt, deren „Verwendungsweise“ mit den historischen „Sozialcharakteren“ nach David Riesman zu korrelieren. Bemerkenswert ist die Feststellung mehr oder weniger aller ‚Nichthistoriker’ unter den Autoren, dass eine Diskussion grundlegender soziologischer Begriffe fast zwangsläufig (auch) historisch angelegt sein müsse – eine Bestärkung des Topos der „historischen Sozialwissenschaften“ gleichsam von der anderen Seite her.

Die Beiträge spiegeln die Anwendung des ‚Treuediskurses’ bzw. seiner Dekonstruktion auf unterschiedlichste Themenfelder: Für das 19. Jahrhundert zeichnet Herausgeber Buschmann die Entstehung eines besonderen deutschen Treuediskurses als eines zentralen national-geschichtlichen Identifikationspols seit dem Humanismus nach, wobei die Rezeption der Taciteischen „Germania“ und des Nibelungenliedes maßgeblich wurden. Sein Mitherausgeber Murr zeigt, wie sich bayerische Städte durch die Tradition historischer Treueakte einen festen, wenn nicht privilegierten Platz in der landesgeschichtlichen Erinnerung zu schaffen suchten.

Für das „Zeitalter der Weltkriege“ – was nur ein chronologischer Hilfsbegriff ist – beleuchtet zunächst Hans Georg Herrmann die staatsrechtliche Seite der Treue im öffentlichen Raum im Laufe des wechselvollen 20. Jahrhunderts, etwa bezüglich der Diensteide, und liefert zusätzlich einige Anregungen zur theoretischen Modellbildung. Christiane Streubel zeigt, wie sich konservative Frauenverbände im Ersten Weltkrieg in einer komplexen normativen Gemengelage zwischen patriotischer Gesinnung, persönlichem Tatendrang und traditionellen Rollenzuschreibungen einen eigenen Handlungsbereich zu erarbeiten suchten. Bernhard Gissibl analysiert das wirkungsmächtige Bild von der „Treue der Askaris“ im und nach dem Ersten Weltkrieg und zeigt dabei unter anderem, welch enger Zusammenhang zwischen dem Selbstverständnis der afrikanischen Soldaten des Deutschen Reiches und ihrer Stellung in der – den Deutschen wohl wenig vertrauten – lokalen Gesellschaft bestand. Raphael Gross liefert einen Werkstattbericht zu seinen Bemühungen zur Entwicklung einer „Moralgeschichte“ anhand des besonders widersprüchlichen Treuebegriffs im Nationalsozialismus. Für dieselbe Zeit beschreibt Timm C. Richter die durchaus fließenden Loyalitätsmotive General Walter v. Reichenaus speziell hinsichtlich seiner Haltung gegenüber dem deutschen militärischen Widerstand.

Ein weiterer und in der Tat unverzichtbarer Abschnitt des Buches gilt der Kontrastierung mit ausländischen Treuekonzepten in anderen Ländern bzw. Nationen. Natürlich ist hier wegen der Zufälligkeit der konkreten Gegenstände keine 1:1-Gegenüberstellung möglich; dennoch liefern die hier versammelten Aufsätze wichtige Vergleichsmomente (ein solcher Abschnitt müsste bei Betrachtungen von Grundbegriffen obligatorisch sein). Der kunstgeschichtliche Beitrag von Eva-Bettina Krems hebt sich methodisch etwas aus dem Buch heraus, ist aber äußerst wertvoll, da er die verschiedenen geistesgeschichtlichen Einflüsse auf die für die jeweiligen Länder als kanonisch für den Republikanismus geltenden Darstellungen von Eiden bei Füssli (Rütli-Schwur, für die Schweiz) bzw. David (Schwur der Horatier, für Frankreich) untersucht. Christine G. Krügers Vergleich der Treuevorstellungen deutscher und französischer Juden im Krieg von 1870/71 spiegelt – in gewisser Brechung – auch die verschiedenen Loyalitätskonzepte der gegnerischen Nationen insgesamt. Auf Kriege bezogen sind auch die letzten drei Beiträge: Lawrence Cole schildert am Beispiel der Veteranenvereine die Ambivalenzen der (nach)militärischen Loyalitätsbeziehungen im Habsburgerreich des 19. Jahrhunderts; Michael Hochgeschwender zeichnet nach, aus welch unterschiedlichen Ausgangsideen heraus sich in den USA nach und nach ein verbindlicher Loyalitätsbegriff formte. Alexa Gattinger schließlich skizziert den englischen „duty“-Begriff des Ersten Weltkrieges, der sich besonders zum Vergleich mit dem deutschen Fall eignet.

Durchgängig werden besonders die Aspekte der „Reziprozität“, also Gegenseitigkeit, sowie der kollektiven Identitätsbildung deutlich: Während ersterer das ‚Treueverhalten’ der verschiedenen historischen Akteure als (auch) rational und interessengeleitet konstatiert und so von einer rein affektiven bzw. essentialistischen Deutung wegführt, belegt letzterer, dass affektive und identifikatorische Faktoren ebenfalls eine bedeutende Rolle für das ‚Treueverhalten’ spielen, zumal am eigentlichen ‚Treuepol’ des skizzierten Begriffsspektrums, der sowohl durch persönliche Nähe als auch durch Langlebigkeit und somit tendentiell durch Gewöhnung gekennzeichnet sind.

Alle Beiträge geben den für das jeweilige Thema relevanten Forschungsstand ausgezeichnet wieder, weshalb sich an dieser Stelle weitere Literaturhinweise erübrigen. Generell fällt es schwer, über die verschiedenen Beiträge hinweg eine wirklich kohärente Begriffsbestimmung bzw. einen übertragbaren Forschungsansatz zu erkennen. Dies ist jedoch nicht negativ zu verstehen, sondern spiegelt nur den noch jungen Stand der Forschung wider. Allerdings muß es angesichts der Uneinheitlichkeit des Begriffsgebrauchs offen bleiben, ob es gelingen kann, ein wirkliches Forschungsparadigma zu generieren. Unabhängig davon ist der Band in jedem Fall höchst empfehlenswert.

Ebenso offen bleibt eine andere Dimension der Fragestellung, diejenige nach der deutschen Spezifik; dies gilt trotz – oder sogar gerade wegen – des wiederholten Rekurses von Nikolaus Buschmann auf Bernd Faulenbachs „Ideologie des deutschen Weges“. Denn wenn diese für eine bestimmte Tendenz der deutschen Nachkriegshistoriographie paradigmatische Arbeit ideologische Positionen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts dekonstruiert, so belegt sie damit noch nicht das realgeschichtliche Wirken jener Positionen. Auch die wiederholte Aussage, spezifische deutsche Fehlentwicklungen „entlarven“ zu wollen (zum Beispiel S. 28/29), entstammt nicht der Sprache der Wissenschaft, sondern verrät eine gewisse eher politische Voreingenommenheit. Auch einige andere Autoren, besonders Gißibl und Gattinger, neigen dazu, genau dort, wo ihre – generell sehr gute – empirische Betrachtung endet, pflichteifrig auf die grundlegenden Unterschiede zwischen den von den jeweiligen Treuekonzepten gestützten deutschen und westlichen Wertsystemen zu verweisen bzw. die alliierte Deutung des Ersten Weltkriegs wie selbstverständlich zu übernehmen. Somit könnte man abschließend die Frage stellen, ob sich hier punktuell nicht auch ein ganz eigener Treuebegriff der nachkriegsdeutschen Gesellschaft spiegelt – nämlich derjenige gegenüber den „Siegern der Geschichte“.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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