M. Fleischhauer: Der NS-Gau Thüringen 1939-1945

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Titel
Der NS-Gau Thüringen 1939-1945. Eine Struktur- und Funktionsgeschichte


Autor(en)
Fleischhauer, Markus
Reihe
Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe Bd. 28
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
403 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Lohalm, Hamburg

Die zeitgeschichtliche Forschung zum „Dritten Reich“ hat sich erst seit kurzem intensiver mit den NS-Gauen als eigenständigem Gegenstand beschäftigt. Zuvor waren die Gaue wahrgenommen worden im Wesentlichen als Parteistruktur, als Gegenstück zu Ländern und Provinzen ohne eigentliche administrative Kompetenzen und als Rahmen mikroanalytischer Regionalstudien. Neuere Untersuchungen konzentrierten sich allenfalls auf die in den angeschlossenen Gebieten Österreich und Sudentenland neu entstandenen so genannten Reichsgaue.1 Zu denen, die sich seit geraumer Zeit darum bemühen, auf dieses Defizit hinzuweisen und mit eigenen oder von ihnen angeregten Forschungen aufzuarbeiten, gehört Jürgen John.2 Neuere Forschungen zur Effizienz bzw. Ineffizienz von Sondergewalten und Bürokratien haben darüber hinaus ältere Auffassungen von den dem nationalsozialistischen Herrschaftsgefüge innewohnenden Tendenzen zu zunehmender „Staatsauflösung“ und „Selbstzerstörung“ in Frage gestellt und dabei auch auf den Beitrag hingewiesen, den gerade die Gaue als Mittelinstanzen zur Herrschaftsstabilisierung und Ressourcenmobilisierung des nationalsozialistischen Regimes beigesteuert haben.

In diesen Kontext hat Markus Fleischhauer seine von Jürgen John betreute und 2009 von der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Dissertation angenommene Arbeit gestellt. Fleischhauers Studie zur Struktur- und Funktionsgeschichte des NS-Gaues Thüringen zielt darauf ab, die Bedeutung dieser bisher von der Forschung vernachlässigten Mittelinstanz sowohl in herrschaftsstabilisierender wie kriegswirtschafts- und rüstungswirtschaftlicher Hinsicht herauszuarbeiten. Dabei belässt er es nicht bei dem im Titel fixierten Zeitraum des Krieges, sondern greift wohlbegründet auf die Zeit ab dem Vierjahresplan 1936 zurück. Grundlage seiner Untersuchung bilden vor allem die einschlägigen Bestände im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar und im Bundesarchiv Berlin, die Fleischhauer in breitestem Umfang ausgewertet hat.

In einer ausführlichen Einleitung, die weitgehend den theoretischen Ansätzen Johns verpflichtet ist, ordnet Fleischhauer seine Untersuchung in die zeitgeschichtliche Forschungslandschaft ein und zeigt sich dabei außerordentlich vertraut mit der Literatur, was sich auch in einem umfangreichen Literaturverzeichnis niederschlägt. In fünf Großkapiteln verfolgt Fleischhauer die Entwicklung des Gaues Thüringen, die er sinnvoll nach den Zäsuren 1936, 1939 und 1942 ausrichtet und strukturell an den jeweils entscheidenden Organisationen aus Partei, staatlichen Bürokratien, Selbstverwaltungsorganen der Wirtschaft und Wehrmacht orientiert. Dabei wird die Bewältigung unterschiedlicher Problemlagen in Teilen intensiver in den Blick genommen: so etwa die besonderen Aktionen Thüringens als Evakuierungs- und Verlagerungsgau wie die kriegswirtschaftlichen Mobilisierungsstrategien hinsichtlich Ernährung, Energieversorgung und Arbeitskräften.

Fleischhauer schildert zunächst den Aufstieg der NSDAP in Thüringen und die Entwicklung des Gaues auch im Vergleich zur allgemeinen Entwicklung im Reich. Er stellt den Umbau im politischen Machtapparat nach 1933 ebenso dar wie die organisatorischen Veränderungen in der Finanz- und in der gewerblichen Wirtschaft und konstatiert für diese Zeit schon einen deutlichen Zuwachs an Kompetenzen auf der Ebene der Gaue. Das Ausbleiben einer territorialen Reichsreform hatte Dauerkonflikte zur Folge, da der Gau Thüringen nicht nur das Land, sondern unter anderem auch den Regierungsbezirk Erfurt sowie weitere Teile aus der preußischen Provinz Sachsen umfasste und erst im Laufe des Krieges die Bezirke der Wirtschafts- und Sozialverwaltung sowie die Reichsverteidigungskreise wie die Rüstungsdienststellen und -kommissionen an die Gaugrenzen angeglichen wurden. Mit Blick auf den Gauleiter und Reichsstatthalter Fritz Sauckel kommt Fleischhauer zu dem Schluss, dass dieser nach einer Experimentierphase bis 1939 entscheidende auf sich bezogene Netzwerke von Personen und Organisationen eingerichtet hatte.

Sauckels Thüringen, so Fleischhauers Resümee, könnte durchaus als ein Beispiel für die von Rüdiger Hachtmann postulierte „neue Staatlichkeit“ angesehen werden.3 In diesem Zusammenhang beschäftigt sich Fleischhauer auch ausführlich mit den Ausführungen des Staatssekretärs im Reichsministerium des Innern Wilhelm Stuckart über „Zentralgewalt, Dezentralisation und Verwaltungseinheit“ von 1941. Es wäre der Sache dienlicher gewesen, wenn er stattdessen auf die für Sauckels Vorstellungen viel wichtigeren eigenen Ausarbeitungen und Denkschriften zur Fortentwicklung Thüringens zu einem vorbildlichen Reichsgau vom April 1934, Januar 1936 und November 1937 einschließlich der Stellungnahmen aus dem Reichsinnenministerium dazu eingegangen wäre.4

Entscheidende Impulse für die Ausbildung des Gaus zu einer immer stärker werdenden Mittelinstanz gingen von der Organisation der Kriegswirtschaft und Kriegswirtschaftsverwaltung aus. Fleischhauer beschreibt die Vielzahl der beteiligten Ämter und Institutionen in ihrer Zusammensetzung wie in ihrem Zusammen- und Gegeneinanderwirken dank seiner genauen Aktenkenntnis bis in die kleinen Verästelungen von Zuständigkeiten, Abhängigkeiten und Kompetenzüberlagerungen. Von grundsätzlicher Bedeutung waren – wie Fleischhauer zu Recht herausstellt – das Jahr 1942 mit der grundlegenden Neustrukturierung der Kriegswirtschaft und das Jahr 1944. Die zunehmenden Kriegsbelastungen brachten einerseits deutliche Kompetenzverlagerungen auf die Gauebene, nachdem diese auch für die Reichsverteidigungsbezirke maßgebend geworden waren, führten andererseits mit dem Einsetzen einer totalen Kriegswirtschaft unter dem neuen Rüstungsminister Albert Speer zu einer deutlichen Zentralisierung auf Reichsebene, so dass neue Institutionen für ein Zusammenwirken erforderlich wurden.

Die Ausführungen Fleischhauers orientieren sich in der Folge an den entscheidenden Zentren der Gauorganisation, insbesondere dem Reichsverteidigungsausschuss, dem Gaueinsatzstab und der Rüstungskommission des Wehrkreises X b. Darüber hinaus wurde die Selbstverwaltung der Wirtschaft durch die Schaffung einer Gauwirtschaftskammer grundlegend transformiert. Sie vertrat im Zusammenspiel mit den Wirtschaftsämtern und teilweise mit der Deutschen Arbeitsfront die wirtschaftlichen Eigeninteressen des Gaues. Mit der Einrichtung eines Gaueinsatzstabes wurde 1942 die Mobilisierung von Ressourcen und Menschen zur Bewältigung der Folgen des Luftkrieges in Angriff genommen. Dieser geriet mehr und mehr unter den Einfluss von Parteiorganisationen, erwies sich gleichwohl – wie Fleischhauer feststellt – als ein „dynamisch agierendes, die wichtigsten regionalen Institutionen, Apparate und deren Führungspersonal integrierendes, funktionstüchtiges und belastungsfähiges Instrument“ (S. 270) und erhöhte damit das Eigengewicht des Gaues.

Im Sommer und Herbst 1942 entstanden so genannte Rüstungskommissionen, die alle Anforderungen der Rüstungs- und Kriegswirtschaft auf Gauebene zusammenführen und die unterschiedlichen Ämter und Apparate verklammern sollten. Das in ihnen zunächst vorhandene Übergewicht der Vertreter des Reichsministeriums für Rüstung und Kriegsproduktion führte in Thüringen zu Konflikten mit Parteivertretern und insbesondere mit dem Reichsverteidigungskommissar Sauckel. Der durch Repräsentanten von Behörden und NS-Organisationen erweiterte Teilnehmerkreis ließ die Kommission sich dann „zur bedeutendsten Schaltzentrale der gaubezogenen Wirtschaftsorganisation in Thüringen in der zweiten Kriegshälfte“ (S. 334) entwickeln.

Die detaillierten Ausführungen Fleischhauers zeigen eindrucksvoll, in welcher Weise die Ausbildung von Stäben und Gremien auf der Gauebene und ein enges Beziehungsgeflecht der Eliten aus Staat, Partei, Wirtschaft und Wehrmacht für Integration und Mobilisierung sorgten und zu einer wachsenden Eigenständigkeit des Gaues Thüringen führten, die ganz besonders ab Herbst 1944 zum Tragen kam. Gleichwohl sind die außerordentlichen Reibungsverluste durch eine Vielzahl konkurrierender Ämter und Organisationen und durch Konflikte in den Netzwerken zwischen Reich, Wehrmacht und Gau und auf der Gauebene selbst nicht zu übersehen. Fleischhauer hat beides im Blick, seine primär - und zuweilen isoliert - auf Ämter, Kommissionen und Verbände ausgerichteten Ausführungen fügen sich indessen nicht zum strukturierten Bild einer durchorganisierten neuen Staatlichkeit in Form eigenständiger thüringischer Gauherrschaft.

Dazu passt, dass gerade das persönliche Regiment Sauckels trotz der Fülle der von diesem ausgeübten Ämter seltsam blass bleibt, obwohl Fleischhauer gerade darin einen entscheidenden „Schlüssel zum Verständnis von Politik und zum Verhältnis der Bereiche Partei, Staat und Wirtschaft in Thüringen“ sieht (S. 96). Fleischhauers Studie leistet dennoch einen wichtigen Beitrag hierzu; vor allem vermittelt sie im Sinne seines Forschungsvorhabens einen differenzierten Eindruck in die sich ständig verändernden und teilweise ausufernden Strukturen einer Mittelinstanz und ihrer Funktion im Herrschaftsgefüge des „Dritten Reichs“.5

Anmerkungen:
1 Eine Ausnahme bilden Untersuchungen zu den westfälischen Gauen. Vgl. insgesamt Jürgen John, Die Gaue im NS-System, in: Jürgen John / Horst Möller / Thomas Schaarschmidt (Hrsg.), Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“, München 2007, S. 22-55.
2 John leitet gegenwärtig ein an der Friedrich-Schiller-Universität Jena angesiedeltes DFG-Projekt „Die NS-Gaue als Mobilisierungsstrukturen für den Krieg“. Vgl. den Tagungsbericht von Julia Möckl über den ersten im Rahmen dieses Projektes im Frühjahr 2010 abgehaltenen Workshop, in: H-Soz-u-Kult, 29.05.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3127> (21.09.2010).
3 Vgl. Rüdiger Hachtmann, „Neue Staatlichkeit“ im NS-System – Überlegungen zu einer systematischen Theorie des NS-Herrschaftssystems und ihre Anwendung auf die mittlere Ebene der Gaue, in: John / Möller / Schaarschmidt (Hrsg.), Die NS-Gaue, S. 56-80.
4 Vgl. Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verfassungspolitik 1939-1945, Stuttgart 1989, S. 84 und S. 238ff.
5 Es ist schade, dass die übersichtlich gestaltete, reichlich annotierte und mit etlichen Tabellen und Übersichten versehene Arbeit einige formale Mängel aufweist. So hätte ein aufmerksamer Lektor die wenig überzeugende Begründung für das lückenhafte Personenregister nicht übersehen dürfen. Gravierender jedoch ist die Tatsache, dass Fleischhauer in den Fußnoten zwar den genauen Fundort angibt, aber auf die Nennung und Datierung des jeweiligen Dokumentes nahezu durchgängig verzichtet und damit den Leser über dessen genaue Einordnung im Unklaren lässt.

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