D. Blackbourn u. J. Retallack (Hrsg.): Landscape

Titel
Localism, Landscape, and the Ambiguities of Place. German-Speaking Central Europe, 1860-1930


Herausgeber
Blackbourn, David; Retallack, James
Reihe
German and European Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
278 S.
Preis
$ 65.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mateusz J. Hartwich, Berliner Kolleg für vergleichende Geschichte Europas

Theoretische und forschungspraktische Probleme mit dem spatial turn hin oder her – eine kultur- und sozialhistorische Auseinandersetzung mit den "ambiguities of place" kommt langsam in Schwung, und wird auch in der breiteren Öffentlichkeit mit Interesse zur Kenntnis genommen.1 Der Band "Localism, Landscape, and the Ambiguities of Place. German-Speaking Central Europe, 1860-1930" versammelt einige der prominentesten Vertreter dieser Forschungsrichtung, so dass die Leser auf innovative Herangehensweisen an die besprochene Fragestellung hoffen konnten. Um es vorweg zu nehmen: Wer sich der Thematik anhand von monografischen Publikationen der Autoren bereits genähert hat, wird wenig Erhellendes entdecken, der Versuch jedoch, die unterschiedlichen Forschungsansätze zusammen zu bringen, ist ausdrücklich zu würdigen, und lässt auf weitere inspirierende Kooperationen von Gesellschafts-, Kultur -, Politik- und Umwelthistorikern hoffen.

Die Publikation geht zurück auf eine im Mai 2005 an der Universität in Toronto (Kanada) abgehaltene Tagung. Dem Charakter eines Tagungsbandes entsprechend, versammelt das Buch sehr unterschiedliche Artikel zu Kultur, Politik, Landschaft und Sprache – so im Groben der Aufbau der aufeinander folgenden Sektionen. In einer äußerst anregenden Einleitung versuchen die Herausgeber dementsprechend, die zehn Beiträge methodisch und thematisch unter einen Hut zu bringen. Zugegeben – es ist mir bis zuletzt nicht ganz klar geworden, warum gerade die hier versammelten Teilaspekte die komplexe Relation zwischen Identität und Raum ("we ask how nature, environment, and physical boundaries interacted with ethnic diversity, social conflict, and political borders", S. 20) im "deutschsprachigen Zentraleuropa" darstellen sollen, aber die Titel gebende "Vieldeutigkeit von Orten" ist als Leitmotiv wiederholt zur Sprache gekommen. Die Herausgeber schreiben: "As these essays demonstrate, contemporary Germans used a variety of strategies both to experience their emotional home as a place on a map and to imagine their chosen place as a natural home. In assessing these experiences and imaginings, the intention is not just to complicate the way we think about national history, but to use the sense of place – especially its kaleidoscopic, protean qualities – as a prism that allows us to view German identity in new ways." (S. 4)

Im Rahmen dieser Rezension kann nicht im Einzelnen auf alle Beiträge eingegangen werden, also greife ich mir drei beispielhaft heraus, um daran die Vor- und Nachteile der gewählten Herangehensweise zu untersuchen, und den mysteriösen "ambiguities of place" auf den Grund zu gehen. Daher nehme ich mir zuerst Thomas Kühnes Beitrag aus der Sektion "Political Culture" vor. Das Thema politische Kultur im Kaiserreich scheint auf den ersten Blick nicht besonders neu und anregend. Der Experte in Wahlkultur und Geschlechtergeschichte nähert sich dem Thema zunächst über eine präzise Analyse der Wahlstrategien im preußischen parlamentarischen System. Eine seiner Thesen erscheint fragwürdig: Wenn die Polen-Partei, die SPD und in gewissem Maße auch die Zentrumspartei ihre Abgeordneten in geringerem Umfang aus den jeweiligen Wahlbezirken selbst rekrutierten, stand dies dann wirklich in Verbindung mit ihrem Image als "Reichsfeinde" und dem daraus resultierenden weniger ausgeprägten Interesse an lokalen Politikpraktiken (S. 108f.)? Im Übrigen ist jedoch Kühnes Feststellung, dass sich lokale Politikkultur vor allem am Stammtisch, in Vereinen und bei Festen abspielte, nachvollziehbar (S. 112-118). Daran wird erkenntlich, dass für Kühne der Fokus auf "localism" sich in einer rechts- und sozialhistorischen Untersuchung von Wahlstrategien auf lokaler Ebene ausdrückt.

David Blackbourn geht in seinem Beitrag zu "Landschaft, Natur und lokaler Identität im deutschen Osten" dem fast schon modisch gewordenen Thema kolonialer Diskurse über die nach 1918 bzw. 1945 verlorenen preußischen Ostprovinzen nach (dem widmete man beim Historikertag 2008 eine ganze Sektion). Seiner weit rezipierten Studie zur Kulturlandschaftsgestaltung in der neueren Geschichte Deutschlands folgend2, rekonstruiert er die literarische Kreation eines Ortes in Ostbrandenburg durch den Heimatschriftsteller Hans Künkel, und bezieht sie auf oben genannte Diskurse. Dankenswerterweise belässt er es nicht bei der historischen Entwicklung, sondern zeichnet die Nachgeschichte jener Vorstellungen in Westdeutschland nach 1945 nach. Wie einige Beiträge im Sammelband "Traumland Osten"3 zeigen – der, nota bene, in einem ähnlichen setting wie der besprochene spielt – vermögen es gerade diejenigen Forschungen, die die Kontinuitätslinien der "deutschen Bilder vom östlichen Europa" bis in die Nachkriegsjahrzehnte verfolgen, die hier angesprochenen Zeit-Raum-Diskurse um eine interessante kulturwissenschaftliche Analyse zu bereichern. In der gleichen Sektion findet sich noch ein Artikel von Thomas Lekan, der über seine Studien zu Umweltgeschichte und Identität hinausgehend4, hochinteressante Befunde über transatlantische Transfers im Naturschutzdiskurs zwischen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts liefert.

Vielversprechend erscheint die Sektion zu Sprachgrenzen, die sich schwerpunktmäßig mit der Rolle von Tourismus in lokalen Identitätskonstruktionen auseinandersetzt. Zu diesem Thema legen bereits neuere Studien vor, und weitere sind in Vorbereitung.5 Interessant liest sich Caitlin Murdocks Untersuchung zu Landschaftskonstruktionen in Sachsen, insbesondere seinem südlichen Teil. Neben ästhetischen (z.B. sinkende Rolle von Industrieobjekten als Sehenswürdigkeiten) verweist sie auf politische Trends in der Fremdenverkehrswerbung. So wird nach 1918 aus einer typisch deutschen Landschaft ein bedrohtes Grenzland, das der Anwesenheit deutscher Touristen bedarf – ein Befund, der sich mit meinen Untersuchungen zur Riesengebirgsregion deckt (S. 198 und 206f.). Ähnlichen Diskursen geht Pieter M. Judson in seinem Beitrag zur südlichen Peripherie Österreichs nach. Eine seiner Schlussthesen, wonach die "Öffentlichkeitsarbeit" nationalistischer Aktivisten, nicht zuletzt im Bereich des Fremdenverkehrs, erfolgreich zur Territorialisierung der Nation in der Geographie einer Region beigetragen hat, verweist auch auf seine bisherigen Studien zu dem Thema.6

Zwei grundsätzlichere Probleme des Bandes möchte ich jedoch nicht unerwähnt lassen. Erstens das der Zeit: Anders als der Titel verspricht, konzentrieren sich die meisten Beiträge auf das Zweite Reich, mit Verweisen auf die Zwischenkriegszeit. Nur bei Blackbourn reicht die Perspektive in die Jahre nach 1945 hinein. Ein weiteres – wenn man so möchte: politisches – Problem betrifft die Raumvorstellung. Der Begriff "German-speaking Central Europe" ist als Entsprechung des missdeuteten "Mitteleuropa" zu verstehen. Es scheint jedoch, dass die Beiträger die "deutschsprachige" Perspektive etwas zu wörtlich genommen haben, so dass nahezu kein Versuch unternommen wird, den Blick der "Anderen" – sei es Tschechen, Slowenen oder Dänen – zu thematisieren. Die Nachbarvölker werden lediglich aus der Sicht der deutschen Zeitgenossen beschrieben, was sich nicht zuletzt in der Quellenauswahl offenbart. Nun darf man den einzelnen Autoren mangelnde Sprachenkenntnis nicht vorwerfen, doch ein stärkerer Bezug auf aktuelle kultur- und sozialhistorische Forschungen z.B. zu polnischen oder tschechischen Perspektiven auf die Nationalitätenverhältnisse in Zentraleuropa hätte dem Band sicherlich gut getan.7

Alles in allem kann das Gesamtergebnis jedoch nur positiv ausfallen. Ausgehend von einem sehr abstrakten Raumbegriff, den auch der vielfach angeführte "localism" nicht sonderlich konkretisieren hilft, entfaltet der vorliegende Band eine inspirierende Bandbreite an Annäherungen an kulturelle Ortskonstruktionen in der neueren deutschen Geschichte. Dass das Buch keine durchgehende Narration entwickeln mag und sichtlich in seine Einzelteile, bisweilen gar Einzelbeiträge, zerfällt, ist nicht zuletzt wohl dem Charakter eines Tagungsbandes geschuldet. Für zukünftige Untersuchungen auf diesem Feld liefert der Band eine Reihe interessanter Befunde, und kann auch dank seiner guten Lesbarkeit dem interessierten Leser empfohlen werden.

Anmerkungen:
1 Siehe zum Beispiel den auf David Blackbourns Veröffentlichungen Bezug nehmenden Artikel von Neal Ascherson "Herren der Landschaft. Vom Rhein bis zum Oderbruch - aus zwei Jahrhunderten deutscher Umweltgeschichte", erschienen in Le Monde diplomatique Nr. 8045 vom 11.8.2006, <http://www.monde-diplomatique.de/pm/2006/08/11.mondeText1.artikel,a0005.idx,8>.
2 The Conquest of Nature. Water, Landscape and the Making of Modern Germany. London 2006 (dt. Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2007); siehe die Rezension von Christioph Bernhardt: 04.02.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-1-095>.
3 Gregor Thum (Hrsg.), Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert. Göttingen 2006; siehe Peter Oliver Loew bei H-Soz-u-Kult: 11.10.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-4-033>.
4 Thomas M. Lekan, Imagining the Nation in Nature: Landscape Preservation and German Identity, 1885-1945, Cambridge 2004.
5 Joshua Hagen: Preservation, Tourism and Nationalism. The Jewel of the German Past, Aldershot 2006.
6 Zu diesem Thema siehe z.B. Pieter M. Judson: "Every German visitor has a völkisch obligation he must fulfill". Nationalist tourism in the Austrian Empire, 1880-1918", in: Rudy Koshar (Hrsg.): Histories of Leisure, Oxford/New York 2002, S. 147-168; zum breiteren Forschungskontext siehe Pieter M. Judson, Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria, Cambridge (Mass.)/ London 2007; Tatjana Tönsmeyers Rezension in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 7/8, 15.07.2008, <http://www.sehepunkte.de/2008/07/13815.html>.
7 Siehe Izabela Surynt, Postęp kultura i kolonializm. Polska a niemiecki projekt europejskiego Wschodu w dyskursach publicznych XIX wieku, Wrocław 2006; vgl. die fast schon klassische Studie von Jeremy King Budweisers into Czechs and Germans. A Local History of Bohemian Politics, 1848-1948, Princeton 2002.