Cover
Titel
Reconsidering Woodrow Wilson. Progressivism, Internationalism, War, and Peace


Herausgeber
Cooper, John M.
Erschienen
Anzahl Seiten
359 S.
Preis
£ 31,50
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Gottfried Niedhart, Seminar für Neuere Geschichte, Universität Mannheim

Anlässlich des 150. Geburtstags von Woodrow Wilson hat 2006 am Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington, D.C. eine wissenschaftliche Tagung stattgefunden, die dem politischen Wirken Wilsons gewidmet war. In der akademischen Welt als Professor für Politikwissenschaft und schließlich als Präsident der Universität Princeton groß geworden, trat er erst 1910 auf Seiten der Demokraten in die praktische Politik ein, zunächst als Gouverneur von New Jersey und dann von 1913 bis 1921 als 28. Präsident der USA. Beide Lebensabschnitte sind dadurch verbunden, dass Wilson sich vorrangig als Reformer verstand. Auf die Universitätsreform folgten das soziale und wirtschaftliche Reformprogramm des Gouverneurs und der epochale Reformansatz des Präsidenten zur Neuorganisation des internationalen Systems in Gestalt des Völkerbunds.

Im öffentlichen Bewusstsein ist es vor allem Wilsons Rolle in der amerikanischen Außenpolitik und in den internationalen Beziehungen, die seine Bedeutung und Nachwirkung ausmachen. Wilsonianism steht für eine interventionistische Politik der USA im Namen von Demokratie und Marktwirtschaft. Im Denken Wilsons hing seine Vorstellung einer „die alten, unglücklichen Zeiten“ überwindenden liberalen Friedensordnung eng mit seinem innenpolitisch-gesellschaftlichen Reformansatz zusammen. Dem Streben nach gesellschaftlichem Frieden durch moderate Eingriffe des Staates in das ungezügelte Marktgeschehen entsprach die Zielsetzung, die anarchische Struktur des Staatensystems in ein internationales Regime kollektiver Sicherheit zu überführen. Zu Beginn seiner politischen Laufbahn konzentrierte sich Wilson mit gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Gesetzgebungsinitiativen ganz auf die Innenpolitik. Zu Recht wird von John Milton Cooper in einem für den Band programmatischen Beitrag („Making a Case for Wilson“) der Vergleich mit Franklin D. Roosevelts New Deal und Lyndon B. Johnsons Great Society angestellt. Wilson sah sich schon vor 1914, dann aber verstärkt nach Kriegsbeginn gezwungen, die Prioritäten neu zu setzen und sich den von außen kommenden Herausforderungen zu stellen. Wie Wilson hatten auch FDR und LBJ ein internationales Konzept vor Augen, das innerstaatliche Ordnungsvorstellungen in die inter- und transnationale Welt verlängerte. Demokratie, Marktwirtschaft und Freihandel waren auch die Kernelemente der Atlantik Charter von 1941, die für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die westliche Konstruktion des Friedens konstituierte. Was für Roosevelt zunächst noch überschaubar erschien – der Konflikt zwischen der liberalen One World-Vision und ihren Feinden verschiedenster Art – hatte sich für Johnson zu einer globalen Konfrontation entwickelt. Anders als im Fall des wilhelminischen oder des nationalsozialistischen Deutschland kam in der direkten Konfrontation mit der Sowjetunion Krieg nicht mehr in Betracht und blieb als Mittel des Konfliktaustrags auf die Peripherie der Dritten Welt beschränkt. In der Auseinandersetzung mit der sowjetischen Weltmacht plädierte Johnson für eine langfristig angelegte Transformationsstrategie unter liberalen Vorzeichen, mit deren Hilfe der kommunistische Machtbereich für den Westen Schritt für Schritt geöffnet und auf diese Weise der Ost-West-Konflikt befriedet werden sollte. Johnsons Politik des bridge building war die amerikanische Variante der Entspannungspolitik, die in Frankreich détente hieß und in der Bundesrepublik Deutschland als Ostpolitik einen „Wandel durch Annäherung“ erstrebte.

Damit ist das breite Themenspektrum genannt, das in diesem Band abgeschritten wird. Sein Wert besteht darin, dass Wilsons politischer Ansatz sowohl im Kontext seiner Zeit dargestellt wird als auch im Hinblick auf die Langzeitperspektive des 20. Jahrhunderts mit seinen heißen und kalten Weltkriegen. Im ersten Abschnitt behandeln Trygve Throntveit und W. Elliot Brownlee wirtschafts- und finanzpolitische Gesetzgebungen, die im Zuge des seit der Jahrhundertwende weithin diskutierten progressivism zu verstehen sind. Die „progressive Bewegung“ war parteiübergreifend in der Gesellschaft verankert, erfuhr aber jetzt ihre Beschleunigung und politische Umsetzung. Unter Wilsons Beratern ist vor allem Louis Brandeis zu nennen, mit dem auf Drängen des Präsidenten 1916 erstmals ein Jude Richter am Supreme Court wurde. Das Anti-Trust Gesetz sollte die Macht der großen Konzerne beschneiden und mit dem Federal Reserve Act wurden die Grundlagen für eine Zentralbank zur Steuerung von Geldmenge und Zinsniveau gelegt. Vor dem Hintergrund der Hochindustrialisierung und der Schieflagen der industriellen Massengesellschaft beanspruchte der Staat im Interesse des sozialen Friedens eine gewisse Regulierungskompetenz.

Weniger „progressiv“ war Wilson gegenüber Rassen- und Genderfragen eingestellt. Ihnen wenden sich im zweiten Abschnitt Gary Gerstle und Victoria Bissell Brown zu. Als erster Südstaaten-Präsident seit dem Bürgerkrieg grenzte er mit seinem „racial nationalism“ die Schwarzen aus der amerikanischen Nation aus und hielt unvermindert an der Rassentrennung fest. Gender wird nur unter dem Gesichtspunkt des Frauenwahlrechts diskutiert, dem Wilson aus Opportunitätsgründen zustimmte.

Mit „The Seeds of Wilsonianism“ ist der dritte Abschnitt überschrieben. Er enthält einen Beitrag von Mark T. Gilderhus über die Intervention gegen Mexiko 1913 und die Lateinamerikapolitik der folgenden Jahre. Lloyd W. Ambrosius bringt in seiner Studie über „Democracy, Peace and World Order“ das berühmte Schlüsselzitat aus Wilsons Rede vor dem Kongress, mit der er den Kriegseintritt der USA im April 1917 begründete: „The world must be made safe for democracy.“ Verglichen mit herkömmlichen Formulierungen von Kriegszielen war dies eine revolutionäre Botschaft, mit der als Voraussetzung für einen Friedensschluss auf einen Regimewechsel beim Kriegsgegner abgezielt wurde. In derselben Rede sorgte der Präsident aber auch für den durchaus wahrscheinlichen Fall von Opposition gegen den Krieg im eigenen Land vor. Alle Formen von Illoyalität müssten mit „a firm hand of repression“ rechnen. In der Tat kam es, wie Geoffrey R. Stone herausarbeitet, zu einer massiven Einschränkung von bürgerlichen Freiheiten, was 1920 zur Gründung der American Civil Liberties Union führte.

Der letzte Teil des Bandes mit Beiträgen von Emily S. Rosenberg, Martin Walker, Frank Ninkovich und Anna-Marie Slaughter gilt dem Vermächtnis Wilsons im Sinne der oben erwähnten Nachwirkung seiner Vorstellungen und Politik im 20. Jahrhundert. Erstaunlich ist, dass kein Politikwissenschaftler oder Historiker gebeten wurde, die seit den 1990er-Jahren viel diskutierte These vom „Demokratischen Frieden“ unter Bezug auf Wilsons Postulat von der Partnerschaft demokratisch verfasster Staaten vorzustellen. Ebenso fehlt eine Studie über den Eintritt der USA in den Krieg 1917, die das in diesem Band ausgiebig erörterte Ideengerüst Wilsons über den Zusammenhang zwischen Demokratie, Marktwirtschaft und Frieden und Wilsons Überzeugung vom globalen Missionsauftrag der USA mit der amerikanischen Real- und Interessenpolitik verzahnt hätte. Insgesamt aber bietet der Band eine willkommene Zusammenschau neuerer Forschungen zur Präsidentschaft Wilsons, zu seinem Scheitern nach Beendigung des Ersten Weltkriegs und nicht zuletzt zu den Impulsen, die von ihm im „Wilsonian Century“ 1 ausgegangen sind. Der Gebildetste unter seinen Verächtern, Henry Kissinger, sprach von Wilsons „intellektuellem Erfolg“: „Wann immer die Vereinigten Staaten sich mit der Schaffung einer neuen Weltordnung auseinandersetzten, beriefen sie sich in der einen oder anderen Weise auf Woodrow Wilsons Lehre.“2

Anmerkungen:
1 Frank Ninkovich, The Wilsonian Century. U.S. Foreign Policy since 1900, Chicago 1999.
2 Henry A. Kissinger, Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik, Berlin 1994, S. 51.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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