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Titel
Kriegerwitwen. Lebensbewältigung zwischen Arbeit und Familie in Westdeutschland nach 1945


Autor(en)
Schnädelbach, Anna
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag
Anzahl Seiten
366 S.
Preis
€ 36,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva-Maria Sillies, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Die Frauen- und Geschlechtergeschichte hat sich in den letzten Jahren durch zahlreiche Studien mehr und mehr auch den Nachkriegsjahrzehnten geöffnet.1 Eine bisher kaum untersuchte Gruppe nimmt nun die Dissertation von Anna Schnädelbach in den Blick: die Kriegerwitwen. Schnädelbach bezeichnet so Frauen, die ihren Mann im Ersten oder Zweiten Weltkrieg verloren hatten, und fragt nach ihrer Stellung in der westdeutschen Gesellschaft nach 1945, die sich geschlechterpolitisch vor allem durch die Herstellung „normaler“ Geschlechterverhältnisse (in Anlehnung an Hanna Schisslers Konzept eines „project of normalization“2) ausgezeichnet habe. Mit den rund 1 Million Kriegerwitwen (1950, S. 72f.) stellt Schnädelbach eine Gruppe in den Mittelpunkt, die dieses Normalisierungsprojekt gefährden konnte, denn die Witwen waren mehr oder weniger öffentlicher Ausdruck der Kriegsfolgen, der Bedürftigkeit und andersartiger Familienkonstellationen. Die Autorin fragt, wie die Kriegerwitwen ihren Status erlebten, welche Strategien sie zur Bewältigung einsetzten und ob sie sich konform zu den an sie gerichteten Erwartungen verhalten haben. Sie bedient sich dabei einer Vielzahl analytischer Konzepte der kulturwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft, unter anderem Bourdieus Konzept des sozialen Raumes, Ansätzen der Geschlechterforschung, kommunikationswissenschaftlichen Öffentlichkeitskonzepten, der historischen Diskursanalyse und der Erfahrungsgeschichte. Das führt nicht nur dazu, dass die Einleitung relativ lang ausfällt, sondern auch, dass Schnädelbach zur Einordnung ihrer analytischen Konzepte und Vorgehensweisen bereits hier viele ihrer Ergebnisse nennt und diese dann teilweise später mit ihren Quellenanalysen nur noch illustrieren kann.

Die Arbeit gliedert sich entlang verschiedener Felder in der Debatte um die Kriegerwitwen. Als erstes skizziert Schnädelbach die rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen und verweist auf zwei wichtige sozialpolitische Systeme: die Fürsorge und die Kriegsopferversorgung. Während letztere ab 1950 als status- und einkommensunabhängige Grundrente gezahlt wurde, war erstere lediglich als Bedarfsversorgung konzipiert und unterlag dem Individualitäts- und Subsidiaritätsprinzip. Schon hier verweist Schnädelbach darauf, dass eine Gleichsetzung der Fürsorge-Mitarbeiter mit einem patriarchalischen Staat – ein Blick, den Schnädelbach ohne genauere Belege der bisherigen Forschung unterstellt (S. 100, 318) – den tatsächlich ambivalenten Beziehungen zwischen den Kriegerwitwen und den für sie zuständigen Behörden nicht gerecht wird.

Für das zweite Feld, den „Schauplatz Behörde“, nutzt Schnädelbach Akten des Sozialamtes Marburg aus den 1950er-Jahren. Am Beispiel von 34 Witwen kann sie die Interaktion mit der Behörde darstellen. Sie zeigt, dass die Witwen zwar die Versorgung ihrer Familien in vielen Fällen nicht leisten konnten und auf Unterstützung angewiesen waren, zugleich aber versuchten, eine allzu intime Untersuchung durch das Amt abzuwehren. Überzeugend kann Schnädelbach darstellen, dass die Frauen nicht nur die Position der hinterbliebenen Ehefrau ausfüllten, sondern zugleich auch Mutter, Tochter oder Schwiegertochter, oftmals Haushaltsvorstand und erwerbstätige Hauptverdienerin der Familie waren und damit „verschiedene Subjektpositionen“ (S. 163) einnahmen. Die Kriegerwitwen waren nicht nur Versorgte, die öffentliche Unterstützung benötigten, sie waren zugleich auch Versorgende. Ebenso kann Schnädelbach nachweisen, dass im Kontakt mit den Behörden häufig nicht die geschlechtliche Markierung als „Frau“ ausschlaggebend für die Art der Behandlung war, sondern dass soziale Merkmale wie Bildung und eventuell vorhandenes soziales oder ökonomisches Kapital ebenso entscheidend waren.

In einem weiteren Feld analysiert Schnädelbach die so genannten „Onkelehen“, von denen es Mitte der 1950er-Jahre 100.000 bis 150.000 gegeben haben soll. Gemeint waren außereheliche Beziehungen zwischen einer Kriegerwitwe und einem neuen Partner. Die Witwe hätte durch eine Heirat ihren Versorgungsanspruch verloren. Die gesellschaftlichen Debatten um die „Onkelehen“ waren moralisch aufgeladen und verwiesen auf die Bedeutung der „Normalfamilie“ in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft. Diese „Normalfamilie“ auf der Grundlage der Eheschließung war der normative Maßstab, an dem das Verhalten der Witwen und ihrer Partner gemessen wurde, so dass diese in zahlreichen Fällen kritisiert wurden. Dabei kam es nicht zu einer generellen Solidarisierung unter Frauen, denn einige verheiratete Frauen drückten ihre Sorge aus, die Kriegerwitwen könnten ihnen die Ehemänner „ausspannen“ und damit bestehende Ehen gefährden. Schnädelbachs Bezeichnung der Kriegerwitwen als „Vamp“ (S. 272) erscheint aber nicht als angemessene Charakterisierung der zeitgenössischen Vorstellungen. Überhaupt wird Sexualität von Schnädelbach zwar häufiger erwähnt, aber wenig auf den Kontext der 1950er-Jahre bezogen. Neuere Studien wie die von Dagmar Herzog über Sexualität in den 1950er-Jahren3 finden keine Berücksichtigung.

Anhand der Briefe von Kriegerwitwen an den Familienminister Wuermeling kann Schnädelbach zudem zeigen, dass diese sich zwar nicht als Gruppe mit gemeinsamen Zielen konstituierten, aber durch die Veröffentlichung ihrer privaten Erfahrungen die Grenzen ihres privaten Lebens selbst verschoben. Auch wenn sie zu Beginn des Kapitels konstatiert, es habe eine Ambivalenz zwischen den Moralvorstellungen auf der einen Seite und der „pragmatischen Sicht der Dinge“ (S. 170) auf der anderen Seite gegeben, kommt sie insgesamt zu dem Ergebnis, dass es für die Kriegerwitwen keine Möglichkeit zur freien Identitätsbildung gegeben habe: Sie wurden entweder als Witwen oder als Ehefrauen gesehen, die sich zur finanziellen Absicherung von einer Identität zur anderen bewegen konnten, aber nicht als Partnerinnen leben oder die eigene ökonomische Unabhängigkeit anstreben sollten.

Der ökonomische Faktor wird im letzten analysierten Feld thematisiert: Wie ging die bundesrepublikanische Gesellschaft mit der außerhäuslichen Erwerbsarbeit der Kriegerwitwen um? Schnädelbach stellt dieses Thema in den Kontext der allgemeinen Debatte um weibliche Erwerbsarbeit, die grundsätzlich umstritten war. Für viele Kriegerwitwen entstand aber das Dilemma, dass sie häufig aufgrund der unzureichenden materiellen Versorgung einer Erwerbsarbeit nachgehen mussten, obwohl dadurch Kinderversorgung und Haushaltsführung erschwert wurden. Dennoch wurde die Erwerbsarbeit der Kriegerwitwen gesellschaftlich nicht als eigenständige, selbstbestimmte Form der sozialen Sicherung angesehen, sondern lediglich als eine geduldete Notwendigkeit, die dem Verlust des eigentlichen Ernährers der Familie geschuldet war. Bei der Vermittlung von Arbeitsstellen waren Kriegerwitwen zweifach benachteiligt: Zum einen waren die Behörden eher bestrebt, (kriegsgeschädigte) Männer in Erwerbsarbeit zu vermitteln, zum anderen wurden erwerbstätige Kriegerwitwen überwiegend schlecht bezahlt.

Immer wieder greift Schnädelbach ein Konzept der Genderforschung – das „doing gender“ 4 – auf und wendet es auf die Kriegerwitwen an: „doing Witwe“ bedeutet, dass in der öffentlichen Debatte, aber auch von den Betroffenen selbst, witwenspezifische Eigenschaften hergestellt und erwartetes Verhalten formuliert und ausgeführt wurde. Auch wenn der Begriff in seiner „Denglisch“-Ausformung unglücklich ist, kann Schnädelbach überzeugend zeigen, dass die Kriegerwitwen keine passiven Objekte waren, sondern Strategien entwickelten, um ihre persönliche wie familiäre Lage zu beeinflussen. Letztlich fielen die Kriegerwitwen mit ihren Lebensformen aus dem gesellschaftlich geforderten Rahmen der Normalisierung der Familienverhältnisse raus, so dass ein jahrelang anhaltender öffentlicher Diskurs über die Kriegerwitwen entstand. Anna Schnädelbach hat mit der Arbeit über diese gesellschaftliche Gruppe, die keine Randgruppe, sondern eine Lebensrealität vieler Frauen, ihrer Kinder und weiterer Angehöriger darstellte, nicht nur das Feld der Frauen- und Geschlechterforschung nach 1945 um einen wichtigen Aspekt bereichert. Sie hat auch gezeigt, dass über die Gesellschaftsgeschichte der frühen Bundesrepublik noch sehr viel Neues und Interessantes erforscht werden kann.

Anmerkungen:
1 Vgl. Sybille Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard. Eine Geschichte der Unehelichkeit in Deutschland 1900-1970, Göttingen 2004; Silke Kral, Brennpunkt Familie: 1945 bis 1965. Sexualität, Abtreibungen und Vergewaltigungen im Spannungsfeld zwischen Intimität und Öffentlichkeit. Marburg 2004; Merith Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft. Studien zur Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland 1945-1960, Göttingen 2001; Christine von Oertzen, Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948-1969, Göttingen 1999; Robert G. Moeller, Geschützte Mütter. Frauen und Familie in der westdeutschen Nachkriegspolitik, München 1997.
2 Hanna Schissler, Normalization as Project. Some Thoughts on Gender Relations in West Germany during the 1950s, in: Dies. (Hrsg.), The Miracle Years. A Cultural History of West Germany, 1949-1968, Princeton 2001, S. 359-375.
3 Vgl. Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, München 2005.
4 Vgl. dazu Candace West / Don H. Zimmerman, Doing Gender, in: Gender & Society 1 (1987), S. 125-151.

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