H. Büschel u.a. (Hrsg.): Entwicklungswelten

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Titel
Entwicklungswelten. Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit


Herausgeber
Büschel, Hubertus; Speich, Daniel
Reihe
Globalgeschichte 6
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag
Anzahl Seiten
325 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Corinna Unger, Deutsches Historisches Institut Washington, DC

Die historische Forschung über „Entwicklung“ und „Entwicklungshilfe“ hat in den letzten Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung erlebt. Das ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass sich an dem Gegenstand eine Vielzahl von Phänomenen und Prozessen untersuchen lassen, die mit den Begriffen „Globalisierung“, „Modernisierung“, „Netzwerke“ und „transnationale Geschichte“ verknüpft sind. Genau diesen Verbindungen geht der vorliegende Sammelband nach, der aus einer Konferenz in Zürich im Oktober 2008 – organisiert von den beiden Herausgebern, Hubertus Büschel und Daniel Speich – entstanden ist.

Eingerahmt von der Einleitung der Herausgeber und einem Nachwort von Andreas Eckert stehen die beiden Hauptteile des Bandes: „Globale Diskurse, Deutungshoheiten und Gewissheiten“ und „Lokale Erfahrungen globaler Zusammenhänge“. Die Beiträge des ersten Teils befassen sich mit übergeordneten Kategorien, die für die Entwicklungspolitik relevant waren und sind: Wissenstransfer und Experten (Philipp H. Lepenies), Völkerrecht (Anthony Angie), Zeitkonzepte (Niels P. Petersson) und Armut (Akhil Gupta). Gemeinsam ist den Aufsätzen die kritische Reflexion des inhärenten Universalismus, der die historischen und, in Guptas Beitrag, auch gegenwärtige Diskurse über Entwicklung kennzeichnet. Alle vier Artikel sind so lesenswert, dass sie hier nicht referiert werden sollen, sondern rundum zur eigenen Lektüre empfohlen seien.

Den zweiten Teil des Bandes bilden lokale Fallstudien zu Entwicklungskonzepten und -projekten in unterschiedlichen Weltregionen und ihre sozialen und politischen Bedingungen. Wie sehr bereits die Wahrnehmung von und das Denken über Entwicklung von solchen Bedingungen geprägt war, zeigt Daniel Speich in seinem Beitrag über die „Lokalität“ von ökonomischem Wissen. Gestützt auf Erkenntnisse der Wissenssoziologie und Wissensgeschichte beschreibt Speich, wie stark die Idee von „objektivem“, „neutralem“ Wissen das frühe ökonomische Entwicklungsdenken bestimmte, obwohl es keineswegs neutral, sondern stark von den Wissenschaftlern, ihren jeweiligen Erfahrungen und Arbeitszusammenhängen geprägt war. Die lange Zeit vorherrschende Blindheit für den Effekt, den der eigene Standpunkt in der Welt auf die Wahrnehmung von Armut und „Rückständigkeit“ hatte, erklärt zum Teil auch die schweren Enttäuschungen der Experten über das „Scheitern“ von Entwicklungsprojekten.

Dies wird in dem Beitrag von Lukas Zürcher über schweizerische „Entwicklungsfantasien“ deutlich. Als sich Schweizer Politiker Anfang der 1960er-Jahre auf die Suche nach einem „unterentwickelten“ Land machten, in dem sie Entwicklungshilfe leisten könnten, legten sie Kriterien zugrunde, die ihnen als charakteristisch für die Schweiz galten: „Landwirtschaft, Neutralität und Sparsamkeit“ (S. 287). Die Wahl Rwandas, einer landwirtschaftlich dominierten, politisch neutralen Republik mit hohem Bevölkerungswachstum und daraus vermeintlich erwachsendem Interventionsbedarf, spiegelte diese nationale Selbstinszenierung. Vor lauter Eifer, eine afrikanische „‚Bergbauerndemokratie’“ (S. 293) zu entdecken, und von Rwanda als nicht-koloniale, hochqualifizierte Experten umworben, ignorierten die Schweizer jedoch jene Elemente, die sich nicht mit der Verwandtschaftsthese vertrugen (vor allem das Gewaltpotenzial zwischen Hutu und Tutsi). Wie kaum anders zu erwarten, hatte die schweizerische Hilfe „unintended consequences“: Die Genossenschaften, die die Entwicklungshelfer in Rwanda zu etablieren halfen, enttäuschten nicht nur die in sie gesetzte emanzipatorische Erwartung, sondern wurden noch dazu in den Machtkämpfen zwischen den verschiedenen rwandischen Bevölkerungsgruppen instrumentalisiert. Diese „Adaption“ war zweifellos unbeabsichtigt, zeugt aber von dem erheblichen Risiko, das mit dem Export und der damit verbundenen Translozierung von national oder regional verankerten Entwicklungsmethoden verbunden sein konnte.

Nicht alle Beiträge analysieren die entwicklungspolitische Ebene gleich intensiv. Young-Sun Hongs Beitrag über südkoreanische Krankenschwestern etwa, die in den 1950er- und 1960er-Jahren in die Bundesrepublik angeworben wurden, bietet interessante Einblicke in den Zusammenhang von Arbeitsmigration und transnationaler Geschlechtergeschichte, enthält jedoch nur wenige Hinweise darauf, welche Bedeutung Entwicklungsdenken in diesem Zusammenhang hatte. Erst am Schluss stellt die Autorin fest, dass die „(neo-)koloniale Vorstellung vieler westdeutscher Behörden, man könne durch die ‚Erziehung koreanischer Arbeitskräfte zu Ordnung, Fleiß und Disziplin’ einen Beitrag zur Entwicklungshilfe des ostasiatischen Landes leisten, [..] den Vorstellungen der südkoreanischen Entwicklungsdiktatur“ (S. 237) entsprochen habe, führt diese These aber leider nicht aus.

Dabei ist gerade die Frage nach den Kontinuitäten und Parallelen verschiedener Entwicklungsregimes besonders interessant. Dies wird besonders anhand der Beiträge von Martin Rempe und Hubertus Büschel sichtbar, die sich mit der Bedeutung kolonialer Entwicklungspraktiken in der spät- und postkolonialen Zeit beschäftigen. In seinem Aufsatz über das Konzept der „Hilfe zur Selbsthilfe“ argumentiert Hubertus Büschel, dass dieser üblicherweise positiv konnotierte Ansatz nicht in erster Linie als emanzipatorisches Instrument zu verstehen sei, sondern dass unterhalb der rhetorischen Ebene die kolonialen, von Zwang und Gewalt geprägten Wurzeln fortgewirkt hätten. Dazu untersucht er Community-Development-Projekte im spät- und postkolonialen Tanganjika/Tansania, in deren Rahmen die Dorfbevölkerung den Ausbau der Infrastruktur vorantreiben sollte; die tansanische Staatspartei unterstützte diesen Ansatz. Britische Entwicklungshelfer, die bereits während der Kolonialzeit an ähnlichen Unternehmungen mitgewirkt hatten, waren als Berater beteiligt. Büschel folgert daraus, dass koloniale „Herrschaftstechniken“ (S. 200) in adaptierter Form über das formale Ende des Kolonialismus hinweg Anwendung fanden und von den nationalen Eliten im eigenen Interesse umfunktioniert wurden.
Anders gewichtet Martin Rempe das Verhältnis von kolonialen Kontinuitäten und Brüchen in seinem Beitrag über die Modernisierung der Erdnusswirtschaft Senegals unter französischer Ägide. Er stellt fest, dass die senegalesische Entwicklungsstrategie zwar „an gängige Praxen aus der kolonialen Ära“ erinnere, dass aber der Verweis auf das koloniale Erbe allein nicht genüge, um das Scheitern des Erdnussprojekts zu erklären. Vielmehr habe die senegalesisch-französische Entwicklungszusammenarbeit zu „Modifikationen“ im „koloniale[n] Projekt der mise en valeur“ geführt (S. 268). So mussten französische Arbeiter eine Behandlung durch senegalesische Vorgesetzte akzeptieren, die sich kaum mit den Privilegien der Kolonialzeit vertrug. Zudem konnte sich die französische Entwicklungsgesellschaft zwar einen festen Platz innerhalb der Bürokratie des Senegal sichern, doch es gelang ihr nicht, sich über die lokalen Strukturen hinwegzusetzen oder gar eine hegemoniale Position gegenüber den senegalesischen Behörden zu erlangen.

Es wäre sicher verfehlt, die eine (Büschels) oder die andere (Rempes) Perspektive für mehr oder weniger zutreffend halten zu wollen; es kann auch nicht darum gehen, generalisierende Aussagen über Kontinuitäten und Wandlungen kolonialer und postkolonialer Entwicklungskonzepte und -praktiken auf ganzen Kontinenten oder gar für die „Dritte Welt“ insgesamt zu treffen. Vielmehr machen die unterschiedlichen Interpretationen deutlich, wie anregend ein Vergleich von Mikrostudien sein kann, die sowohl die lokale als auch die regionale und globale Perspektive berücksichtigen.

Grundsätzlich hätte der Band davon profitiert, wenn die Autor/innen stärker auf die globalgeschichtliche Relevanz der von ihnen untersuchten Themen eingegangen wären. Gemeinsam bilden die Beiträge eine solche Perspektive ab – sie behandeln Indien, China, Südkorea, die UdSSR, Senegal, Tansania, Rwanda, die Schweiz, die Bundesrepublik, Großbritannien, Frankreich, die USA sowie diverse supranationale Organisationen –, aber das Konzept der „Globalgeschichte“ wird allein in der Einleitung ausführlich diskutiert und danach, von einigen Ausnahmen abgesehen, nur mehr implizit behandelt. Unabhängig davon gebührt den Herausgebern sowie der internationalen Gruppe von Autor/innen aber große Anerkennung dafür, dass es ihnen gelungen ist, innerhalb nur eines Jahres einen Band zu produzieren, der nicht nur auf anschauliche Weise den Stand der gegenwärtigen Forschung abbildet, sondern auch eine Zahl von Texten enthält, die zur methodischen Ausdifferenzierung der historischen Forschung zur Globalgeschichte beitragen können.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/