P. Carolla (Hrsg.): Priscus Panita

Cover
Titel
Priscus Panita, Excerpta et fragmenta.


Herausgeber
Carolla, Pia
Reihe
Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana
Erschienen
Berlin u.a. 2008: de Gruyter
Anzahl Seiten
XLVIII, 140 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dariusz Brodka, Instytut Filologii Klasycznej, Uniwersytet Jagielloński Kraków

Priskos von Panion gehört mit seinem Geschichtswerk zu den wichtigsten Vertretern der klassischen griechischen Historiographie des 5. Jahrhunderts. Sein Werk ist nur fragmentarisch erhalten, wobei die wichtigsten und längsten Fragmente aus den Exzerpten des Konstantinos Porphyrogennetos stammen. Die moderne Forschung verfügte bislang über einige kritische Priskos-Ausgaben: Die im 19. Jahrhundert veröffentlichten Editionen von Müller und Dindorf berücksichtigten aber noch nicht alle Codices.1 Auch die Ausgabe der konstantinischen Exzerpte griff nicht auf alle Handschriften zurück.2 Im 20. Jahrhundert erhielt die Forschung zwei zuverlässige Ausgaben: zum einen die Edition von Bornmann, der als erster alle erhaltenen Codices mit den konstantinischen Exzerptsammlungen nutzte und auch einige Abschnitte aus der Suda berücksichtigte.3 Seine Edition ist aber insgesamt wenig bekannt. Heute verwendet man meistens die Ausgabe von Blockley 4, der sich nicht nur auf die konstantinischen Exzerpte beschränkte, sondern Priskos auch einige Texte aus anderen griechischen Geschichtswerken zuwies, die mittelbar oder unmittelbar die Priskos-Tradition widerspiegeln. Darüber hinaus versuchte Blockley mit seiner Zuordnung der Fragmente eine Einsicht in den Aufbau des Werkes zu geben. Problematisch ist aber der Umstand, dass er in einigen Fällen die konstantinischen Exzerpte in kleinere Abschnitte teilte. Trotzdem ist seine Edition aber überaus wertvoll, da seine Arbeit auch eine grundlegende Monographie zu den griechischen Historikern des 5. Jahrhunderts darstellt und einen kurzen Kommentar zu den einzelnen Fragmenten enthält.

Carolla versucht nun mit ihrer neuen Edition, die Arbeit ihres Lehrers Bornmann fortzusetzen. Aufschlussreich ist insbesondere der Titel des Buches: Excerpta et Fragmenta. Ihre Hervorhebung der Exzerpte resultiert wohl daraus, dass sie – und dies zu Recht – die konstantinischen Exzerptsammlungen als einen glaubwürdigen Textzeugen betrachtet. Carolla geht von der Grundvoraussetzung aus, dass die Exzerptoren ihre Quellen wenig überarbeiteten und darauf bedacht waren, den originalen Textbestand zu erhalten (S. XXXII). Deswegen überliefern die einzelnen Auszüge den Text des Priskos weitgehend zuverlässig. Für Exzerpte hält sie aber auch die Passagen aus den Getica des Jordanes, in denen Priskos als Vorlage verwendet wird.5 Ob man in diesem Fall aber von Auszügen im eigentlichen Sinne sprechen darf, muss bezweifelt werden.

Im ersten Teil der Edition (Excerpta de legationibus, S. 1-3; Excerpta de insidiis, S. 4; Excerpta de legationibus sequuntur, S. 5-80; Excerpta incertae sedis, S. 82f.) finden sich vor allem die Auszüge aus den Excerpta de legationibus sowie zwei aus den Excerpta de insidiis (exc. 1a-1b). Unter den Exzerpten nahm Carolla aber auch einige Passagen aus den Getica des Jordanes (z.B. exc. 9, 10, 17 und 23) und der Suda (z.B. exc. 11) auf. Es werden hier also Fragmente ganz unterschiedlicher Provenienz zusammengestellt. Daher bleibt es unklar, wieso all diese Fragmente bzw. Exzerpte unter dem Titel Excerpta de legationibus aufgeführt werden. In dieser wenig konsequenten Vorgehensweise werden mithin sowohl die wirklichen Auszüge als auch die auf Priskos’ Werk zurückgehenden Fragmente unter die konstantinischen Exzerpte subsumiert. Insgesamt enthält der erste Teil 49 Exzerpte (exc. 1-49). Da Carolla auf alle erhaltenen Handschriften mit den konstantinischen Exzerpten zurückgreift, bietet sie einen glaubwürdigen Text mit einem ausführlichen kritischen Apparat, dem das gut rekonstruierte Stemma zugrunde liegt. Die Nummerierung der Exzerpte ist aber etwas verwirrend: So gibt es insgesamt vier Exzerpte 1, die sich aber auf verschiedene Texte beziehen: exc. 1, exc. 1,1, exc. 1a und exc. 1b. Exc. 1 und 1,1 (= fr. 2 Blockley) betreffen den Hunnenkönig Rua, es handelt sich also eher um ein einziges Fragment (wie auch Blockley annimmt). Warum aber zwei ganz unterschiedliche Fragmente über die Belagerungen von Novidunum (exc. 1a = fr. 5 Blockley) und von Naïssus (exc. 1b = fr. 6,2 Blockley) unter exc. 1 subsumiert werden, ist völlig unklar. Mit Hilfe von „a“ oder „b“ sollte man eher alternative Versionen desselben Textes bezeichnen, nicht aber zwei verschiedene Texte; die Reihenfolge bei Blockley (fr. 5 u. fr. 6,2) ist hier wohl vorzuziehen.

Der zweite Teil der Edition führt nach den excerpta die fragmenta dubia auf. Auch sie werden kontinuierlich durchnummeriert, nach den Exzerpten mit den Nummern 1 bis 49 folgen also die Fragmente mit den Nummern 50 bis 83. Die wechselnde Begrifflichkeit ist zwar verständlich, stellt aber sicher keine optimale Lösung dar. In diesem Teil werden Texte aus verschiedenen Werken zusammengestellt, die wahrscheinlich auf Priskos zurückgehen. Größtenteils wurden die einzelnen Fragmente bereits in die Editionen von Bornmann bzw. Blockley aufgenommen. Gänzlich neue Vorschläge für Priskos-Texte (so etwa aus Johannes von Antiochien) sind eher selten. Einige von Blockley aufgenommene Fragmente lehnt Carolla dagegen ab (z.B. fr. 3,1 Blockley). Da Carollas Edition aber – ähnlich wie die anderen Teubner-Ausgaben – keinen Kommentar hat, bleiben bedauerlicherweise die Gründe, warum die einzelnen Fragmente berücksichtigt wurden oder unberücksichtigt blieben, ganz unklar. Die Edition enthält nützliche indices nominum, locorum und fontium fragmentorum dubiorum, es fehlt aber an der notwendigen comparatio numerorum, die die Überprüfung einzelner Stellen der Bornmann-, Blockley- und Carolla-Ausgaben erleichtern könnte.

Da hier nicht der Ort ist, um alle Fragmente detailliert zu besprechen, möchte ich mich nur auf einige Bemerkungen beschränken. Ein moderner Priskos-Kommentar ist nach wie vor ein Desiderat. Beachtenswert sind insbesondere die von Bornmann, aber nicht von Blockley berücksichtigten Textstellen, die sich auf die diplomatische Tätigkeit des Anatolius im Osten beziehen (fr. 54 = Theoph. AM 5921; fr. 59 = Proc. bell. 1,2,11-15) und die aus dem Werk des Priskos stammen könnten. Problematisch ist die Tatsache, dass fr. 54 über das Geschehen des Jahres 428 berichtet, es aber gar nicht sicher ist, ob das Geschichtswerk des Priskos bereits diese Periode umfasste. Insgesamt aber mag der Detailreichtum in beiden Fällen auf eine gut informierte und kompetente Quelle hinweisen, die mit Priskos identisch sein könnte. Sehr kompliziert ist hingegen das Problem des fr. 66b (= Proc. bell. 3,4,29-35). Carolla markiert zwar kursiv, dass der erste Satz nicht unmittelbar auf Priskos zurückgeht, zitiert aber (ähnlich wie Blockley) den ganzen Prokopios-Text, ohne eine quellenkritische und sachliche Analyse durchzuführen. Da ich bereits an anderer Stelle eine ausführliche Analyse dieser Passage vorgelegt habe, seien hier nur die Hauptgedanken wiederholt: Meines Erachtens haben wir es hier mit zwei verschiedenen Priskos-Fragmenten zu tun. Proc. bell. 3,4,29-35 besteht aus zwei Teilen, einer allgemeinen Einführung (3,4,29), die die große Macht Attilas hervorhebt, und aus dem Bericht über die Einnahme Aquileias durch die Hunnen (3,4,30-35). Prokop vertritt die Ansicht, Attila habe ganz Europa geplündert, denn niemand habe ihn nach dem Tod des Aëtius aufhalten können. Sowohl das west- als auch das oströmische Reich seien gegenüber dem Hunnenkönig unterwürfig gewesen und hätten ihm Tribut gezahlt (3,4,29). Diese Feststellung liest sich wie eine Zusammenfassung von Attilas Karriere. Prokop muss sie einem Text entnommen haben, der die Geschichte des Hunnenkönigs mit einem kurzen Überblick beendete, und sie dann irrtümlich mit dem Tod des Aëtius in Zusammenhang gesetzt haben. Prokop scheint von der eher idealistischen Voraussetzung auszugehen, dass Aëtius das letzte Bollwerk gegen die Barbaren gewesen sei und dass die Römer zu seinen Lebzeiten die Barbaren hätten besiegen können. Der Historiker versucht nicht, diese Annahme zu verifizieren. Aus diesem Grund spielt die chronologische Reihenfolge für ihn keine Rolle: Er denkt nicht darüber nach, dass Attila noch zu Lebzeiten des Aëtius einige wichtige Städte Norditaliens eroberte. Er schenkt darüber hinaus den hunnisch-oströmischen Auseinandersetzungen in den 440er-Jahren insgesamt kaum Beachtung. Die chronologischen Verwechslungen in Prokops Bericht beruhen somit auf einem Flüchtigkeitsfehler. Er fügt die einzelnen, in der Wirklichkeit unverbundenen Ereignisse zu einer Sequenz zusammen, um eine bestimmte Interpretation vorzugeben: Der Tod des Aëtius, der letzten Hoffnung der Weströmer, habe katastrophale Folgen für den Westen gehabt. Mit der Nachricht über Attila und dessen Erfolge wollte Prokop diese These veranschaulichen. Die Einfügung der Erzählung über Attila und Einnahme Aquileias durch die Hunnen ist der literarischen Gestaltung geschuldet, die hier dem Prinzip der Anschaulichkeit den Vorrang vor der Genauigkeit gibt. Der Fehler, dass Aëtius vor Attila ums Leben gekommen sei, hat somit zwei Ursachen: Prokops Bild von Aëtius als dem letzten Bollwerk gegen die Barbaren sowie seiner mangelnden Kenntnisse zur Geschichte der Hunnen.6 In 3,4,29 greift Prokop auf den Teil von Priskos’ Geschichtswerk bzw. der Priskos-Epitome (vielleicht des Eustathios von Epiphaneia) zurück, in welchem Attilas Ende dargestellt wurde. Proc. bell. 3,4,30-35 bezieht sich dagegen auf den Einfall der Hunnen in Italien. Bei Priskos stand er mit Sicherheit vor dem Tod sowohl des Aëtius als auch des Attila.

Prokops Intentionen sind leicht zu erkennen: Er will zeigen, dass die Ermordung des Aëtius unmittelbare Konsequenzen gehabt habe. Nach dessen Tod habe Attila das Römische Reich wieder angegriffen und ganz Europa geplündert, ohne diesmal auf größeren Widerstand zu stoßen (3,4,29). Prokopios entwirft damit ein kohärentes und dramatisches, aber im Hinblick auf die chronologische Reihenfolge falsches Bild des Geschehens. Die Deutung, die er hier bietet, weist gewisse Ähnlichkeiten mit der des Marcellinus Comes auf (vgl. chron. a. 454,2). Die Ermordung des Aëtius lässt sich aus dieser Perspektive als das entscheidende Moment in der Geschichte Westroms deuten, denn sie setzt eine Ereigniskette in Gang, die zum Fall des Weströmischen Reiches führt. Auf Grund dieser Deutung ist der Historiker hier nicht an chronologischer Präzision interessiert, sondern versucht durch entsprechende Auswahl und Anordnung des Stoffes die Verbindungslinien und Kausalzusammenhänge herzustellen, um sein Quellenmaterial zu einem zwar allgemeinen, aber trotzdem wahrscheinlichen Bild der Ereignisse in Rom zusammenzufügen. Zu diesem Zweck verbindet er die einzelnen in der Wirklichkeit unverbundenen Ereignisse (Tod des Aëtius und Einfall der Hunnen in Italien) miteinander.7

Zudem ist es sehr wahrscheinlich, dass die Vorstellung von Aëtius als Bollwerk gegen die Barbaren in der griechischen Tradition auf Priskos zurückgeht. Ihre Spuren sind bei Prokop und Johannes von Antiochien zu finden. Johannes stellt die Umstände von Aëtius’ Ermordung sehr ausführlich dar. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit darf man annehmen, dass dieser Passus unmittelbar auf Priskos zurückgeht. Priskos / Johannes hält den Tod des Aëtius für den kritischen Punkt in der Geschichte Westroms, Aëtius wird dabei teichos [...] tes arches genannt (Prisc. fr. 30,1 v. 9ff. Blockley / fr. 69 Carolla = Ioh. Ant. fr. 293,1 Roberto v. 8-9).8 Carolla lehnt daher zu Unrecht Priskos’ Autorschaft der Schlüsselbezeichnung teichos tes arches ab, indem sie diese kursiv markiert (fr. 69, v. 17-18). Die Umstände von Aëtius’ Tod stellte Priskos grundsätzlich sachlich und in pragmatischen Kategorien dar. Diese Schilderung verwendete Johannes von Antiochen als seine Vorlage (Prisc. fr. 30,1 v. 9ff. Blockley / fr. 69 Carolla = Ioh. Ant. fr. 293,1 Roberto). Eine andere, eher „romantische“ Fassung der Ereignisse, die in den bella des Prokop (3,4,16ff.), in den Excerpta Salmasiana (Exc. Salm. II 82 = Ioh. Ant. fr. 293,2 Roberto) und in der Suda (Suid. Θ 389 = Prisc. fr. 70 Carolla / fr. 62 Bornmann) zu finden ist, könnte ebenfalls aus Priskos stammen, wo sie vielleicht als eine alternative Erklärung des Geschehens fungierte.9 Plausibler ist aber sicherlich, dass diese Auffassung erst in der nachpriscianischen Tradition entstand.

Insgesamt liefert die neue Edition einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Priskos-Forschung. Sie bietet einen zuverlässigen Text, ohne die einzelnen Exzerpte aus ihrem Zusammenhang herauszulösen und schlägt einige neue hypothetische Fragmente vor. Sie geht aber nur in sehr beschränktem Maß über die Ergebnisse der älteren Forschung hinaus.10 Die Reihenfolge der Exzerpte und Fragmente ist nicht in jedem Fall überzeugend, dasselbe gilt auch für die Zuordnung einiger nicht sicherer Fragmente, so dass Carollas Ausgabe die ältere Edition Blockleys nicht völlig ersetzen kann. Zweifelsohne wird die Priskos-Forschung von dieser Neuausgabe aber viele wichtige Impulse erhalten.

Anmerkungen:
1 Karl Müller / Thedodor Müller (Hrsg.), Fragmenta Historicorum Graecorum, Bd. IV-V, Paris 1851-1870; Ludwig Dindorf (Hrsg.), Historici Graeci Minores, Leipzig 1870.
2 Carl de Boor (Hrsg.), Excerpta de legationibus, Berlin 1903. De Boor benutzte noch nicht den Codex C.
3 Fritz Bornmann (Hrsg.), Prisci Panitae Fragmenta, Firenze 1979.
4 Roger C. Blockley, The Fragmentary Classicizing Historians of Later Roman Empire. Eunapius, Olympiodorus, Priscus and Malchus, Bd. 1, Liverpool 1981; Bd. 2, Liverpool 1983.
5 Passagen aus Jordanes erscheinen dann auch als fragmenta dubia.
6 Dariusz Brodka, Attila und Aetius. Zur Priskos-Tradition bei Prokopios von Kaisareia, in: Jerzy Styka (Hrsg.), From Antiquity to Modern Times. Classical Poetry and It Modern Reception. Essays in Honour of S. Stabryła, Kraków 2007, S. 149-158, hier 155f.
7 Brodka, Attila, S. 150.
8 Ausführlich dazu Brodka, Attila, S. 152f.
9 Brodka, Attila, S. 149f.
10 Zu den Elementen der Priskos-Tradition bei Jordanes vgl. Dariusz Brodka, Attila, Tyche und die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern. Eine Untersuchung zum Geschichtsdenken des Priskos von Panion, in: Hermes 136 (2008), S. 227-245.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension