H. Earl: The Nuremberg SS-Einsatzgruppen Trial, 1945-1958

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Titel
The Nuremberg SS-Einsatzgruppen Trial, 1945-1958. Atrocity, Law, and History


Autor(en)
Earl, Hilary
Erschienen
Anzahl Seiten
XV, 336 S.
Preis
$ 85.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Erik Schulte, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Technische Universität Dresden

Vom 29. September 1947 bis zum 10. April 1948 fand in Nürnberg der „größte Mordprozess der Geschichte“ statt (S. 49, S. 256): 22 ehemalige SS-Angehörige standen wegen der Tötung von über einer Million jüdischer Einwohner der Sowjetunion vor Gericht. Am Ende des Prozesses wurden 14 Todesurteile verhängt und vier davon 1951 vollstreckt. Mehr als 60 Jahre hat es gedauert, bis mit der Arbeit von Hilary Earl eine valide und in ihrer Differenziertheit wegweisende historische Studie über das Strafverfahren gegen Otto Ohlendorf und weitere SS-Führer der Einsatzgruppen vorgelegt wird.

Ermittlungs- und Gerichtsverfahren zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen galten lange Jahre vor allem als Steinbruch, in dem Quellen für die empirische Erforschung der NS-Zeit gewonnen werden konnten. Als Gegenstand sui generis, der Auskunft geben kann über die Entwicklungen, Probleme und Chancen der gesellschaftlichen und juristischen Auseinandersetzung mit Massenverbrechen, sind sie erst seit kurzem in den Fokus gerückt. Obwohl sie eine unmittelbare Auswirkung des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses waren – und trotz der seit den 1990er-Jahren intensiv geführten Debatten über Völkerstrafrecht und internationale Strafverfahren –, standen die Nürnberger Nachfolgeprozesse bislang weitgehend im Abseits.1 Dieses Versäumnis arbeiten jüngst durchgeführte Tagungen auf2 und nicht zuletzt die jetzt vorgelegte Studie über den Einsatzgruppenprozess.

Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes gehören zu den bekanntesten Mordeinheiten des Vernichtungskrieges gegen die jüdische Bevölkerung der Sowjetunion. Wenige Wochen nach Feldzugsbeginn am 22. Juni 1941 begannen sie, die Einwohner der jüdischen Gemeinden im Besatzungsgebiet systematisch zu ermorden. Die Einsatzgruppen schickten ausführliche Berichte über die Mordaktionen an die Berliner Zentrale. Diese Aufstellungen bildeten das Hauptbeweismaterial der US-Staatsanwaltschaft. Unter den Nürnberger Angeklagten befanden sich Kommandeure und Kommandoführer aller vier Einsatzgruppen.

Earls Analyse ist multiperspektivisch angelegt. Kenntnisreich greift sie mehrere Stränge der Auseinandersetzung mit der Geschichte des „Dritten Reiches“ und den Folgen der nationalsozialistischen Verbrechen auf: erstens den als „Täterforschung“ bekannt gewordenen Ansatz zur biographischen und kollektivbiographischen Annäherung an individuelle Lebensläufe, zweitens die Reflexion über die erinnerungskulturellen Mechanismen, die das Bild der NS-Herrschaft seit Ende des Zweiten Weltkriegs konturierten, und drittens die juristische sowie historische Evaluation der strafrechtlichen Aufarbeitung von NS-Gewalttaten. Die Arbeit entstand als Dissertation, die, wie auch die Studie von Valerie Hébert zum so genannten OKW-Prozess3, von Michael R. Marrus in Toronto betreut wurde.

Nach der akribisch recherchierten Vorgeschichte des Prozesses rückt Earl die Protagonisten ins Zentrum. Den Angeklagten, der Verteidigung und den Richtern sind jeweils eigene Kapitel gewidmet. Im Mittelpunkt stehen Otto Ohlendorf, der Einsatzgruppenführer, nach dem der Prozess benannt wurde und laut Earl „the quintessential ideological soldier“ (S. 145), sowie – ungewohnt und innovativ – der Vorsitzende Richter, Michael Angelo Musmanno aus Pennsylvania. Während Ohlendorf, „charismatic and voluble“ (S. 219), die bestimmende Figur auf der Anklagebank gewesen sei, habe Musmanno das gesamte Gerichtsverfahren beherrscht. „He was a colorful and controversial figure, overly fond of the dramatic and a natural ‚showman’.“ (S. 218)

Außer dem Chefankläger Benjamin B. Ferencz bleiben die weiteren Mitglieder der Anklagebehörde und die beiden beisitzenden Richter eher blass. Dies ist deren geringerer Bedeutung sowie der Quellenlage geschuldet. Umso mehr konzentriert sich Earl auf die Angeklagten, deren Verhalten im Gerichtssaal und deren Motiven sie detailliert nachgeht. Sie folgt hierbei vor allem den von Ulrich Herbert und Michael Wildt eingeschlagenen Pfaden der Täterforschung. Das vor Gericht gestellte höhere Personal der Einsatzgruppen bildete in Earls Interpretation eine relativ homogene Gruppe von überwiegend ideologisch überzeugten Männern.

Die Dynamik des Gerichtsverfahrens entwickelt Earl exemplarisch an der Frage des „Führerbefehls“, der in den Strategien von Verteidigung und Anklage eine herausgehobene Rolle zukam. Ohlendorfs wiederholt geäußerte Behauptung, dass bereits vor Feldzugsbeginn der Befehl zur umfassenden Ermordung der jüdischen Bevölkerung in der Sowjetunion gegeben worden sei, erwies sich während des Prozesses als dominierendes Narrativ. Der „Führerbefehl“ bildete das Herzstück der Verteidigungsstrategie, die sich auf einen „Befehlsnotstand“ berief. Die US-Staatsanwaltschaft suchte dagegen zu beweisen, dass die Ermordung der sowjetischen Juden Teil eines vorab geplanten Völkermordprogramms gewesen sei. Die besondere Schuld der Angeklagten werde durch die Existenz des Befehls bestätigt und nicht abgemildert (S. 213). In ihrem Urteil folgten die drei Richter des Tribunals weitgehend der Argumentation der Anklagebehörde.

Über Jahrzehnte blieben die historischen Erkenntnisse des Verfahrens unbestritten. Dabei hatte sich aus Gründen, die in dem Gerichtsverfahren selbst lagen, eine in Bezug auf den „Führerbefehl“ höchst unvollständige Lesart der Vergangenheit herausgebildet. Erst in den 1980er-Jahren wurden die Aussagen Ohlendorfs und die Annahmen des Einsatzgruppenprozesses angezweifelt (S. 182): Einen „Führerbefehl“ bzw. überhaupt eine Anordnung zur unterschiedslosen Ermordung der jüdischen Einwohner der Sowjetunion habe es vor dem Feldzugsbeginn nicht gegeben. Der Prozess „complicated our historical understanding of one of the most important elements of the Final Solution – its origins“ (S. 215). Aufgrund der divergierenden Herangehensweisen und Interessen von Juristen bzw. Prozessbeteiligten und Historikern können, so Earl, Aussagen aus einem Gerichtsverfahren nur unter Einbeziehung des Entstehungszusammenhangs evaluiert werden.

In ihrer eigenen Bewertung der Rolle Ohlendorfs grenzt sich Earl vorsichtig von der herrschenden Lehrmeinung ab, die von bewussten Falschaussagen des Einsatzgruppenchefs ausgeht. Entweder habe sich Ohlendorf unabsichtlich im Datum geirrt (S. 190f.), oder seine Ausführungen würden tatsächlich der historischen Realität entsprechen (S. 195). Earls Thesen basieren auf ihrer Analyse der Zeugenaussagen im Kontext der Prozesse und Voruntersuchungen. Eine umfassendere Interpretation unter Einbeziehung der Abläufe der Mordaktionen der Einsatzgruppen strebt sie nicht an. Earl bietet daher weniger eine neue Auslegung, als dass sie einzelne Aspekte des gegenwärtigen Forschungskonsenses aus der Perspektive des Gerichtsverfahrens hinterfragt.

So regt die Autorin nicht nur einen neuen Blick auf eine der wichtigen historiographischen Debatten um die Genesis des Holocaust an, sondern ihr gelingt auch eine überzeugende Einordnung des Verfahrens in die Entwicklung des Völkerstrafrechts. Obwohl das neue juristische Konzept des Genozids bereits im Hauptkriegsverbrecherprozess eingeführt worden war, entfaltete es in den Nachfolgeprozessen und besonders im Einsatzgruppenprozess zum ersten Mal eine gewisse Wirksamkeit. Raphael Lemkin, der den Begriff „Genocide“ geprägt und definiert hatte, soll während der Formulierung der Anklage gegen Ohlendorf sogar in Nürnberg gewesen sein (S. 212). Auch im Urteil findet sich der Begriff, doch wird er dort kaum näher bestimmt. Anklagebehörde und Tribunal verpassten laut Earl die Chance, maßgeblich zur Entwicklung des Völkerrechts beizutragen (S. 95, S. 253f.). Dennoch sei das Verfahren ein wichtiger Präzedenzfall für die juristische Ahndung von Massenverbrechen. Die Autorin schließt mit einem Kapitel zur Nachgeschichte des Prozesses, insbesondere zu den Kampagnen zur Entlassung der „Kriegsverbrecher“, zur sukzessiven Strafreduktion und zur letztlich doch durchgeführten Hinrichtung von vier der Verurteilten.

Hilary Earls Analyse ist mehr als die längst überfällige Darstellung zur Geschichte des Nürnberger Einsatzgruppenprozesses. Intensiv bezieht sie die Perspektiven sowohl von Historikern als auch von Juristen ein und bestimmt den Stellenwert des Prozesses in der Entwicklung von Völkerstrafrecht und Geschichtsschreibung. Sie bietet Interpretationsgrundlagen für die historische, juristische und gesellschaftliche Bewertung von Strafverfahren, die die Überwindung von Diktaturen und verbrecherischen Regimen zum Ziel haben. Als Beitrag zum Diskurs um Transitional Justice erhält Earls detaillierte, doch zugleich gut lesbare Studie eine besondere, über die Disziplingrenzen hinausgehende Aktualität.

Anmerkungen:
1 Eine Ausnahme bildet Paul Weindling, Nazi Medicine and the Nuremberg Trials. From Medical War Crimes to Informed Consent, Hampshire 2004; für eine frühe Übersicht siehe Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952, Frankfurt am Main 1999.
2 Tagungsbericht Verhandelte Vergangenheit. Deutsche und amerikanische Perspektiven in den Nuremberg Military Tribunals 1946–1949. 23.04.2009 – 25.04.2009, Frankfurt an der Oder, Bericht von Irina Schulmeister, in: H-Soz-u-Kult, 30.06.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2668> (04.05.2010); From Prosecution to Historiography: American, Jewish, and German Perspectives on the U.S. War Crimes Trials in Nuremberg, 1946-49 (July 21 – August 1, 2008), Workshop im United States Holocaust Memorial Museum, <http://www.ushmm.org/research/center/workshops/workshop/> (04.05.2010).
3 Valerie Hébert, Hitler’s Generals on Trial. The Last War Crimes Tribunal at Nuremberg, Lawrence 2010.

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