C. Koch (Hrsg.): Hellmut von Gerlach – Demokrat und Pazifist

Titel
Vom Junker zum Bürger. Hellmut von Gerlach – Demokrat und Pazifist in Kaiserreich und Republik


Herausgeber
Koch, Christoph
Erschienen
München 2009: Martin Meidenbauer
Anzahl Seiten
X, 432 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Reinhold Lütgemeier-Davin, Kassel

Der Tagungsband widmet sich dem Juristen, Publizisten, liberalen Politiker und Pazifisten, dem langjährigen Chefredakteur der Berliner Wochenzeitung „Welt am Montag“ Hellmut von Gerlach (1866-1935). Bei ihren Annäherungsversuchen an den bedeutenden und wortmächtigen Friedenskämpfer konnten sich die Wissenschaftler auf wichtige Monographien stützen, die sich ausführlich mit der Biographie Gerlachs beschäftigt haben: Ruth Greuner hat bereits 1965 in der ehemaligen DDR eine handliche populärwissenschaftliche Biographie vorgelegt, die die „Wandlungen eines Aufrechten“ in dessen Forderung nach Bildung einer Volksfront gegen den Nationalsozialismus sich vollenden lässt. 1 Zwei westdeutsche Dissertationen wenden sich dem Journalisten zu. 2 Überdies liegen ungezählte Aufsätze über den herausragenden liberalen Publizisten und kampfesmutigen Pazifisten vor. Und dennoch fehlt eine wirklich überzeugende, kritisch gewichtende Biographie, die die wesentlichen persönlichen und politischen Facetten seines Lebens darstellt.

Der von Christoph Koch, Hochschullehrer an der FU Berlin, herausgegebene Tagungsband kann und will diese Lücke nicht schließen, sondern nur wichtige Stationen und Problemkreise seines Wirkens erhellen. Ein Schwerpunkt der Anthologie ist den Anstrengungen Gerlachs gewidmet, das deutsch-polnische Verhältnis zu entspannen – beleuchtet von deutschen wie polnischen Historikern, Kulturwissenschaftlern und Journalisten.

Gerlachs publizistische Initiativen gegen die brutale und eigentlich gesetzwidrige Germanisierungspolitik des „Deutschen Ostmarkenvereins“ und des preußischen Staates im Kaiserreich werden analysiert, ebenso seine vehement von der politischen Rechten angefeindeten Versuche als Unterstaatssekretär im preußischen Innenministerium, die Lebensmittel- und Kohlenlieferungen während der Novemberrevolution 1918 sicherzustellen sowie seine praktisch-politischen und journalistischen Bemühungen, das deutsch-polnische Verhältnis auf der Basis der strikten Anerkennung des territorialen status quo zu verbessern. Dass Gerlach dabei dem politischen und ideologischen Mainstream seiner Zeit zuwiderlief, zeugt von seiner Integrität sowie seinen demokratischen und friedfertigen Grundüberzeugungen.

Vieles, was auf der Tagung im Juni 2007 vorgetragen wurde, ist allerdings beileibe nicht neu oder ein Forschungsdesiderat. Manches irritiert gar. Es gibt das kühne Konstrukt, sich auf Hellmut von Gerlach im Sinne einer zweifelhaften Vergangenheitspolitik für eine durchaus lautere aktuelle Politik gegen Krieg, Bereinigung nationaler Gegensätze und den Abbau von Grundrechten heute zu berufen (die Aufsätze von Mario Keßler, Eckart Spoo und Christoph Koch). Manches irritiert, weil es nicht viel mehr bietet als eine ausgewählte, zugespitzte, zugegeben kurzweilig und erhellende Zitatensammlung von Ossietzky, Tucholsky und Gerlach (Susanne Böhme-Kuby) oder, weil in beachtlicher Breite und für sich genommen durchaus interessant der Pädagoge und radikale Ethiker Friedrich Wilhelm Foerster vorgestellt wird (Helmut Donat), der sich zwar wie Gerlach für die deutsch-polnische Aussöhnung einsetzte, aber doch nur sehr indirekt Ansatzpunkte bietet, um die politischen Vorstellungen Gerlachs aufzudecken. Das Diktum Gerlachs, Foerster sei der „wohl bestgehasste Mann Deutschlands“ gewesen, wird zum Anlass genommen, den Wirkungskreis des radikalen Pazifisten vorzustellen – und Gerlach bleibt dabei eigentlich außen vor.

Freilich, auch und gerade das persönliche Verhältnis zu einigen Zeitgenossen ist geeignet, die politischen Wandlungen und Einstellungen Gerlachs zu verstehen – aufschlussreich sind hier zum einen die Darstellungen über seine Beziehungen oder politischen Verbindungen zu Friedrich Naumann, Gustav Stresemann und Carl von Ossietzky. Zum anderen bietet die einfühlsame Darstellung der Lebensleistungen von Milly Zirker, der Privatsekretärin und engen Lebensgefährtin Gerlachs, einen guten Einblick in das private Umfeld des Journalisten und politischen Akteurs, zumal dessen Autobiografie Persönliches kaum preisgibt, seinen Charakter geradezu verstellt (Michael Quetting). Viele interessante, durchaus disparate Aspekte eines keineswegs widerspruchsfreien Weges vom preußischen Junker zu einem Mann mit liberalen, demokratischen Überzeugungen zeigen die Detailstudien auf.

Da ein Nachlass fehlt, muss jede wissenschaftliche Biografie primär aus den umfangreichen journalistischen Arbeiten Gerlachs und den ergiebigen verstreuten Archivbeständen von Zeitgenossen schöpfen. Das ist ein überaus mühevolles Unterfangen, sodass die Tagung gewiss notwendig war zur Selbstvergewisserung der historisch-politischen Forschung. Die Beiträge kreisen, wenngleich sie nicht wirklich aufeinander abgestimmt und auf spezifische Fragestellungen hin konzipiert zu sein scheinen, um die Alternativen zum offiziellen Regierungshandeln, die sich aus dem Leben des wortgewaltigen, aber tendenziell politik-, weil kompromissunfähigen Publizisten erschließen lassen. Deutsch-polnische wie deutsch-französische Entspannung, allgemeine Abrüstung, konsequente Demokratisierung und konsequenter Antifaschismus zeigen den Weg, wie die nationalsozialistische Diktatur hätte verhindert werden können.

Der Tagungsband liefert weitere Bausteine für eine Gerlach-Biografie. Wichtig hierfür sind vor allem die Beiträge über Milly Zirker, der Vergleich mit seinem politischen Antipoden Gustav Stresemann, der Beitrag über die Posener Mission sowie die Analyse seines posthum in der „Neuen Weltbühne“ erschienenen Beitrags „Friedensgefährdender Pazifismus“, in dem er für eine Einigung des antifaschistischen Widerstands eintritt und vor einer Beschwichtigungspolitik demokratischer Staaten gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland eindringlich warnt. Wertvoll ist der Wiederabdruck der Rechtfertigungsschrift Gerlachs aus dem Jahr 1919 über den „Zusammenbruch der deutschen Polenpolitik“.

Der kritische Beitrag von Hans-Jürgen Bömelburg über die Selbstkonstruktion seines Lebenslaufs „von rechts nach links“, vom schlesischen Junker zum weltläufigen citoyen, vom Antisemiten zum Demokraten, vom Konservativen zum liberalen Republikaner, vom Preußen zum Weltbürger bietet ein knappes, aber sehr instruktives und überzeugendes Erklärungsraster für eine noch ausstehende umfassende Biografie. Bömelburg warnt eindringlich davor, Gerlachs Lebenslauf zu glätten, als widerspruchsfrei und geradlinig zu kennzeichnen. Damit formuliert er Ansprüche, die zwingend an eine moderne Biografie zu stellen wären. In welche Aktionsfelder das Wirken Gerlachs einzuordnen sind, darauf verweisen die übrigen Beiträge des lesenswerten Sammelbandes.

Anmerkungen:
1 Ruth Greuner, Wandlungen eines Aufrechten. Lebensbild Hellmut von Gerlachs, Berlin 1965.
2 Ursula Susanna Gilbert. Hellmut von Gerlach (1866-1935). Stationen eines deutschen Liberalen vom Kaiserreich zum „Dritten Reich“, Frankfurt am Main 1984; Franz Gerrit Schulte, Der Publizist Helmut von Gerlach (1866-1935). Welt und Werk eines Demokraten und Pazifisten, München 1988.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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