R. Lohlker: Islam. Eine Ideengeschichte

Titel
Islam. Eine Ideengeschichte


Autor(en)
Lohlker, Rüdiger
Erschienen
Wien 2008: UTB
Anzahl Seiten
282 S.
Preis
EUR 19,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian H. Meier, Exzellenzcluster "Kulturelle Grundlagen von Integration", Universität Konstanz

Wer sich in deutscher Sprache über den Islam und seine Geschichte informieren möchte, hat die Wahl zwischen zahlreichen Einführungen und Überblickswerken. Diese sind zumeist grundsolide und beziehen immer öfter auch Regionen wie Afrika oder Südostasien mit ein, die in der klassischen Fokussierung auf den Nahen und Mittleren Osten unter den Tisch fielen. Intensive Auseinandersetzungen mit neueren historiographischen und kulturtheoretischen Ansätzen wird der Leser jedoch in aller Regel nicht finden; vielleicht liegen sie auch gar nicht im Interesse dieser Bücher, sind doch selbst manche ereignisgeschichtlichen Grundfragen ungeklärt.

Der Titel von Rüdiger Lohlkers Einführung „Islam. Eine Ideengeschichte“ (der ohne bestimmten Artikel auskommt) lässt vermuten, dass genau solche Perspektiven hier vielleicht Eingang gefunden haben. Lohlker, Professor für Orientalistik in Wien, deutet die neuen Forschungsparadigmata an, wenn er von „Geschichten von Relationen und Brüchen“ schreibt und von dem „Versuch, die scheinbare Ganzheit fragmentarisch zu denken“ (S. 9). Dies führt er in der kurzen Einleitung aus, auf die einzugehen sich lohnt.

Was versteht Lohlker unter Ideengeschichte? Er spricht von „symbolischen Strukturen“, die in den Augen des Historikers in einem Spannungsverhältnis stünden: zwischen einem „übergeordneten Ganzen“ und „Fragmenten“. Beide Pole dieses Spannungsfelds seien letztlich imaginär: „Wir denken diese Ideengeschichte als Ensemble von Fragmenten, die mit anderen Fragmenten in Beziehung stehen, ohne dass wir von einem übergeordneten Ganzen ausgehen, da wir sonst einer Heilsgeschichte nahekommen [...]“ (S. 9). Anstatt dessen verweist Lohlker auf eine zeit- und kulturspezifische „alternative Kohärenz“. Diese versucht er mit dem Bild von einem dynamischen „Kraftfeld der Geschichte der muslimischen Gemeinschaften“ zu greifen: „Transformationen können wir dann als Rekonfigurationen des Kraftfeldes verstehen, die die Integrität des Feldes nicht gefährden. Es können sich durch Transformationen alternative Zentren innerhalb dieses Kraftfeldes bilden, die die Linien des Feldes umformen – aber es bleibt doch ein Kraftfeld“ (S. 10).

Bei aller Attraktivität wirft dieses Bild natürlich Fragen auf – etwa nach den Grenzen des Kraftfelds. Für Lohlker sind die Grenzen „beweglich und biegsam“, und die Auseinandersetzungen um „das Islamische“ selbst sollen im Mittelpunkt stehen. Was auch heißt: Von außen herangetragene Definitionen sind unzulässig. Wie tragfähig dieser Ansatz ist, kann wohl erst die Umsetzung zeigen. Leider erweist sich, dass die folgende Darstellung den Anspruch der Einleitung großteils nicht einzulösen vermag.

Die 19 Themenkapitel des Buches wurden bewusst unverknüpft gelassen. Dennoch lässt sich eine gewisse Ordnung entdecken: Beginnend mit drei fundamentalen Abschnitten zu „Muhammad“, „Koran“ und „Gebet“, arbeitet Lohlker sich über „Politik“ und „Recht“ zum Bereich der Theologie und Philosophie vor. Im Anschluss wirft er Blicke auf die religiöse Vielfalt des Islam (zum Beispiel „Die Zwölferschia“, „Minderheiten“, „Sufismus“), um schließlich auf Entwicklungen und Aspekte der Moderne einzugehen (zum Beispiel „Islam und Moderne“, „Neue Medien“). Die einzelnen Kapitel zeichnen sich durch große zeitliche und geographische Spannbreiten aus; Verweise bis in die Gegenwart finden sich über das gesamte Buch hinweg.

Im Eingangskapitel entwirft Lohlker ein knappes Panorama der sozialen und religiösen Landschaft Arabiens im 7. Jahrhundert. Im Gegensatz zu vielen herkömmlichen Darstellungen – vor allem zu islamkritischen – interessiert er sich dabei weniger für die Fakten von Muhammads Leben, dafür um so mehr für die Fiktionen, die sich daraus entwickelt haben. Formen der Verehrung des Propheten und legendäre Erzählungen werden skizziert, sie münden schließlich in die Frage der bildlichen Darstellung. Einer grundsätzlichen Tabuisierung zum Trotz, schreibt Lohlker, habe es immer wieder Muhammad-Darstellungen gegeben. Der „Karikaturenstreit“ habe das Abbildungsverbot dann „zu einem wichtigen Moment identitärer Politik gemacht“ (S. 29).

Funktioniert der Ansatz des Buches bis hierher recht gut, so fallen bald Schwächen in der Umsetzung auf. Häufig gerät die Darstellung zu überaus knappen Abhandlungen, die nur Generalitäten wiedergeben. Das Kapitel „Gebet“ beispielsweise umfasst kaum mehr als zwei Seiten, die sich zudem nur mit Äußerlichkeiten beschäftigen. Zur Frage nach dem Warum des Gebets erfährt der Leser ebenso wenig wie zu seinen Inhalten oder zur politischen Rolle der Freitagspredigt. Ähnlich enttäuschend sind die kurzen Kapitel „Paradies“ und „Halal“, und auch die an sich hochinteressanten Themen „Heilige und Volksreligion“ und „Neue Medien“ hätten eingehendere Betrachtungen verdient. Ein besonderer ideengeschichtlicher Fokus ist hier nicht zu entdecken.

Dem stehen deutlich besser ausgearbeitete Kapitel gegenüber: „Sunnitische theologische Diskussionen“ und „Recht“ etwa werden auf jeweils circa 20 Seiten in ihren Entstehungskontexten situiert, wobei Lohlker zentrale Problemstellungen erörtert – die er dann wiederum bis in die Gegenwart verfolgt. So erschließt er dem Leser im einen Fall über den (Um-)Weg der Häresien die zentralen Konfliktpunkte der sunnitischen Theologie. Im anderen Fall thematisiert er auch das so genannte „Recht der Minderheiten“, das für die Muslime in westlichen Ländern eine immer größere Rolle spielt, und geht auf die Veränderungen ein, die sich durch den Einsatz neuer Medien ergeben (Online-Fatwas).

Stark ist das Buch immer dann, wenn es dem Anspruch der Einleitung, Auseinandersetzungen auszuloten, gerecht wird. Im Abschnitt über die Schia geschieht dies häufiger; auch hier ist allerdings zu fragen, warum das Kapitel einen mehrseitigen Überblick über schiitische politische Strömungen der Gegenwart beinhaltet, das Selbstverständnis der Islamischen Republik Iran dagegen in wenigen Sätzen abgehandelt wird. Ebenso kursorisch widmet Lohlker sich kleineren religiösen Gruppen wie den Kharidschiten, Ismailiten oder Drusen. Über ihre Selbstverortung in der „umma“ oder darüber, was ihr Beitrag zu einer „alternativen Kohärenz“ (gewesen) sein könnte, kann der Leser über weite Strecken nur spekulieren.

Möglicherweise wäre es von Vorteil gewesen, hätte Lohlker häufiger Quellen sprechen lassen. Stattdessen scheint er – was angesichts der Themenvielfalt nicht verwundert – stark von der Fachliteratur abhängig zu sein, aus der er bisweilen ausgiebig zitiert. Die Folge sind qualitative Schwankungen, etwa im Kapitel „Reformbewegungen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert“: Während manche Passagen die Bemühungen um Revitalisierungen des Islam in dieser Zeit gut erfassen (zum Beispiel Westafrika, Marokko), verbleiben andere (zum Beispiel Netzwerke, Amerika) bei oberflächlichen Nacherzählungen. Selbst diese sind mitunter fehlerhaft – beispielsweise unter „Islam und Moderne“: Die britische Besatzung Ägyptens begann 1882, nicht 1883; die Form des Protektorats besaß sie erst ab 1914. Muhammad Abduh war nicht Rektor der Azhar-Universität, sondern Großmufti des Landes (S. 199f.).

Dennoch zählen „Islam und Moderne“, „Islam in Europa“ und „Dschihadismus“ zu den überzeugenderen Kapiteln. Sie sind durchzogen von Fragen nach kultureller Selbstverortung, nach der Rolle des Islam im öffentlichen Raum und seiner politischen Indienstnahme. Generell beobachtet Lohlker eine „zunehmende Standardisierung von zuvor klar kontextualisierten Glaubensinhalten“ bei gleichzeitigem Trend zum „Glauben als individueller Selbstverwirklichung“ (S. 227), der wiederum neue Formen der Gemeinschaftsbildung hervorbringe. Den Dschihadismus begreift er als genuin moderne Bewegung, der es gelungen sei, individuelle Krisenerfahrungen sowie ein kollektives Gefühl der Erniedrigung zu einer Zurückweisung der „westlichen Arroganz“ zu verbinden. Zugleich erschaffe sich der Dschihadist eine neue „eigene Wahrheit“: „[...] eine monolithische 'umma', eine Gemeinschaft, die es in dieser Weise historisch nie gegeben hat, ihm aber einen je individuellen Horizont an Möglichkeiten eröffnet, die von keinem Zweifel getrübt werden“ (S. 255).

In Passagen wie dieser offenbart sich die Fruchtbarkeit der ideengeschichtlichen Perspektive. Sie geben zugleich einen Hinweis darauf, wie man das Material hätte bündeln können: mittels problemzentrierter Analysen, zum Beispiel zu Fragen wie „Heiliges und Profanes“ oder „Tradition und Neuerung“. Von der Form her wäre eine Reihe von Essays oder Aufsätzen vielleicht die bessere Alternative gewesen, um genauer auf bestimmte Entwicklungslinien und historische Phasen eingehen zu können. In seiner jetzigen Form enthält „Islam. Eine Ideengeschichte“ eine Vielzahl anregender Beobachtungen und Verknüpfungen. Dass Lohlker zugleich versucht, von allem etwas zu bieten, erreicht er jedoch nur um den Preis einer Verkürzung dessen, worauf es ihm eigentlich ankommt.

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