Vertriebene und Kriegsheimkehrer nach 1945

: Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954-1974. München 2010 : Oldenbourg Verlag, ISBN 978-3-486-59150-7 X, 513 S. € 59,80

: Heimkehr – Erinnerung – Integration. Der Verband der Heimkehrer, die ehemaligen Kriegsgefangenen und die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft. Paderborn 2010 : Ferdinand Schöningh, ISBN 978-3-506-76921-3 348 S. € 44,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Stickler, Institut für Geschichte, Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Die beiden vorzustellenden Bände haben im weitesten Sinne Opferverbände zum Gegenstand, die in der frühen Bundesrepublik über erheblichen politischen Einfluss verfügten, inzwischen aber – so die Vertriebenenverbände – in der öffentlichen Wahrnehmung eher randständige Phänomenen sind beziehungsweise – wie der Verband der Heimkehrer – gar nicht mehr existieren. Trotz unterschiedlicher Inhalte, Methoden und Fragestellungen der beiden Monographien gibt es ein weiteres gemeinsames Element: Es geht um die schwierige Integration wichtiger sozialer Gruppen der 1950er-Jahre, die damit verbundenen zeitgenössischen Probleme und Fernwirkungen. Insofern lohnt es sich, die Bände parallel zu betrachten.

Die Studie von K. Erik Franzen, eine bei Jochen Oltmer entstandene Osnabrücker Dissertation, analysiert Entstehung und Entwicklung des Verhältnisses zwischen dem Freistaat Bayern und der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL). Länder-Patenschaften für Vertriebenorganisationen sind ja, auch wenn diese Form der demonstrativen Solidarisierung mit den Opfern von Flucht und Vertreibung heute vielfach eingeschlafen bzw. in Vergessenheit geraten ist, beileibe keine Seltenheit. Nennen könnte man etwa Niedersachsen für die Schlesier, Schleswig-Holstein für die Pommern, Nordrhein-Westfalen für die Oberschlesier. Es gibt indes zwei bedeutsame Sonderfälle: Baden-Württemberg und Bayern übernahmen beide 1954 Patenschaften – über die Donauschwaben auf der einen, die Sudetendeutschen auf der anderen Seite. Beide Länder erklärten allerdings formal nicht die jeweiligen Landsmannschaften zu ihren Partnern, sondern die „Volksgruppen“ (so die damalige offizielle Diktion). Der weißblaue Freistaat sprach sogar von einer „Schirmherrschaft“. Auf den noch deutlicheren, ursprünglich vorgesehenen Terminus „Protektorat“ hatte man aus begreiflichen Gründen schließlich doch verzichtet. Zusätzlich wurden die sudetendeutschen Vertriebenen neben den Franken, Schwaben und Altbayern zum „vierten Stamm“ erklärt. Damit wurden sie symbolisch eingebürgert und zudem einbezogen in den Traditionsrahmen der in der bayerischen Verfassung von 1946 beschworenen „mehr als tausendjährigen“ bayerischen Geschichte. Auf diese Weise entstanden Sonderbeziehungen, die bis heute fortwirken.

Indem der Freistaat Bayern die SL als privilegierten Partner akzeptierte, erkannte er deren Führungsanspruch an, auch gegenüber anderen sudetendeutschen Organisationen bzw. Vertriebenen, die nicht Mitglied der SL waren. Dies dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, dass die SL in Bayern bis heute ein nicht unwichtiger politischer Faktor mit Ausstrahlung auf ganz Deutschland ist. Sie ist immer noch vergleichsweise mitgliederstark und gut organisiert. Nicht zuletzt wegen ihres vehementen Kampfs gegen die Aufrechterhaltung der so genannten Beneš-Dekrete durch die Tschechische Republik und für die Durchsetzung von Entschädigungsforderungen gegenüber Prag ist die SL immer wieder Gegenstand öffentlicher Debatten und erfreut sich einer bleibenden, wenngleich nicht immer positiven medialen Aufmerksamkeit.

Franzens Haltung gegenüber der SL ist kritisch distanziert; insbesondere stellt er den Alleinvertretungsanspruch der SL in Frage, indem er herausarbeitet, dass die so genannte sudetendeutsche Identität das Ergebnis vielfältiger Konstruktionen ist, innerhalb derer die Schirmherrschaft und der Mythos vom „vierten Stamm“ eine zentrale Rolle einnehmen. Die enge Verbindung zwischen Bayern respektive der CSU als stärkster politischer Kraft und der SL war trotz des hohen Anteils von Sudetendeutschen an der bayerischen Nachkriegsbevölkerung keineswegs von vornherein absehbar. Vielmehr entdeckte die CSU das Wählerpotenzial der Vertriebenen erst in dem Moment, als vor dem Hintergrund des „Wirtschaftswunders“ die Maßnahmen zur Vertriebenenintegration zu greifen begannen und die Bayernpartei als partikularistische Konkurrenz rechts von der CSU ab Mitte der 1950er-Jahre an Bedeutung verlor. Die Schirmherrschaft wurde nicht ohne Grund unmittelbar vor den Landtagswahlen des Jahres 1954 verkündet. Bezeichnend ist, dass in den Jahren danach, auch über die kurze Oppositionszeit der CSU hinaus (1954–1957), zunächst erst einmal Stillstand in den beiderseitigen Beziehungen herrschte.

Erst ab 1962, als die 1954 nur ausgesprochene Schirmherrschaft förmlich verbrieft wurde, kam es zu einer weiteren Vertiefung; die CSU schickte sich nun an, die Reste der Vertriebenenpartei GB-BHE (seit 1961 nach Fusion mit der Deutschen Partei offiziell GDP) zu beerben. Seither gelang es der CSU vor dem Hintergrund der sich wandelnden Ost- und Deutschlandpolitik, sich als Sachwalter insbesondere der heimatpolitischen Interessen der Vertriebenen zu profilieren. Franzen kennzeichnet das Verhältnis aller bayerischen Regierungen zur SL seit 1954 als aktive Klientelbindung bei gleichzeitiger Kontrolle, wobei die jeweiligen Ministerpräsidenten die entscheidende Instanz hinsichtlich des einzuschlagenden Kurses dargestellt hätten. Integriert wurde auf diese Weise insbesondere auch die traditionelle sudetendeutsche „völkische“ Rechte, die nach 1945 in der Bundesrepublik in gewisser Weise politisch heimatlos war und sich im so genannten Witikobund sammelte. Bis Ende der 1960er-Jahre wurden dessen in Bayern lebende Mitglieder mehrheitlich von der CSU aufgesogen, wie etwa das Beispiel des langjährigen SL-Sprechers bzw. SL-Vorsitzenden Walter Becher (1912–2005) zeigt, der 1967 in die CSU eintrat.

Auch nach dem Abebben der Auseinandersetzungen um die Neue Ostpolitik konnte die SL ihre Sonderstellung gegenüber konkurrierenden Verbänden behaupten. Als Bayern 1978 ein Patenschaftsabkommen mit der Landsmannschaft Ostpreußen (LO) abschloss – nicht mit der „Volksgruppe“ bzw. der Provinz –, wurde die SL informell an den Verhandlungen beteiligt. Es gelang ihr hierbei, die LO auf Abstand zu halten und die eigene Vorrangstellung zu wahren. Fragt man nach dem „Cui Bono“ dieser Politik, so fällt zweierlei auf: Zum einen zogen beide Seiten, obgleich es immer wieder schwierige Gratwanderungen gab, daraus Vorteile – der CSU erwuchs ein zuverlässiges und mobilisierbares Wählerpotenzial, während die SL, im Unterschied zur Situation in anderen Bundesländern, wo ähnliche Partnerschaften seit den 1970er-Jahren immer mehr einschliefen, auch weiterhin auf die Unterstützung der CSU bauen konnte. Zum anderen förderte die praktizierte Partnerschaft die Integration der Vertriebenen in die bayerische Nachkriegsgesellschaft entscheidend, indem sie die unübersehbaren assimilatorischen Elemente der Eingliederungspolitik überdeckte und die Möglichkeit eröffnete, diese Politik als erfolgreiche Selbstbehauptung der Volksgruppe zu interpretieren. Eine Radikalisierung der Vertriebenen wurde auf diese Weise verhindert. Letztlich, so wird man hinzufügen dürfen, wurden auf diese Weise die 1945 in Potsdam geschaffenen Fakten irreversibel gemacht, da weder der Freistaat Bayern selbst noch die weitgehend assimilierten Vertriebenen und ihre Nachkommen an einer wie immer gearteten Rückkehr in die Heimat, von der in „Sonntagsreden“ auf Vertriebenentreffen noch bis in die 1980er-Jahre die Rede war, ein echtes Interesse haben konnten.

Aus dieser Paradoxie von Worten und Taten, „dem Changieren zwischen kultureller Selbstbehauptung und politischen Forderungen“ (S. 444), ergab sich vor allem für die ältere Generation der Vertriebenen, wie Franzen es zugespitzt, aber durchaus treffend ausdrückt, ein „Identitätsspagat zwischen einer sich werktags vollziehenden Integration und dem in zahlreichen Ansprachen und anderen Ritualen der Landsmannschaft sich präsentierenden Versuch der ethnischen Differenzierung zwischen Sudetendeutschen und Bayern“ (ebd.). Diese vielfach festzustellende „Doppelidentität, die sich in dem dauerhaften Schwanken zwischen Heimat und Zuhause ausdrückte“ (ebd.), dürfte auch einer der Gründe sein, weshalb die Vertriebenenverbände seit den 1970er-Jahren gesamtgesellschaftlich immer mehr an Boden verloren.

Die zweite hier zu besprechende Studie, eine an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder entstandene Habilitationsschrift, widmet sich der Geschichte des 1950 gegründeten Verbandes der Heimkehrer (VdH), der sich bis zu seiner Auflösung im Jahr 2006 als Interessengemeinschaft der ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs, Internierten und Zwangsarbeiter sowie der Angehörigen der Vermissten verstand. Die Masse seiner Mitglieder bestand aus ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht. Obgleich der VdH bis zuletzt für sich in Anspruch nahm, „die Stimme der Kriegsgeneration“ zu verkörpern, konkurrierte er dabei mit zahlreichen anderen Organisationen: Von den etwa 8,25 Millionen Kriegsveteranen in der Bundesrepublik waren in den 1950er-Jahren etwa 3,5 Millionen organisiert; von diesen gehörten etwa 2,5 Millionen den Versehrtenverbänden an, weitere 500.000 diversen Soldaten- und Traditionsverbänden. Der VdH hatte 1950 rund 500.000 Mitglieder. Der Organisationsgrad des VdH betrug also gerade einmal knapp 6 Prozent und war damit wesentlich geringer als etwa beim Bund der Vertriebenen (BdV), der Ende der 1950er-Jahre mit ca. 2,3 Millionen Mitgliedern noch 20 bis 25 Prozent seiner potenziellen Klientel erreichte. Dennoch war der VdH einer der mitgliederstärksten Veteranenverbände überhaupt, und er vermochte dieses Potenzial auch in politischen Einfluss umzumünzen.

Zu Beginn stand die Forderung nach Freilassung der noch in der Sowjetunion zurückgehaltenen deutschen Kriegsgefangenen im Mittelpunkt – ein für den VdH nicht zuletzt deshalb wichtiges Thema, weil viele Heimkehrer aus sowjetischer Gefangenschaft zu seinen Mitgliedern zählten. Daneben traten schon bald Forderungen nach materieller Versorgung, Wiedereingliederung und Entschädigung, die durch eine entsprechende Bundesgesetzgebung erreicht werden sollte. Dieses Ziel wurde mit dem Entschädigungsgesetz für deutsche Kriegsgefangene vom 30. Januar 1954 erreicht, einer der größten Erfolge in der Verbandsgeschichte des VdH. Drittens betätigte sich der Verband auf dem Felde der, wie man heute sagen würde, öffentlichen Erinnerungskultur. Er verstand sich als Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft ehemaliger Kriegsgefangener und suchte für seine Mitglieder ein sinnstiftendes Deutungsangebot zu formulieren, welches aber auch hineinwirken sollte in die übrige bundesdeutsche Gesellschaft. Dies geschah etwa durch Protest- und Gedenkveranstaltungen, eine Wanderausstellung und insgesamt rund 1.800 Mahnmale. Erfolgreich war der Verband hier vor allem deshalb, weil das Bewusstsein der Mitglieder, Opfer zu sein, in hohem Maße anschlussfähig war an die gesellschaftlichen Opferdiskurse der 1950er-Jahre.1

Das vierte Feld, auf dem der VdH aktiv wurde, war die politische Bildung; seit 1954 kooperierte er mit der Bundeszentrale für Heimatdienst, dem Vorläufer der Bundeszentrale für politische Bildung. Im Mittelpunkt stand hier die Gewinnung der Mitglieder für bzw. deren Erziehung zur Demokratie, etwa durch die eigens begründeten Mehlemer Diskussionswochen. Pointiert, aber zutreffend spricht Schwelling von einem Programm, das darauf abgezielt habe, aus Volksgenossen Staatsbürger zu machen (S. 291). Dieses Engagement des VdH war nicht zuletzt deshalb wichtig, weil es zu verhindern galt, dass – wie in der Weimarer Zeit – ein Millionenheer republikfeindlicher Veteranen die noch ungefestigte Demokratie gefährdete. Für viele Männer hatte der Krieg ja keineswegs „nur“ sechs Jahre gedauert (1939–1945), sondern im ungünstigsten Fall (einschließlich Gefangenschaft) faktisch bis zu 17 Jahre, das heißt gerade die jüngeren Veteranen hatten einen großen Teil ihres bisherigen Lebens gleichsam im Ausnahmezustand verbracht und mussten sich in eine demokratische Normalität erst hineinfinden.

Ähnlich wie bei den Vertriebenenverbänden verfolgten die Bundesregierungen auch gegenüber dem VdH eine Politik, die wohlwollende Förderung (vor allem im finanziellen und logistischen Bereich) verband mit administrativer Kontrolle und faktischer Einhegung des Verbandshandelns in einen Rahmen, der der Staatsräson der jungen Bundesrepublik entsprach. Zu Recht verweist Schwelling zusammenfassend darauf, dass Versuche, die zwischen den Gegenpolen Lernbereitschaft und Verstocktheit, Fordern und Eigeninitiative sowie Drohen und Einlenken changierende Politik des VdH mit schlichten Etiketten wie „verfehlte Aufarbeitung“, „verdrängte Vergangenheit“ oder „Restauration“ zu versehen, dem tatsächlichen ambivalenten Geschehen nicht gerecht werden (vgl. S. 293f.) – ein sehr abgewogenes Urteil, welches in ähnlicher Form auch auf die Vertriebenenverbände anwendbar ist.

In dem Maße, wie die Eingliederung der Heimkehrer Fortschritte machte, verlor der VdH an Bedeutung und auch an Mobilisierungsfähigkeit: So verfügte er Anfang der 1960er-Jahre nur noch über etwa 300.000 Mitglieder. Entsprechend nahm das Interesse der Politik an dem Verband ab. Es zeigt sich hier ein ähnlicher Befund wie bei den Vertriebenenverbänden, die seit den späten 1950er-Jahren ebenfalls spürbar an Mitgliedern und mittelfristig auch an politischem Einfluss verloren. Anders als der BdV und seine Mitgliederverbände hat der VdH allerdings nie den Versuch unternommen, dieser Tendenz durch Nachwuchsarbeit entgegenzusteuern. Er hielt bis zuletzt an seinem Selbstverständnis fest, eine Erfahrungsgemeinschaft unmittelbar Betroffener zu sein, wodurch eine Verjüngung ausgeschlossen und damit das quasi biologische Ende der Verbandsarbeit vorgezeichnet war. Noch vor einigen Jahren hieß es folgerichtig in einer Selbstdarstellung: „Der VdH ist ein Generationenverband. Er hat keinen Nachwuchs gewünscht, da sein Ziel war, mit allen Kräften Krieg zu verhindern. Das bedeutet, dass seine Mitglieder alt sind und ihre Zahl immer kleiner wird. Eines Tages wird seine Aufgabe erfüllt sein.“2 Insofern war der vorübergehende Mitgliederzuwachs in den 1990er-Jahren als Folge der Wiedervereinigung – auch hier wieder eine bemerkenswerte Parallele zu den Vertriebenenverbänden – nur eine späte Nachblüte. Zu Recht verweist Schwelling darauf, dass die noch lebenden ehemaligen Kriegsgefangenen in der ehemaligen DDR sich vom VdH zwar auch Hilfestellungen für den Empfang sozialpolitischer Leistungen erwarteten, zum anderen aber ebenso eine späte Anerkennung ihres Schicksals erhofften, das in der DDR tabuisiert worden war.

Verbunden mit dem Rückzug des VdH auf die Wahrung spezifisch generationeller Erfahrungen war eine allmähliche Erstarrung der Programmatik des Verbandes und damit der Verlust von Anschlussfähigkeit an die gesellschaftlichen Diskurse, wie Schwelling erläutert: „Der VdH […] hatte sich in seine in den frühen 1950er Jahren erstmals öffentlich artikulierten Deutungsmuster und Erinnerungen eingesponnen. Aus diesem Kokon sollte, wie die weitere Entwicklung deutlich werden ließ, kein Weg herausführen. Im Gegenteil war ein regelrechtes Einfrieren der Erinnerungen auf dem Niveau ihrer Entstehung in den frühen 1950er Jahren zu konstatieren, an denen der VdH bis zu seiner Auflösung beharrlich festhielt. Für die Inhalte der im Wandel begriffenen Erinnerungskultur zeigte der VdH kein Verständnis.“ (S. 292)

In diesem Punkt stechen bei allen vorhandenen Unterschieden erneut gewisse Parallelen zu den Vertriebenenverbänden ins Auge: Dort sind trotz partiell erfolgreicher Versuche, die zwangsläufig aussterbende „Erlebnisgeneration“ durch eine „Bekenntnisgeneration“ zu ersetzen und als Interessenverbände vom Rande der Gesellschaft in deren Mitte zurückzukehren, immer wieder Tendenzen zum Rückzug in die Wagenburg tradierter, scheinbar unangreifbarer bzw. unaufgebbarer historisch-politischer Gewissheiten zu beobachten, die vor allem in publizistisch geführten Debatten immer wieder für Befremden bzw. handfeste Konflikte sorgen. Erinnert sei hier nur an die jüngsten Auseinandersetzungen um die Aussagen der BdV-Politiker Arnold Tölg und Hartmut Saenger.3 Derartige Vorkommnisse müssen wohl als Beleg dafür gewertet werden, dass in Teilen des BdV der Wunsch besteht, an tradierten Deutungsmustern festzuhalten, die ihre Wurzeln in den erinnerungspolitischen Diskursen der 1950er-Jahre haben. Schwellings Befund für den VdH, dass politische Erinnerungen insbesondere dann, wenn sie aus einer Perspektive des Leidens heraus formuliert werden, zu symbolischem Reduktionismus, starker Vereinfachung, Narzissmus und insgesamt zu Intoleranz neigen (vgl. S. 292), ließe sich auch auf Teile des BdV anwenden. Eine grundlegende Neuorientierung würde es erfordern, sich dauerhaft von der Fixierung auf die eigene Opferrolle zu lösen und sich in einen Kulturverband im weitesten Sinne zu transformieren. Entsprechende Tendenzen gibt es etwa bei der vormaligen Deutsch-Baltischen Landsmannschaft, die inzwischen bezeichnenderweise Deutsch-Baltische Gesellschaft heißt.4

Beide Studien stellen wichtige Beiträge zur Geschichte der Bonner Republik dar, insbesondere zur Verbändegeschichte bzw. zu den Wechselwirkungen zwischen Regierungen, Parteien und Lobbyorganisationen. Sie basieren, was leider keineswegs mehr selbstverständlich ist, in erheblichem Umfang auf umfassender und kenntnisreicher Archivarbeit. Derartige Recherchen sind zumeist mühsam und langwierig; so hat Franzen zwölf Archive nach geeignetem Quellenmaterial durchforstet, während Schwelling in insgesamt sieben Archive gearbeitet hat. Dass letztere durch ihre Forschungen einen wichtigen Beitrag zur Rettung des VdH-Archivs „vor dem Altpapiercontainer“ (S. 326) leisten konnte, sei am Rande vermerkt. Die von Franzen und Schwelling erzielten Ergebnisse belegen, wie wichtig eine solche empirisch ausgerichtete Grundlagenforschung ist. Beide Wissenschaftler beziehen bei der Interpretation ihrer Quellen und der Bewertung der von ihnen untersuchten Verbände in wünschenswerter Deutlichkeit Position, vermeiden aber die allzu bequeme Attitüde des Anklägers. Künftige weitergehende Untersuchungen bzw. einschlägige Handbücher werden an diesen gelungenen Arbeiten nicht vorbeigehen können.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Robert G. Moeller, Deutsche Opfer, Opfer der Deutschen. Kriegsgefangene, Vertriebene, NS-Verfolgte: Opferausgleich als Identitätspolitik, in: Klaus Naumann (Hrsg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, S. 29-58.
2 <http://www.bagso.de/heimkehrer.html> (18.10.2010).
3 Vgl. etwa Sven Felix Kellerhoff, Zentralrat stoppt Mitarbeit in Vertriebenen-Stiftung, 6.9.2010, online unter <http://www.welt.de/politik/deutschland/article9441982/Zentralrat-stoppt-Mitarbeit-in-Vertriebenen-Stiftung.html> (18.10.2010), und „Dafür gibt es gar keinen Anlass, dass ich auf diese Aufgabe verzichte“. Arnold Tölg im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann, 3.8.2010, online unter <http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1239563/> (18.10.2010).
4 Vgl. <http://www.deutsch-balten.de> (18.10.2010).

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