M. Ceadel: Living the Great Illusion. Sir Norman Angell

Cover
Titel
Living the Great Illusion. Sir Norman Angell, 1872-1967


Autor(en)
Ceadel, Martin
Erschienen
Anzahl Seiten
438 S.
Preis
£ 65.00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Karl Holl, Institut für Geschichte, Universität Bremen

Mit seiner 1909 veröffentlichten Schrift “Europe’s Optical Illusion“, die Norman Angell im folgenden Jahr als Buch mit erweitertem Umfang unter dem Titel „The Great Illusion“ erscheinen ließ, hatte der britische Autor die internationale Friedensbewegung um wichtige theoretische Überlegungen bereichert. Infolge der Krisenhaltigkeit der weltpolitischen Lage erwies sich das Buch am Vorabend des Ersten Weltkrieges als Bestseller. Alfred Hermann Fried rühmte den Scharfsinn von Norman Angells Argumentation, deren Wirkung über die zustimmende Aufnahme im organisierten Pazifismus Großbritanniens und Kontinentaleuropas weit hinausreichte.

Die zentrale These des Autors, die den ökonomisch kontraproduktiven Charakter militärischer Eroberungen und der Herrschaft über unterworfene Staaten behauptete, konnte begeisterter Aufnahme in der internationalen Friedensbewegung gewiss sein. Zugleich beflügelte sie pazifistisches Wunschdenken, so die Erwartung, der Krieg als historisches Phänomen sei zum Absterben verurteilt. Sein selbstkritischer Blick auf Schwächen und Lücken seiner Argumentation und heftige öffentliche Kritik veranlassten Norman Angell zu neuen Erweiterungen und Überarbeitungen seines Buches, ohne dass er dessen Kernaussagen zurücknahm. Mittlerweile hatte er die Chance entdeckt, seine Eloquenz zur Verbreitung seiner Botschaft einzusetzen und eine ausgedehnte Redetätigkeit im In- und Ausland begonnen. Das bevorzugte Land, in dem er in zahllosen Vorträgen seine Ideen präsentierte, wurden die USA, die er fast alljährlich, manchmal zweimal im Jahr, bereiste.

Als Sohn eines erfolgreichen Einzelhändlers in einer Kleinstadt in Lincolnshire geboren, hatte er die Fesseln der mütterlichen Erziehung abgestreift, die Enge seines anglikanischen Herkunftsmilieus zugunsten agnostischer Überzeugungen hinter sich gelassen und eine starke Neigung zur Bekräftigung seiner intellektuellen Unabhängigkeit entwickelt. Er hatte früh Lebenserfahrung, ja, Weltläufigkeit erworben durch Schulbesuch in Frankreich, flüchtige universitäre Studien und Theateraktivitäten in Genf, durch landwirtschaftliche Unternehmungen in Kalifornien, als Reporter regionaler Zeitungen in den USA, schließlich durch journalistische Arbeit in Paris im Dienste Lord Northcliffes und seines Blattes Daily Mail. Problemen der Außenpolitik galt von nun an sein oberstes Interesse. Die Arena politischer Publizistik betrat er 1909 absichtsvoll und endgültig mit der Veröffentlichung von „Europe’s Optical Illusion“. Er machte seinen Schritt unübersehbar, indem er anstelle seines Geburtsnamens Ralph Norman Angell Lane hinfort den Namen Norman Angell führte. Während seine Ehe mit einer Amerikanerin alsbald gescheitert war, erhielt sich seine erotisch getönte Anziehung auf gleichgesinnte Frauen, die seinen Aufstieg zu öffentlicher Anerkennung tatkräftig förderten.

In der Juli-Krise wurde Norman Angell mit seiner unverzüglich ins Leben gerufenen „Neutrality League“ zur treibenden Kraft, welche die britische Regierung vergeblich auf einen Nichteinmischungskurs festzulegen versuchte. Das Scheitern der Anstrengung führte im August 1914 zur Gründung der „Union of Democratic Control“ (UDC) und fand Norman Angell dabei in führender Rolle an der Seite von Ramsay MacDonald, Edmund D. Morel, Arthur Ponsonby und G.M. Trevelyan in ihrer Kritik an der Geheimdiplomatie. Zugleich meldeten sich bei ihm Zweifel an der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands, da er diesen Krieg eher verursacht sah durch die Hochrüstung der weltpolitischen Akteure und durch die daraus erwachsene Instabilität der Verhältnisse. Von einem Kriegsziel wie dem der Überwindung des preußischen Militarismus zeigte er sich wenig überzeugt, da er „Militarismus“ auch anderswo, so in seinem eigenen Land, am Werke sah.

Das war keine Entscheidung für einen radikalen Pazifismus. Norman Angell bestritt nicht die Notwendigkeit der Landesverteidigung. Er glaubte seine patriotische Pflicht erfüllen zu sollen, indem er sich Ende 1914 kurzfristig in den Sanitätsdienst einreihen ließ. Aber er trat nicht der „No – Conscription Fellowship“ bei, erwies jedoch den Kriegsdienstverweigern seine Sympathie. Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung, die ihn nur als lästigen Pazifisten behandelte und scharfer Kritik aussetzte, reichte die Perspektive seiner Kommentierung politischer Vorgänge weiter, um sich – fast bis zum Ende seines langen Lebens – in immer neuen Wortmeldungen, so zu Fragen der Finanzpolitik, der politischen Massenbildung, der Arbeitslosigkeit, zu manifestieren.

Pragmatisches Urteil leitete Norman Angell, als er die USA zur Preisgabe ihres Isolationismus aufforderte und für ihren Kriegseintritt an der Seite der Entente warb. Mit manchen Ergebnissen des Ersten Weltkrieges, besonders mit den Auswirkungen der Friedensschlüsse für die Weltökonomie sah er seine Illusionstheorie bestätigt. Wie die UDC insgesamt gehörte er zu den Kritikern der Deutschland auferlegten Reparationsverpflichtungen.

In den 1920er-Jahren ließ Norman Angell sich in die Politik der Labour Party, zeitweilig als Mitglied des Unterhauses, involvieren, wobei er Konflikte mit der parteioffiziellen Linie, auch mit MacDonald, in Kauf nahm. Er trat Tendenzen innerhalb der Parteilinken entgegen, die Auflösung des Empire zu fördern, da er die Entstehung und Verfestigung von Nationalismus in den aus diesem Prozess hervorgehenden neuen Staaten voraussah. Angesichts der kaum verminderten Labilität der Weltlage trat er als Anhänger eines Internationalismus für eine Stärkung des Völkerbundes und für ein System kollektiver Sicherheit ein, wobei er seine führende Stellung in der League of Nations Union (LNU) zu nutzen verstand.

Den aggressiven europäischen Rechtsbewegungen begegnete er mit Misstrauen und Abwehr. Er ließ sich darin auch nicht beirren, als sich im öffentlichen Diskurs Großbritanniens gutmeinende Stimmen bereit fanden, auf die Floskel von den „Habenichtsen“ – dem faschistischen Italien und NS-Deutschland – ernsthaft einzugehen. An der berühmt-berüchtigt gewordenen „King and Country“-Debatte der Oxford Union am 9. Februar 1933 war er nicht beteiligt, obwohl er als Hauptredner vorgesehen war. Wahrscheinlich hätte er dabei auf der Seite der großen Mehrheit gestanden, die mit ihrer Resolution jede Beteiligung an einem künftigen Krieg Großbritanniens kategorisch ausschloss, denn er hätte darunter wohl die Absage an einen mit nationalistischen Argumenten geführten Krieg verstanden.

Indes blieb er sich treu, indem er sich nie auf Appeasement-Stimmungen einließ. Bereits vor dem Scheitern von Neville Chamberlains Außenpolitik stellte sich zwischen Norman Angell und Winston Churchill Sympathie ein. Eine präzise politische Verortung Norman Angells ist schwierig; sie irgendwo, irgendwie zwischen der Labour-Rechten und den Liberalen zu suchen, würde einem so unabhängigen Geist kaum gerecht. Seine Bedeutung für den politischen Diskurs des Landes wurde 1931 durch seine Erhebung in den Adelsstand gewürdigt. Sein Rang als friedenspolitischer Denker fand 1934 durch die Auszeichnung mit dem Friedens-Nobelpreis verdiente Anerkennung. Es war ihm wichtig, dass seine Ausgangsposition in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nicht in Vergessenheit geriet. Daher die wiederholte Bemühung um die Aktualisierung seiner Illusions-Theorie durch ihre Adaption an neue Realitäten: „The Great Illusion 1933“ als Warnung vor ökonomischem Nationalismus und vor der ökonomischen Begründung expansionistischer Außenpolitik, aktuell geworden durch die japanische Ausdehnung in der Mandschurei; 1938 angesichts zunehmender außenpolitischer Aggressivität Hitlers: „The Great Illusion Now“. Die Unmenschlichkeit von Hitlers Innenpolitik spornte ihn an zur Hilfe für die aus Deutschland und Österreich nach England gelangten Flüchtlinge.

Anders als zu Beginn des Ersten Weltkrieges zweifelte er im September 1939 nicht an der Legitimität des britischen Kriegseintritts. Oberster Auftrag britischer Kriegführung war nun für ihn die Verteidigung der Freiheit, so seine Antwort auf die Frage „For What Do We Fight?“ (1939). Die Begründung hatte sich seit 1917, als seine Schrift „Why Freedom Matters“ erschienen war, nicht geändert, - er ließ sie 1940 unverändert erneut erscheinen. Abermals setzte er sich in den USA für deren Beteiligung am Krieg gegen Deutschland ein.

Ungeachtet seiner schwächlichen Gesundheit, die ihm seit Kriegsende häufiger Krankheitspausen auferlegte, verfügte er noch immer über soviel Energie, dass er sich an den großen Debatten der Zeit mit der Lust an der Kontroverse beteiligte. Der Kalte Krieg erlebte ihn als Bannerträger der Freiheitswerte bester britischer Tradition, unbeirrbar in der Ablehnung des Kommunismus. Nicht zu übersehen war seine Annäherung an konservative Positionen.

Martin Ceadel, der beste Kenner der Geschichte der britischen Friedensbewegung, hat mit der Biographie Norman Angells eine stupende Leistung biographischer Forschung und Darstellung erbracht, beeindruckend durch die dichte Nähe zu einer Vielzahl von Quellen und durch die Urteilskraft des Autors. Leider erschwert die Fülle ungewichteter Informationen gelegentlich den Überblick und den Zugang zum Verständnis der Zusammenhänge. Anerkennung verdient Ceadel für die Einfühlsamkeit, mit der er Norman Angells Charakterstruktur und Temperament zu erhellen vermag. Sein Werk ist eine unverzichtbare Ergänzung zu Norman Angells Autobiographie „After All“.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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