T. Hiltmann: Spätmittelalterliche Heroldskompendien

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Titel
Spätmittelalterliche Heroldskompendien. Referenzen adeliger Wissenskultur in Zeiten gesellschaftlichen Wandels (Frankreich und Burgund, 15. Jahrhundert)


Autor(en)
Hiltmann, Torsten
Reihe
Pariser Historische Studien 92
Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
513, [16] S.
Preis
€ 64,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klara Hübner, Departement für die Geschichte der Moderne und des Mittelalters, Universität Fribourg

Heute ist es schick, in Büchern sperrige strukturgeschichtliche Begriffe abzutasten oder den Nebel kulturhistorischer Turns zu durchwaten. Da wirkt eine Arbeit, die sich mit der Analyse einer Quellengattung auseinandersetzt zumindest irritierend. Um dieses Konkrete, nämlich spätmittelalterliche Heroldskompendien aus dem französischen und burgundischen Raum, geht es bei Thorsten Hiltmann. In einer klassischen Quellenkunde würde man Heroldskompendien allerdings vergeblich suchen. Betrachtet man nämlich die schriftlichen Hinterlassenschaften aus dem Umfeld dieser schillernden Begleiter von Königen, Fürsten oder Baronen, wird schnell klar, dass sie sich aufgrund ihrer Heterogenität jeder Systematisierung entziehen. Was uns aus den Textkompilationen entgegentritt, ist nicht die Schriftlichkeit, die sich mit der großen Welt der spätmittelalterlichen Adelskultur auseinandersetzt, sondern jene die ‚von unten‘ kommt, quasi aus der Perspektive ihrer zudienenden Akteure. Es erstaunt wenig, dass die meist schmucklos gehaltenen Handschriften auch den Eindruck praxisnahen Gebrauchsschrifttums erwecken. Der Inhalt dreht sich vorwiegend um „adeligen Kleinkram“, dass heißt Lebensweltliches aus ihrem Alltag. Die Palette reicht von der Beschreibung des Adels und seinen Zeremonien über Abhandlungen zum Kriegs- und Turnierrecht, gerichtlichen Zweikämpfen, Krönungsregeln und Briefstellern, Länderkunden und Eidesformeln bis hin zum Entwurf adäquater Obsequien für adelige Verstorbene.

Darüber hinaus enthalten die Kompendien jedoch auch (Selbst-)Reflexionen zum Heroldsamt und dies angeblich von den Herolden selbst: Anweisungen zur Auswahl und Ausbildung der Amtsträger, die Aufzählung ihrer Tugenden, Pflichten und Privilegien bis hin zu legitimatorischen Exkursen über die vermeintlich antike Herkunft des Amts. Solche Selbstvergewisserungen, Abgrenzungen und natürlich auch die Werbung in eigener Sache waren für das Überleben dieser zunächst freiberuflichen Dienstleistergruppe existenziell. Schließlich galt es sich vom Milieu der fahrenden Spielleute abzusetzen, aus welchem das Amt im Verlauf des Spätmittelalters zur Stütze des europäischen Adels aufgestiegen war. Obschon die Kompendien wichtige Etappen auf dem Weg zu dieser repräsentativen Unentbehrlichkeit festhalten, wurden sie bislang fast ausschließlich aus heraldischer Perspektive betrachtet.

Bei diesem einseitigen Umgang setzt auch die Kritik des Autors an. Die Traktate zum Heroldswesen aus der Sicht der Heraldik, die im Zentrum der älteren Forschung standen, machen nämlich nur einen kleinen Teil dieser Textsammlungen aus. Dass Herolde etwa auch als Boten, Briefübermittler oder Friedensemissäre tätig waren, spielte bisher eine untergeordnete Rolle. Die vom Verfasser ausgewählten Beispiele aus einigen visuell besonders ansprechenden Prachthandschriften propagieren Herolde vor allem als Träger adeliger Zeichensysteme. Diese Betrachtungsweise geht Hiltmann auf zweierlei Arten an: einerseits editionskritisch, indem er versucht die Kompendien als Quellengruppe einzugrenzen, wozu er sich ihrem Aufbau und den unterschiedlichen Überlieferungen widmet; andererseits über den Inhalt, wobei er vor allem der Frage nachgeht, welche Aussage die Quelle über das wirkliche Verhältnis zwischen Adel und Herolden zulässt. Geht es dabei tatsächlich um Werke aus der Praxis für die Praxis? Ist der Inhalt eher eine Kompilation beidseitigen Wunschdenkens? Welche gemeinsamen Absichten von Adel und Herolden werden in diesen Quellen vereint?

Sein Neuland betritt der Autor über die Analyse von 25 Kompendien – 24 Handschriften und einem Druck – aus dem Zeitraum zwischen circa 1430 und 1480. Alle Textsammlungen stammen aus jenen Regionen Frankreichs, in denen sich die ritterlich-höfische Kultur entfalten konnte: dem Burgund, Flandern, dem Hennegau, dem Anjou, Savoyen und Lothringen. Als Vergleich dient ihm eines der besterforschten Beispiele aus der spätmittelalterlichen Heroldsliteratur, das „Kompendium des Herolds Sicile“.

Sicile, mit bürgerlichem Namen Jean Courtois, ist nach 1416 als Herold König Alphons’ V. von Aragon bezeugt. Er gilt als einer der wenigen Amtsinhaber, die ihr Kompendium zwar nicht selbst geschrieben, die Zusammenstellung der zwischen 1435 und 1437 verfassten Traktate aber beaufsichtigt haben. Seine Textsammlung fällt durch ihre systematische, gut kommentierte Struktur auf. Der erste Teil enthält Abhandlungen über das Heroldswesen, der zweite solche über adelige Zeremonien. In einem dritten Teil werden schließlich die adlige Gesellschaft und ihre Zeichen beschrieben. Nicht von ungefähr galt diese Zusammenstellung bisher als Paradebeispiel eines Praxishandbuchs für künftige Amtsträger, und wurde daher auch als Beleg für die voranschreitende Institutionalisierung des Amtes herangezogen.

Hiltmann zeigt in großer Deutlichkeit, worauf solche Verallgemeinerungen hinauslaufen: Weil viele Kompendien direkt im ritterlichen Milieu entstanden, sind sie eher Projektionen eines Adelsideals denn Selbstreflexionen einer subalternen Amtsträgergruppe. Dies zeigt er an den Tücken dieser nicht alltäglichen Quellengruppe; so dem Variantenreichtum und der unterschiedlichen Überlieferung einzelner Abhandlungen, wobei Angaben zu Autorenschaft, Datierung oder Intention meistens fehlen. Trotz des dichten regionalen Vorkommens der Kompendien gab es zudem kaum Austausch zwischen den Kompilatoren. Persönliche Interessen bestimmten die Textauswahl: Gerade sieben der rund 100 analysierten Abhandlungen kommen darin regelmäßig vor. Vage Hinweise auf älteste Heroldskompendien gehen ins frühe 15. Jahrhundert zurück, genaugenommen in die Zeit um 1407. Damals bemühten sich französische Herolde um eine landesweite zünftische Organisation mit Sitz in der Kirche Saint-Antoine-le-Petit in Paris und wurden dafür auch beim König vorstellig. Von ihm wollten sie sich ihre angeblich aus altem Königs- und Fürstendienst stammenden Privilegien bestätigen lassen. Dieser Institutionalisierungsversuch scheiterte zwar, die Heroldsliteratur erfreute sich in den darauf folgenden Jahrzehnten aber einer großen Verbreitung, wofür auch die Überlieferung spricht, die von notizartigen Privatkopien bis zur illuminierten Pergamenthandschrift reicht. Hierin sieht Hiltmann auch den Schlüssel zum Gebrauch der Kompendien: Waren die Textsammlungen noch zu Beginn des Jahrhunderts vor allem Wissensspeicher für Amtsträger, wurden sie ausgangs des 15. Jahrhunderts zu den eigentlichen Trägern adeliger Überlieferung und Rezeption.

Diesen langsamen Wandel spiegeln die Inhalte der Heroldskompendien wieder, denen der Autor den zweiten Teil seiner Arbeit widmet. Die frühesten Traktate versuchen Fürsten und dem Adel die Nützlichkeit des Amtes vor Augen zu führen, zugleich aber auch Rechte und Privilegien durchzusetzen, um das Amt durch eine klare Organisation gegenüber allen freien Dienstleistern – insbesondere den Spielleuten – abzugrenzen. Die Legitimierung erfolgt über das Konstrukt einer Geschichte des Heroldswesens, wobei der Gründungsakt auf Julius Caesar zurückgeführt wird: Im weit verbreiteten „selon-les-dits-Traktat“ ernennt dieser vor Karthago zwölf erfahrene, alte Ritter zu Herolden, die fortan die droits des armes bewahren müssen. Weitaus dramatischer wird die Entstehung im „Heroldstraktat des Jehan Hérard“ beschrieben, welcher das Amt auf die Tätigkeit von zwölf Jungfrauen zurückführt, die ursprünglich als Botinnen für den diplomatischen Austausch zwischen Herrschern zuständig waren. Dieser kommt jedoch zum Erliegen, weil sie wiederholt geschändet werden.

Die heraldisch-praktischen Bedürfnisse des Adels werden in den frühen Verschriftlichungen höchstens in Blasonierungs-, Farben- oder Obsequientraktaten abgehandelt. Die Perspektive bleibt zunächst jene der Herolde. Diese ändert sich erst in den Kompendien aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts, deren Verfasser und Leser vermehrt die Adligen selbst sind. Mindestens 40 Prozent der Überlieferungen lassen sich diesem Umfeld zuordnen. Den Abhandlungen zur adeligen Gesellschaft und ihren aktuellen Zeremonien kommt darin deutlich mehr Bedeutung zu. Besonders häufig werden Tjosten oder zeitgenössische Turniergewohnheiten aus allen Herren Ländern beschrieben, allerdings auch Historisches, wie etwa die mêlées (Massenturniere), die seit dem 14. Jahrhundert nicht mehr gepflegt wurde. Die Funktion der Überlieferung dieser Traditionen erklärt Hiltmann mit dem Bemühen des Dienstadels, sich seinen festen Platz an der Seite der Fürsten zu sichern.

Diesen eher praktischen Zusammenhängen zwischen Fürstendienst, Kriegswesen und geburtsständischer Abgrenzung – das Adelsbild in den Kompendien – sind die abschließenden Kapiteln der Studie gewidmet. Dies tut der Verfasser vor allem über die Erläuterung der sozialen Funktion der Herolde, denen es im ausgehenden 14. Jahrhundert gelungen war, sich als Kommunikatoren adeliger Anliegen zwischen unterschiedlichen Gruppen zu etablieren. Die Gunst der Stunde – so Gert Melville – kam mit dem Hundertjährigen Krieg, als die französische Ritterschaft nicht mehr in der Lage war, ihre Funktionen in Kriegs- und Fürstendienst zu vereinen. Herolde füllten gewissermaßen diese Lücke, sublimierten die Ideale von Ritterschaft und Vasallität und sorgten öffentlichkeitswirksam dafür, dass sich das geburtsständische Rittertum gegen Stadtbürger und Emporkömmlingen abgrenzen konnte.

Caesars loyale Ritter aus dem „selon-les-dits-Traktat“ dienen ganz dieser Rückbesinnung auf die wahren gesellschaftlichen Werte eines kämpfenden Adels. Aus der Ritterschaft wird ein Tugend-Adel, das Geburtsrecht und die Überbetonung des Waffenhandwerks wird über die Ansprüche studierter Parvenüs gestellt. In dieser Aussage sieht Hiltmann dann auch die größte Attraktivität der oftmals historisierenden Kompendien. Sowohl im Bezug auf die Ritter als auch auf die Herolde wird eine idealisierte Rückbesinnung zelebriert, die ganz auf den Zeichen des Adels aufbaut – allen voran ihren Wappen. Mit der Beschreibung längst veralteter Zeremonien wird ihre immerwährende Kontinuität manifestiert, nicht im Sinne sklerotischer Festschreibungen, sondern als Legitimation, die das gesamte Spektrum adeligen Selbstverständnisses enthält, oder mit Hiltmanns eigenen Worten: das Kaleidoskop der spätmittelalterlichen Adelskultur.

Und dieses Kaleidoskop hätte man nur schon wegen des umfassenden Anhanges, welcher die Kerntexte der Heroldskompendien regestenartig aufführt, gerne stärker schillern gesehen; in seiner gesamten Lebensweltlichkeit, die nicht durch historisierende Schriftlichkeit beschränkt wird; etwa im Untergang des Herzogtums Burgund oder im sozialen Abstieg des französischen Ritteradels. Auch hätte man mehr über das tägliche Leben der Herolde erfahren wollen, denn nicht jeder Herold war automatisch ein Sicile. Welche Proletarisierung dem bel office der Herolde widerfuhr, lässt sich nach 1450 zahlreichen fürstlichen aber auch städtischen Rechnungsquellen entnehmen. Hier wird das Auseinanderklaffen von schriftlichem Anspruch und Alltagsrealität, das in den Kompendien gelegentlich zwischen den Zeilen aufblitzt, besonders offenbar. Der Autor hat allerdings gut daran getan, dieses unabsehbar große Forschungsfeld nicht auch noch zu betreten. Der Wert seiner Arbeit wird dadurch nicht geschmälert, zumal es ihm auf anschauliche und systematische Weise gelungen ist, ein textuelles Dickicht zu durchdringen und daher einer breiteren Forscheröffentlichkeit zugänglich zu machen. Weitere Studien werden diesem Beispiel hoffentlich folgen.

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