T. Schröder: Naturwissenschaften und Protestantismus

Titel
Naturwissenschaften und Protestantismus im Deutschen Kaiserreich. Die Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und ihre Bedeutung für die Evangelische Theologie


Autor(en)
Schröder, Tilman M.
Reihe
Contubernium 67
Erschienen
Stuttgart 2008: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
XII, 561 S.
Preis
€ 90,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Koenig, Kerkgeschiedenis (Kirchengeschichte), Theologische Universiteit Kampen

Die Naturwissenschaften entwickelten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer akademischen und kulturellen Leitdisziplin: Für Werner von Siemens etwa hatte mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „das naturwissenschaftliche Zeitalter“ begonnen. Damit war der entscheidende Antrieb für die zukünftige Aufwärtsbewegung der Menschheit gegeben.1 Mit den Naturwissenschaften schien die Hoffnung auf eine Verbesserung des sozialen und individuellen Lebens insgesamt greifbar zu werden: „Naturerkenntnis ist Kulturfortschritt“, so ließen sich diese Erwartungen in einer griffigen und vollmundigen Formel zusammenfassen. Für die christliche Theologie stellte der Bedeutungsgewinn des naturwissenschaftlichen Weltbildes eine erhebliche Herausforderung dar. Neben die mit der Aufklärung eingeleiteten Auseinandersetzungen um eine Neuinterpretation der religiösen Traditionsbestände trat die Konkurrenz um die kulturelle Deutungshoheit. „Hat die christliche Weltanschauung die Naturwissenschaft zur fürchten?“, bangte ein protestantischer Theologe.2

Prägend für das Bild der gegenseitigen Wahrnehmung von Religion und Naturwissenschaft sind vor allem die ideologisch aufgeladenen Auseinandersetzungen um die Evolutionstheorien Charles Darwins, die die Öffentlichkeit im Kaiserreich wirkungsvoll in der Zuspitzung Ernst Haeckels erreichten. Bereits Andreas Daum hatte in seiner Studie zur Wissenschaftspopularisierung darauf hingewiesen, wie sehr in diesem Konflikt mit Mythen und Bedrohungsszenarien hantiert wurde, durch welche die sachliche Auseinandersetzung in den Hintergrund geriet.3 Bis heute hat sich das Bild eines unaufhebbaren und konfliktträchtigen Widerspruchs zwischen Wissenschaft und Religion unhinterfragt erhalten. Vor allem im Gefolge des Säkularisierungsparadigmas ließ sich die theologische Rezeption der naturwissenschaftlichen Forschung häufig als Rückzugsgefecht, teils auch als aggressive Abgrenzung beschreiben. Die Theologie zog sich in die Apologetik zurück und ließ wenig Raum für einen Dialog auf Augenhöhe. Die naturwissenschaftlichen Fachvertreter reagierten weitgehend mit einer Abwendung vom institutionalisierten Kirchenchristentum oder verhielten sich ihm agnostisch-gleichgültig gegenüber.

Die gegenseitige Wahrnehmung von Theologie und Naturwissenschaften untersucht nun die theologische Habilitationsschrift des Tübinger Kirchenhistorikers Tilman Matthias Schröder. Schröder zielt mit seiner Studie darauf, die Gesamtentwicklung des beiderseitigen Verhältnisses im deutschen Kaiserreich darzustellen und die jeweiligen weltanschaulichen Positionen beider Seiten nachzuzeichnen. Dazu zieht Schröder die Sitzungsakten der ‚Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte‘ als führendem naturwissenschaftlichen Fachverband im Kaiserreich heran und stellt diese einer Vielzahl von Zeitschriften und Kleinpublikationen aus dem protestantisch-akademischen Umfeld gegenüber. Anstelle eines konfliktreichen Dualismus nimmt Schröder einen nuancenreichen Rezeptions- und Aneignungsprozess seitens der evangelischen Theologie wahr, der gleichwohl nicht ohne zahlreiche Missverständnisse auskam. Am Ende des Kaiserreiches hatte die protestantische Theologie „die Selbständigkeit und ‚Normalität‘ der Naturwissenschaften akzeptiert“, so Schröders Resümee (S. 195). Diese Entwicklung wird von Schröder quellenreich und nachvollziehbar rekonstruiert.

Schröders Untersuchung wird durch einen Überblick über wesentliche Stationen in der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Fächer eröffnet. An den seit 1822 jährlich stattfindenden ‚Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte‘ macht Schröder den „säkularen Paradigmenwechsel in der neueren Wissenschaftsgeschichte“ sichtbar (S. 15). Konnten einzelne Naturwissenschaftler in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch im Sinne der Romantik ihr Fach als Naturbetrachtung und „Isis-Kult“ auf dem Weg zu einer vertieften Gotteserkenntnis betrachten, verschwanden solche Selbstbilder rasch mit der zunehmenden Professionalisierung und Spezialisierung der einzelnen Disziplinen. Naturphilosophische Beiträge traten in den Hintergrund, die Darstellung experimenteller Forschungsergebnisse sowie die Debatte um ihre Deutung und ihre gesellschaftlichen Implikationen waren gefragt.

Die Bedeutung der Naturforscher-Versammlungen reichte weit über den fachwissenschaftlichen Horizont hinaus. Als fachliches Podium mit Öffentlichkeitswirkung standen die Kongresse der Diskussion um das Verhältnis von Wissenschaft und Staat, Kultur und Kirche offen und trugen zur methodischen und institutionellen Festigung der Naturwissenschaften bei. Mit Rudolf Virchow fanden die Versammlungen eine einflussreiche und wissenschaftspolitisch geschickte Persönlichkeit, die die Naturwissenschaften als „Kulturprogramm“ und als „Einheitswissenschaft“ propagierte und sie als Gegenpol „klerikalen Strebens“ in den Dienst gesellschaftlichen Fortschritts stellte (S. 82ff.). Aufklärung und Wahrheitsstreben waren Zukunftswerte, mit denen die jungen Wissenschaftsdisziplinen eine kulturelle und ethische Erneuerung einleiten wollten. Dabei blieben kulturkämpferische Seitenhiebe besonders auf den Katholizismus nicht aus. Wie Schröder herausarbeitet, waren harsche Angriffe auf das Christentum wie in den materialistischen Entwürfen Karl Vogts oder Ludwig Büchners jedoch die Ausnahme. Nach dem Göttinger Materialismus-Streit von 1854 herrschte eher eine methodische Absage an den Bau spekulativer Systeme vor. Wirkungsvoll und richtungweisend war das berühmte „Ignorabimus“, mit welchem der Berliner Physiologe Emil Du Bois-Reymond sich für einen „methodischen Materialismus“ aussprach und Aussagen über die „Körperwelt“ hinaus auf naturwissenschaftlichem Wege ausschloss.

„Die herausgeforderte Theologie“ hat Schröder den zweiten Hauptteil seiner Arbeit überschrieben. Schröder zeigt an zahlreichen Beispielen, wie schwer sich die evangelische Theologie damit tat, den biblischen Schöpfungsglauben mit den neuen Evolutionstheorien in Bezug zu setzen. Die evangelische Theologie wurde von der rasanten Entwicklung der Naturwissenschaft förmlich überrollt. Naturwissenschaftliche Argumentationen wurden häufig an biblizistischen Linien bemessen oder durch Harmonisierungsversuche entschärft. Es war vor allem Darwins zweites großes Werk über ‚Die Abstammung des Menschen‘, das 1871 in deutscher Übersetzung erschien und heftigen Widerspruch auslöste, die Theologie aber auch auf die Notwendigkeit einer sachlichen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Naturkunde verwies. Schröder zeigt etwa am Beispiel des Greifswalder Theologieprofessors Otto Zöckler, dass sich auch streng konfessionelle Protestanten nicht grundsätzlich den neuen Forschungsergebnissen verschließen konnten, auch wenn Zöcklers Projekt einer Synthese von Christentum und Naturwissenschaft sachlich zum Scheitern verurteilt war. Eher wissenschaftstheoretisch argumentierten die Theologen im Umkreis der Ritschl-Schule und der liberalen Theologie. Das „Warum“ und eben nicht das Ganze der Welt zu beschreiben, sollte die Domäne der Theologie sein. Bis zur Jahrhundertwende hatten protestantische Theologie und Kirche einen Diskussionsstand erreicht, der sie für einen Dialog mit den Naturwissenschaften hätte öffnen können. Für den Gesprächspartner waren solche Fragestellungen jedoch inzwischen zu einem bloßen Randthema geworden.

Weltanschauliche Großentwürfe, wie Ernst Haeckel sie 1899 mit seinen „Welträthseln“ vorlegte, gaben keine regulären Positionen innerhalb der Naturwissenschaft wider, konnten aber mit einem hohen öffentlichen Interesse rechnen. Schröder widmet den dritten Teil seiner Untersuchung diesem „Weltanschauungskampf“ der Jahrhundertwende. Die religionskritischen Äußerungen etwa im Monistenbund führten zu heftigen apologetischen Aktivitäten auf kirchlicher Seite, die wiederum bei den Naturwissenschaftlern die Befürchtung auslösten, dass die eben errungene Freiheit der Wissenschaft durch konservative Kreise eingeschränkt würde. Hier wurde eine Kulturdebatte geführt, denn sachlich hatte die akademische Theologie das zentrale Thema, die Entwicklungslehre, um die Jahrhundertwende bereits ausgiebig rezipiert. Schröder stellt diese Auseinandersetzungen intensiv an Eberhard Dennert und dem Keplerbund (ab 1907) dar und ordnet sie in die zeitgenössische publizistische Landschaft ein. Das ist gewinnbringend zu lesen und lädt zu weiteren Untersuchungen ein: Schröder stellt hier überblicksartig die regen publizistischen Aktivitäten dieses bisher kaum erforschten Verbandes dar, der sich als von den kirchlichen Behörden unabhängiger Zusammenschluss evangelischer Laien der „naturwissenschaftlichen Volksaufklärung“ verschrieb und – zahlenmäßig dem detailliert untersuchten Monistenbund bald überlegen – erheblich zur Popularisierung wissenschaftlicher Themen im protestantischen Milieu beitrug.

Schröders Untersuchung zeichnet ein Stück Theologie- aber auch Naturwissenschaftsgeschichte nach. Er gibt eine umfängliche bibliographische Übersicht über die apologetische, religionsphilosophische und wissenschaftstheoretische Debatte zu naturwissenschaftlichen Themen im protestantischen Lager seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schröder zieht selbst entlegene Theoriegebäude für seine Darstellung heran und macht sie dem Leser handhabbar. Im Fokus stehen Beiträge weit überwiegend von Universitätstheologen, die detailreich wiedergegeben werden. Das hat seinen Preis: Während die ersten Kapitel eher referierend akademische Positionen abtasten, bewegt sich Schröder erst in seinen letzten Kapiteln auf die Tiefenstrukturen eines Diskurses zu, der mitunter angstbesetzt und polemisch, häufig aber auch auf hohem Niveau geführt wurde und der schließlich zu grundlegenden Anpassungsleistungen, jedenfalls im europäischen, bürgerlich-akademisch geprägten Mainstream-Protestantismus, geführt hat.

Anmerkungen:
1 Werner von Siemens, Das naturwissenschaftliche Zeitalter. Vortrag, gehalten in der 59. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte am 18. September 1886, Berlin 1886, S. 92.
2 Gottfried Riehm, Hat die christliche Weltanschauung die Naturwissenschaft zu fürchten?, Potsdam 1904.
3 Andreas Baum, Wissenschaftspopularisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848-1914, München 1998.

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