S. Goltermann: Die Gesellschaft der Überlebenden

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Titel
Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg


Autor(en)
Goltermann, Svenja
Erschienen
Anzahl Seiten
592 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Birgit Schwelling, Forschungsgruppe „Geschichte + Gedächtnis“, Universität Konstanz

Seit der durch die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung ausgelösten Debatte um die Verbrechen der Wehrmacht hat die Forschung ihren Blick zunehmend auf die Nachwirkungen des Krieges bei den ehemaligen Wehrmachtssoldaten und auf die Integration dieses Personenkreises in die Nachkriegsgesellschaft gelenkt.1 Nach bisherigem Kenntnisstand hat ein verhältnismäßig gelungener, wenn auch nicht konfliktfreier und keineswegs geräuschloser Integrationsprozess stattgefunden. Zwischen zivilem und militärischem Leben besteht ein grundlegendes Spannungsverhältnis, und die gesellschaftliche Wiedereingliederung von heimkehrenden Kriegern bedarf daher besonderer Institutionen. Eine bis in die griechische Antike zurückzuverfolgende Deutungslinie geht davon aus, dass zurückkehrende Soldaten erst nach Übergangsritualen (etwa Zeremonien der Reinigung) wieder „zivil“ und damit gesellschaftsfähig werden.2

Diesem größeren Kontext lässt sich die Habilitationsschrift von Svenja Goltermann zuordnen. Sie fragt nach dem Fortwirken der Gewalterfahrungen in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft und speziell bei den Kriegsteilnehmern. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in das Jahr 1970. Goltermann geht davon aus, dass jenseits der Oberfläche der „Normalisierung“ und des verhältnismäßig gelungenen Integrationsprozesses der Veteranen eine „verdeckte Unterseite“ existierte (S. 18), die bislang nur selten von der Forschung in den Blick genommen worden sei. Der Titel der Studie ist allerdings insofern irreführend, als es nicht um „die Gesellschaft“ und auch nicht um „die Kriegsheimkehrer“ geht, sondern um diejenigen ehemaligen Wehrmachtssoldaten, die unter tatsächlich oder vermeintlich aus dem Kriegserleben resultierenden psychischen Beschädigungen litten – auch wenn die Autorin dazu neigt, die an dieser Personengruppe gewonnenen Erkenntnisse auf andere gesellschaftliche Gruppen zu übertragen.

Goltermann folgt dieser Spur in drei Zugriffen, die der Studie zugleich ihre Struktur geben. Thema des ersten Teils sind persönliche Erinnerungen ehemaliger Kriegsteilnehmer, die die Autorin anhand von psychiatrischen Krankenakten unter anderem aus den Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel erschlossen hat. Es geht hier um die Frage nach der Thematisierung von Krieg und Gewalt in den Gesprächen und Interaktionen zwischen Patienten und behandelnden Ärzten. Im zweiten Teil wird überwiegend anhand von medizinisch-psychiatrischer Fachliteratur und anhand der ärztlichen Praxis untersucht, wie die Psychiatrie diejenigen Verhaltensweisen von Veteranen zu erklären und zu therapieren versuchte, die auf psychische Erkrankungen hindeuteten. Im dritten Teil schließlich fragt die Autorin, auf welche Weise dieser Komplex aus psychischen Erkrankungen, ihren Ursachen, Deutungen und ihren Therapieformen in ausgewählten Filmen und in der Presseberichterstattung der Nachkriegszeit aufgegriffen wurde. Mit diesem Teil versucht Goltermann, eine breitere „öffentliche Erinnerungskultur zum nationalsozialistischen Vernichtungskrieg“ einzufangen (S. 35).

Die Studie zeigt, dass die psychisch erkrankten Veteranen „von einer inneren Unruhe gezeichnet“ waren, „die sowohl ihren Kriegserfahrungen wie dem erzwungenen Neuanfang geschuldet und tief in der Wiederaufbaugesellschaft verankert war“ (S. 162). In Träumen oder in Ängsten etwa kehrte der Krieg bei den Betroffenen zurück, die Goltermann als „Getriebene“ beschreibt, „verfangen in den Hinterlassenschaften des Krieges“ (S. 426). Die herrschende Lehrmeinung in der Psychiatrie der frühen Nachkriegszeit deutete diese Symptome jedoch auf eine andere Weise. Ihr zufolge waren länger andauernde psychische Auffälligkeiten bei Veteranen nicht ursächlich auf das Kriegsgeschehen zurückzuführen, sondern als „anlagebedingt“ zu betrachten, so der damals gängige Terminus. Goltermann zeigt auch auf, wie die erkrankten Veteranen gegenüber den NS-Verfolgten zusehends in den Hintergrund gerieten. Während sich verstärkt seit Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre sowohl in der ärztlichen Praxis als auch in der medialen Darstellung und der Versorgungsgesetzgebung die These herausbildete und verfestigte, dass die psychischen Leiden von NS-Opfern auf die nationalsozialistische Vernichtungspolitik zurückzuführen seien, habe es eine korrespondierende Anerkennung der Erkrankungen von ehemaligen Wehrmachtssoldaten nicht gegeben. Goltermann spricht hier von einer „doppelten Lesart von menschlichen Reaktionsweisen auf psychische Belastungen“ (S. 447), die ihren Niederschlag auch in den Filmen und der Presseberichterstattung der ersten Nachkriegsjahrzehnte gefunden habe. Es wird leider nicht deutlich, wie Goltermann diese Entwicklung bewertet. Zwischen den Zeilen jedoch meint man eine gewisse Empörung über diese Praxis der „doppelten Lesart“ herauslesen zu können.

Diese uneindeutige Positionierung ist nicht der einzige Grund, warum die Studie einen ambivalenten Eindruck hinterlässt. Positiv hervorzuheben ist zunächst die multiperspektivische Zugangsweise, die persönliche Erfahrungen und Erinnerungen, fachwissenschaftliche Deutungsmuster, ärztliche Praxis sowie mediale Thematisierungen einzufangen sucht. Innovativ ist auch der Anspruch, Erfahrungsgeschichte mit Wissenschaftsgeschichte und Erinnerungsgeschichte zu verknüpfen. Zu Recht verweist die Autorin zudem darauf, dass es sich bei den psychiatrischen Krankenakten um ein bislang kaum genutztes Quellenmaterial handelt. Aber bieten die Krankenakten, und hier beginnen die Zweifel, tatsächlich so viel Neues? Wer längere Gespräche oder biografische Interviews mit ehemaligen Wehrmachtssoldaten geführt hat, kennt die in den Krankenakten dokumentierten Schilderungen nur zu gut: die Alpträume, die viele bis heute durchleben; die lange nach Kriegsende andauernden Essstörungen bei ehemaligen Kriegsgefangenen; die Erzählungen vom Töten und der Todesangst; überhaupt die Dominanz des Krieges in biografischen Erzählungen – allesamt Indikatoren, die darauf hindeuten, dass der Krieg viele Veteranen tatsächlich bis heute nicht verlassen und nachhaltig geschädigt hat.

Ermüdend ist bei der Lektüre außerdem eine gewisse Neigung zur Verkomplizierung von Argumenten und Thesen. Dies gilt beispielsweise für Goltermanns Diskussion der Reichweite und der Aussagekraft der Krankenakten. Einerseits will die Autorin die Akten „in erster Linie“ als „Produkt der Psychiater“ verstanden wissen (S. 39). Andererseits jedoch definiert sie diese als „persönliche Erinnerungsfragmente“ (unter anderem S. 25), die näher an der Erfahrung der Betroffenen seien als andere Formen der Aufzeichnung von Erinnerungen. Gleichzeitig wiederum lehnt sie die Vorstellung ab, dass diese Fragmente Zugang zu „besonders authentischen Erinnerungen“ erlauben würden (S. 460), um andererseits mit einer zumindest implizit enthaltenen Vorstellung von doch authentischeren, weil weniger durch soziale Rahmen geprägten Erinnerungen die Eingrenzung des Untersuchungszeitraums im ersten Teil auf die Jahre 1945 bis 1949 zu begründen (S. 27). Hier wie auch an anderen Stellen hätten mehr Klarheit und Eindeutigkeit in den methodischen und theoretischen Grundlagen die Lektüre erleichtert.

Kritisch anzumerken ist darüber hinaus, dass die Veteranenverbände und insbesondere der Verband der Heimkehrer zwar verschiedentlich erwähnt werden, deren Handeln jedoch nicht in die Analyse einbezogen wird. Dieser Umstand sowie die Tatsache, dass der Fokus auf medizinisch behandelten psychisch erkrankten Kriegsheimkehrern liegt, die an diesem Personenkreis gewonnenen Erkenntnisse gleichwohl aber nicht nur auf andere Veteranen, sondern zum Teil sogar auf „die Gesellschaft“ übertragen werden, ergeben ein verzerrtes Bild der Situation in der frühen Bundesrepublik, in dessen Rahmen die Veteranen tendenziell als passive Opfer erscheinen. Richtet man den Blick auf die Veteranenverbände, ergibt sich jedoch ein gänzlich anderer Eindruck: Die organisierten Veteranen lernten die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie in Windeseile. Auch wenn nicht jede ihrer politischen Forderungen erfolgreich war, waren sie dennoch einflussreiche Akteure auf dem Bonner politischen Parkett. Die Veteranen betonten unentwegt, dass sie keine Almosenempfänger und hilfsbedürftigen Figuren seien, sondern ihren Teil zur Lösung der aus dem Krieg resultierenden Probleme beitragen wollten. Diese Facette fehlt in Goltermanns Studie nahezu vollständig. Es wäre daher insgesamt konsequenter gewesen, die Reichweite der Aussagen präziser einzugrenzen, die sich anhand des gewählten Zugriffs erzielen lassen.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Frank Biess, Homecomings. Returning POWs and the Legacies of Defeat in Postwar Germany, Princeton 2006; Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006; Jay Lockenour, Soldiers as Citizens. Former Wehrmacht Officers in the Federal Republic of Germany, 1945–1955, Lincoln 2001; Bert-Oliver Manig, Die Politik der Ehre. Die Rehabilitierung der Berufssoldaten in der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2004; Birgit Schwelling, Heimkehr – Erinnerung – Integration. Der Verband der Heimkehrer, die ehemaligen Kriegsgefangenen und die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, Paderborn 2010.
2 Vgl. u.a. Jonathan Shay, Achill in Vietnam. Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust, Hamburg 1998.

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