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Titel
Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland


Autor(en)
Bösl, Elsbeth
Reihe
Disability Studies. Körper - Macht - Differenz 4
Anzahl Seiten
406 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Walter Schmuhl, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Elsbeth Bösls Buch, eine überarbeitete und gekürzte Fassung ihrer Dissertation, steht im Kontext der Dis/ability History, die einen neuen Zugang zu Behinderung sucht.1 In Abgrenzung zum medizinischen Modell des Behindert-Seins als eines individuellen körperlichen Defizits, aber auch in Weiterentwicklung des soziologischen Modells des Behindert-Werdens als Ausdruck sozioökonomischer Strukturen und Prozesse fasst die Dis/ability History Behinderung als „soziokulturelle Konstruktion“ auf (S. 10), die es bei der Analyse sozialer Ungleichheit als ebenso grundlegende Kategorie wie Klasse, Geschlecht oder Ethnizität in ihrer historischen Tiefendimension zu erforschen gelte. Dass diese Forderung vollauf gerechtfertigt ist, ergibt sich schon allein aus der Tatsache, dass Menschen mit Behinderungen (nach den heute geltenden rechtlichen Definitionen) etwa fünf bis zehn Prozent der Wohnbevölkerung Deutschlands ausmachen (S. 29).

Dem Ansatz der Dis/ability History zufolge werden aus „verkörperten Andersheiten“ in einem „komplexen Benennungsprozess“ (S. 11f., S. 31) Begriffe von „Behinderung“ abgeleitet. Dieser Ansatz hat den Vorteil, dass er die diskursive Ebene der Begrifflichkeiten und Sprachregelungen, der Topoi und Narrative, der emotionalen Ressourcen und des moralischen Kapitals in den Blick nimmt – und damit die Schnittstelle zwischen sozioökonomischen Strukturen und Prozessen, Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik. „Behindertenpolitik“, verstanden als Aushandlungsprozess innerhalb eines komplexen Akteursnetzwerks, erscheint dann als „Konkretisierung“ des Diskurses. Eine theoretische Schwäche des Ansatzes besteht zweifellos darin, dass die Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft, Arbeitsmarkt, staatlicher Sozialpolitik, korporativistischer Lobbyarbeit, wissenschaftlicher Wissensproduktion und „herrschender Meinung“ kaum zu gewichten sind. Die Frage etwa, inwieweit die Grenzen einer „Behindertenpolitik“ vom Diskurs gesteckt werden und umgekehrt: inwieweit „Behindertenpolitik“ die Grenzen des Denkbaren und Sagbaren verschiebt und die Rahmenbedingungen der diskursiven Prozesse verändert, bleibt offen.

Der Hauptteil des Buches gliedert sich in vier große Kapitel. Das erste Kapitel (S. 31-127) behandelt die „diskursiven Grundlagen“ der Behindertenpolitik. Das zweite Kapitel (S. 129-241) wendet sich den „Thematisierungskonjunkturen“ (S. 129) der „Behindertenpolitik“ zu. Im dritten Kapitel (S. 243-287) wird noch einmal die (berufliche) Rehabilitation als „Kernstrategie im Umgang mit Behinderung“ (S. 13) herausgearbeitet. Das vierte Kapitel (S. 289-336) schließlich befasst sich einerseits mit der Prothetik, andererseits mit dem „Abbau von baulichen und technischen Alltagsbarrieren“ (S. 13). Weil sich die Themenblöcke kaum voneinander trennen lassen, gibt es einige Überschneidungen und Wiederholungen. Das macht – gemeinsam mit dem manchmal angestrengten kulturwissenschaftlichen Jargon – die Lektüre des Buches streckenweise etwas mühsam. Wer es dennoch bis zum Ende liest, wird indessen reich belohnt. Denn Elsbeth Bösl legt die bislang beste Studie zur Sozialgeschichte von Menschen mit Behinderungen in der frühen Bundesrepublik Deutschland vor. Sie stützt sich auf Akten und gedruckte Dokumente, nicht jedoch auf visuelle Quellen – diese hätten die Argumentation noch vertiefen können.

Der Untersuchungszeitraum reicht vom Beginn der Bundesrepublik bis etwa zur ersten Ölkrise. Wie überhaupt in der Geschichte der westdeutschen Sozialstaatlichkeit, markierte dieses Ereignis auch hier „den Höhe- und Endpunkt“ (S. 346) einer Entwicklung, die in den 1950er-Jahren eingesetzt und in den 1960er-Jahren enorm an Fahrt gewonnen hatte. Man kann diesen Zeitraum, wie die Autorin überzeugend darlegt, mit guten Gründen als eigentliche Formationsphase deutscher „Behindertenpolitik“ beschreiben.

Die Benennung und Beschreibung von Menschen mit Behinderungen erfuhr von den 1950er-Jahren bis in die 1970er-Jahre mancherlei Akzentverschiebung, doch blieb der Behinderungsbegriff defizitorientiert und diskriminierend. Viele Topoi und Narrative, mit denen behinderte Menschen in der frühen Bundesrepublik belegt wurden, reichen weiter in die Vergangenheit zurück. Eine Geschichte des Begriffs „Behinderung“ zeigt, dass die Ambivalenzen in der soziokulturellen Konstruktion von „Behinderung“ in der Bundesrepublik zuvor schon angelegt waren, gerade auch in den Jahren des „Dritten Reichs“.2 Sehr klar arbeitet die Verfasserin heraus, dass Menschen mit Behinderungen keine homogene soziale Gruppe darstellen und dass deshalb alle Konstruktionen von Behinderung immer auch exkludierenden Charakter haben, da sie von einer „Idealklientel“ (S. 23) her gedacht sind: dem männlichen, erwachsenen „Kriegsbeschädigten“ mit einer Arm- oder Beinprothese, dem durch Verkehrs-, Sport- oder Arbeitsunfall querschnittgelähmten Rollstuhlfahrer, dem „Contergankind“. Das bedeutet, dass andere Gruppen von Menschen mit Behinderungen – Frauen (S. 214-226), „Sieche“, geistig, seelisch oder schwer mehrfach behinderte Menschen (S. 200-207) – lange Zeit im Abseits der „Behindertenpolitik“ standen. „Art und Ursache einer Behinderung, Geschlecht und Erwerbsstatus“ bildeten wichtige Unterscheidungskriterien, die über die Verteilung von Lebenschancen entschieden.

Eindrucksvoll stellt die Verfasserin dar, wie zersplittert das System sozialer Unterstützung für Menschen mit Behinderungen bis in die 1960er-Jahre hinein war (und darüber hinaus). Nach dem Kausalprinzip, also nach der Ursache einer Behinderung, wurden Menschen mit Behinderungen der Sozialversicherung, dem Versorgungswesen oder der öffentlichen Fürsorge zugewiesen, was erhebliche soziale Ungleichheit nach sich zog. Sachkundig und anschaulich beschreibt die Verfasserin die schrittweisen Verbesserungen in den 1950er- und 1960er-Jahren. Hervorzuheben ist die Durchsetzung des Finalprinzips bis 1974, tatsächlich ein wichtiger Schritt in Richtung „Chancengleichheit“ für alle Menschen mit Behinderungen. Nun bestand die Intention verstärkt darin, bedürftigen Menschen einen erträglichen Lebensstandard zu sichern.

„Behindertenpolitik“ zielte zugleich weiter auf eine Anpassung behinderter Menschen an die „Normalitätserwartungen“ der Gesellschaft. Es ging um (Wieder-)Eingliederung und Rehabilitation, und das hieß konkret: um die Wiederherstellung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit (S. 243-275, S. 337). Bösls Arbeit bestätigt einmal mehr, dass Arbeitsmarktentwicklung und Arbeitsmarktpolitik den Motor der Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen bilden. Im Zeichen der Vollbeschäftigung zu Beginn der 1960er-Jahre wurden Menschen mit (körperlichen) Behinderungen – wie übrigens schon zur Zeit des nationalsozialistischen „Wirtschaftswunders“ seit Mitte der 1930er-Jahre – als stille Arbeitsmarktreserve entdeckt (S. 67f.).

Erst seit Beginn der 1970er-Jahre verschob sich der Fokus von „Rehabilitation“ und „Normalisierung“; jetzt ging es zunehmend um „gleichberechtigte Teilhabe an allen Lebensbereichen“ (S. 51) – auch in der Freizeit, beim Sport, am kulturellen Leben. Das hatte zum einen natürlich mit der Veränderung des gesellschaftlichen Großklimas, mit der Liberalisierung, Individualisierung und Pluralisierung von Lebensentwürfen in den „langen 1960er-Jahren“ zu tun. Zum anderen hing es aber auch mit der Umverteilung der „Sprecherpositionen“ (S. 70) im Diskurs zusammen – neben den traditionell tonangebenden Orthopäden und Rehabilitationsmedizinern, der konfessionellen „Krüppelfürsorge“ und den etablierten Interessenverbänden prägten nun auch Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Heilerzieher sowie kritische Publizisten den Diskurs (S. 70ff., S. 78-82). Im Laufe der 1970er-Jahre meldeten sich zunehmend auch Menschen mit Behinderungen und ihre Selbsthilfeorganisationen als „Expertinnen und Experten in eigener Sache“ (S. 74) zu Wort. Überzeugend arbeitet Bösl die Bedeutung des „Contergankomplexes“ heraus (S. 226-241), der im Hinblick auf die öffentliche Wahrnehmung und die mediale Inszenierung von Behinderung wie auch auf die Neuausrichtung von „Behindertenpolitik“ einen wahren „Entwicklungsschub“ (S. 92) auslöste. Dieser Schub richtete sich zunächst eher auf „separierte Formen des Lebens, Wohnens, Arbeitens und Lernens“ (S. 104). Gleichzeitig jedoch mehrte sich die Kritik am „Behütungs- und Schonraumprinzip“ (S. 108). „Behindertenpolitik“ wandelte sich allmählich von einer „Sozialleistungspolitik“ zur „Gesellschaftspolitik“. Die soziale gewann gegenüber der medizinischen und beruflichen Rehabilitation an Gewicht, die Prothetik als Anpassung des behinderten Menschen an die Gesellschaft geriet – auch infolge des „Contergankomplexes“ (S. 301-319) – in die Kritik, der Abbau materieller Barrieren als Anpassung der Lebenswelt an die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen rückte allmählich ins Blickfeld.

Die künftige Forschung zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen in der Bundesrepublik wird an Elsbeth Bösls Pionierstudie nicht vorbeikommen. Ein dringendes Desiderat bleibt: Der dunkle Kosmos der Heime für Menschen mit Behinderungen und die dort herrschende Subkultur der Gewalt müssen in einer Sozialgeschichte der Behinderung unbedingt Berücksichtigung finden.3

Anmerkungen:
1 Zum Kontext siehe den Forschungsbericht von Elsbeth Bösl, Dis/ability History: Grundlagen und Forschungsstand, 7.7.2009: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2009-07-001> (30.12.2010).
2 Vgl. Hans-Walter Schmuhl, Exklusion und Inklusion durch Sprache – Zur Geschichte des Begriffs Behinderung, Berlin 2010.
3 Vgl. exemplarisch ders. / Ulrike Winkler, Gewalt in der Körperbehindertenhilfe. Das Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein von 1947 bis 1967, Bielefeld 2010.

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