P. Plickert: Wandlungen des Neoliberalismus

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Titel
Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der "Mont Pèlerin Society"


Autor(en)
Plickert, Philip
Reihe
Marktwirtschaftliche Reformpolitik 8
Erschienen
Stuttgart 2008: Lucius & Lucius
Anzahl Seiten
XII, 516 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael von Prollius, Berlin

Missverständnisse dominieren Wissenschaft und Gesellschaft, sobald vom Neoliberalismus die Rede ist. Philip Plickert, Wirtschaftshistoriker und Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, räumt mit ihnen aus liberaler Perspektive en passant auf, indem er die Meinungsvielfalt und den Wandel des Neoliberalismus nachzeichnet. Seine quellengesättigte, multiperspektivische Betrachtung der Mont Pèlerin Society (MPS) konzentriert sich auf das intellektuelle Zentrum des Neoliberalismus. Sie entstand aus Sicht ihrer Gründer als Notgemeinschaft in der sozialistischen Epoche mit dem Ziel, die liberalen Ideen zu retten und eine Philosophie der Freiheit auszuarbeiten. Bald entwickelte sich die MPS zu einem internationalen Netzwerk, das freiheitlichen Reformen den Boden bereitete, darunter „Maggie Thatchers Rosskur“ (D. Geppert) und die „Reaganomics“. Plickerts eindrucksvolle Ideen- und Politikgeschichte war über die Historiographie hinaus ein Desiderat.

Die These der Dissertation fußt auf den epistemologischen Theorien über wissenschaftliche Paradigmenwechsel von Popper, Kuhn und Laktos. Demnach stellt der Neoliberalismus eine tastende Revision – keine Revolution – des marginalisierten klassischen Liberalismus dar. Seit Anfang der 1930er-Jahre erfolgte eine wissenschaftstheoretische Erneuerung des liberalen Theoriegebäudes durch etatistische Abstützungen. Den Schwerpunkt bildete eine staatliche Wettbewerbspolitik zur (angenommenen) Wohlstandssteigerung des Marktes.

Nach der Lektüre erscheint der neoliberale Revisionismus der frühen MPS als strategisches Zugeständnis an einen Primat der Politik, das allerdings nicht alle widerstreitende Lager intendiert hatten. Zu den schärfsten Kritikern gehörte der prinzipientreue Vertreter des klassischen Liberalismus Ludwig von Mises.1 Schließlich näherte sich die Gesellschaft im Zuge der Auseinandersetzung mit dem als halbsozialistisch bekämpften Wohlfahrtsstaat, der nach MPS-Präsident Milton Friedman anstelle einer zentralen Planung der Produktion nun ihre Ergebnisse weitgehend staatlich umverteilt, stark dem Laissez-faire-Ideal an. Diese Interpretation steht im Einklang mit Plickerts Schilderung: die Politik – nicht wissenschaftliche Erkenntnis – ist der Schlüssel zum Verständnis der Fehler des klassischen Liberalismus sowie des Erfolgs der keynesianischen Revolution und des Neoliberalismus. Zudem passt eine solche Deutung gut zur Strategie des MPS-Gründers Friedrich August von Hayek, der dem Vorbild der Sozialisten folgend auf einen langfristigen Wandel der von Intellektuellen gelenkten öffentlichen Meinung hoffte. Im Vergleich zu seinem Mentor Ludwig von Mises erzielte Hayek beachtliche Erfolge. Allerdings konstatiert Plickert zu Recht, dass „die heutigen Wirtschafts- und Sozialordnungen in den westlichen, industrialisierten Staaten doch eher den Vorstellungen der Sozialdemokraten als denen der Liberalen entsprechen.“ (S. 467)

Als fruchtbar erweist sich der methodische Zugang über die Mont Pèlerin Society auch durch eine Kombination chronologischer und thematischer Organisationsgeschichte sowie internationale Länderstudien. Der erste Teil „Die Geburt des Neoliberalismus aus der Krise“ beschreibt den Aufstieg und Niedergang des klassischen Liberalismus bis zu seinem Ende mit dem Ersten Weltkrieg. In der Zwischenkriegszeit entwickelten sich vier Zentren einer liberalen Erneuerung: Wien mit der Österreichischen Schule um Mises, London mit seinem Schüler Hayek und Lionel Robbins, ferner Freiburg mit den späteren Ordoliberalen um Walter Eucken und schließlich Chicago mit Frank Knight, dem Lehrer Milton Friedmans. Lesenswert in diesem Zusammenhang ist die Darstellung des Walter Lippmann Colloquiums, das „eine Zäsur in der Entwicklung des Liberalismus“ (S. 102) beschreibt, da Liberale erstmals dem Interventionsstaat die Rolle einer aktiven Gestaltungsmacht zuerkannten.

„Ortsbestimmung des Neoliberalismus“ (Teil 2) zeichnet die eigentliche Gesellschaftsgeschichte der MPS vom Erscheinen des Hayekschen Bestsellers „The road to serfdom“ über die Gründung im April 1947 bis zur Krise ab den späten 1950er-Jahren nach. Die MPS war zunächst nur eine Gruppe isolierter, stark deutsch geprägter Intellektueller, die trotz vielfacher Differenzen untereinander Hayeks weitsichtiger Strategie folgten, die Ideale einer freien Gesellschaft wieder zu beleben. Gut aufgearbeitet ist die „Hunold-Affäre“, an der die Gesellschaft fast zerbrochen wäre. Im Zuge einer Konsolidierung sollte der zunächst dominierende soziologische Ordoliberalismus (W. Röpke, A. Rüstow) „austrocknen“ und durch primär ökonomische Positionen angelsächsischer Mitglieder abgelöst werden.

Im dritten Teil mit dem Titel „Die MPS bezieht Stellung: Auf verlorenem Posten?“ arbeitet Plickert zunächst Positionen und Kontroversen in der frühen MPS heraus, darunter Auseinandersetzungen über die Wettbewerbspolitik und die Währungsordnung mit den divergierenden Ansichten der dominierenden Persönlichkeiten Hayek und Friedman zum Goldstandard und zu „Fiat Money“. Anschließend werden Durststrecken, aber auch Durchbrüche sichtbar. Während das MPS-Mitglied Ludwig Erhard in Deutschland mit der Wirtschaftsreform schnelle Erfolge erringen konnte, gelangte Luigi Einaudi in Italien nicht über eine Währungsstabilisierung hinaus. In der Defensive blieben die Neoliberalen im etatistischen Frankreich, angesichts des Labour-Sozialismus in Großbritannien und den vom New Deal gekennzeichneten USA.

Der „Beginn einer neoliberalen Gezeitenwende“ (Teil 4) schildert schließlich den wissenschaftlich erfolgreichen Kampf gegen den aus liberaler Perspektive praktisch gescheiterten und theoretisch widerlegten Keynesianismus.2 Zudem zeigen ausführliche Studien unter anderem zum Aufstieg Thatchers und Reagans Erfolg und Grenzen der MPS als „wissenschaftliche Dachorganisation mit zahlreichen politiknahen 'Filialen'“ (S. 468) ohne Massenbasis auf. Nobelpreisträger James M. Buchanan brachte den Zeitgeist für die MPS auf die Formel: „Socialism is dead, but Leviathan lives on“. Zugleich mehren sich Anzeichen für ein Wiederaufleben der Gründungsfrage, nämlich dem Zusammenhang von Freiheit und Bindung.

Die Studie bietet vielfältige Impulse für eine interdisziplinäre Forschung, darunter die „österreichische“ These vom (geldpolitischen) Staatsversagen als Ursache der Weltwirtschaftskrise. Diskussionsstoff birgt auch die Einordnung von Mises' Person und Werk vor dem Hintergrund einer klassisch-liberalen Rückbesinnung des Neoliberalismus. Ergänzt werden sollte Henry Hazlitts Keynes-Dekonstruktion. Forschungen etwa in Form (mikrohistorischer) Fallbeispiele würden den konkreten Wirkungsmechanismen auf Wissenschaft, Politik und mit Einschränkung auf die Gesellschaft der hier zu kurz gekommenen Ausstrahlung der MPS präzisieren.

Ungeachtet dessen hat Philip Plickerts Ideengeschichte des Neoliberalismus das Potenzial für ein Standardwerk. Als komprimierte Taschenbuchausgabe sollte es jeder Student der Wirtschaftswissenschaften und der Geschichte lesen, zumal als Illustration der Deutungsmacht vermeintlich objektiver Wissenschaft und der Folgen, welche die „Anmaßung von Wissen“ bei den politischen Eliten für die von ihnen abhängigen Menschen haben kann. Die Gegner des Liberalismus dürften dies anders sehen.

Anmerkungen
1 Siehe die Kategorisierung der Teilnehmer des Walter Lippmann Colloquiums in: Jörg Guido Hülsmann, Mises. The last Knight of Liberalism, Auburn 2007, S. 736f., und die Mises-Kritik am Neoliberalismus auf S. 739.
2 Als Meilensteine der theoretischen Widerlegung des Keynesianismus gelten: Milton Friedman, The Quantity Theory of Money. A Restatement, Chicago 1956; Henry Hazlitt, The Failure of the New Economics. An Analysis of Keynesian Fallacies, Toronto 1959, und Hutt William H., Keynesianism. Retrospect and Prospect. A Critical Restatement of Basic Economic Principles, Chicago 1963.

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